Bye, bye humboldtsche Ideale! Hello Zukunft!

Welches Rüstzeug brauchen Kinder und Jugendliche, um sich in einer ungewissen Zukunft zurechtzufinden, die nicht von immer mehr Wachstum und Reichtum geprägt ist? Über eine neue Idee von gelingendem Leben.

Letzte Woche hatte ich ein bizarres Erlebnis. Ich habe an einem einzigen Tag über Gott in der weiblichen Form geschrieben, eingestanden, dass ich Karl-May Filme mag, von meiner 4. Corona-Impfung erzählt und mich öffentlich beim Lebkuchenessen gezeigt. All das in Social Media. Und das Irre: Es ist nichts passiert! Kein Aufschrei, kein Shitstorm, niemand ist mir entfolgt oder hat mich über meine Fehlerhaftigkeit belehrt.

Natürlich bin ich in Panik ausgebrochen! „Siehst Du meine Posts?“, habe ich meinen Mann gefragt. Vielleicht ist ja das Internet kaputt – oder schlimmer – ich. Vielleicht bin ich der Malcolm Crowe der Social Media – nur noch sichtbar für jene mit besonderen Fähigkeiten? „Ich sehe tote Menschen“, raunte mein Mann mir zu und zog kopfschüttelnd von dannen.

Am nächsten Tag beschloss ich, meine Sichtbarkeit zu testen und stellte mit einem provokanten Tweet das humanistische Bildungsideal von Akademikereltern in Frage. Und was soll ich sagen? Offenbar braucht es doch keinen sechsten Sinn, um mich wahrzunehmen. Ich bin noch sichtbar! Und Schnappatmung verursachen, kann ich auch noch ziemlich gut.

Natürlich bekam ich im Grunde viel Zustimmung, denn es gilt auch im Bildungsbürgertum als hip, dem Schulsystem grundsätzlich kritisch gegenüberzustehen. Auch das von mir in diesem Zusammenhang gebrachte Argument, dass Mediennutzung von Jugendlichen nicht der Untergang des Abendlandes sei, bejahte man dort natürlich grundsätzlich – immerhin treibt man sich ja selbst gern digital rum.

Aber da endete die Zustimmung dann auch schon. Das Ideal vom Übertritt auf das Gymnasium als ausgegebenes Ziel ab dem Grundschuleintritt ist natürlich genauso gesetzt wie das Erlernen eines Musikinstruments und das Fördern der Liebe zur Literatur. Auf meine Frage hin, ob das noch zeitgemäße Fähigkeiten für die Welt von Morgen sind, kam ein deutliches „Ja!“, das allerdings niemand inhaltlich näher begründen konnte.

Welche Bildungswege machen Kinder stark?

Doch wie können wir uns da eigentlich so sicher sein? Keine Elterngeneration vor uns hat eine so dynamische Zeit erlebt und konnte sich so wenig vorstellen, wie die Zukunft ihrer Kinder aussehen könnte, wie wir gerade. Momentan fällt es uns ja schon schwer, mehr als ein paar Wochen in die Zukunft zu schauen. Wie sollen wir da so genau wissen, welche Bildungswege unsere Kinder stark für das machen, was noch auf sie zukommt?

Wer weiß, vielleicht ist zukünftig im Nachteil, wer in seiner Kindheit nicht genug Minecraft gespielt hat oder nie als Aloy im „Verbotenen Westen“ war?

Dass es ganz andere Fähigkeiten sind, die in Zukunft gebraucht werden, als die, die bisher gesetzt schienen, scheint mir so oder so nicht ganz abwegig. Denn die Logik, aus der sich ein Streben nach möglichst hoher formaler Bildung bisher ergeben hat, fällt gerade in sich zusammen. Bisher war ein hoher Bildungsabschluss – das Abitur, ein Studium – oft ein Garant für Wohlstand, für Aufstieg und für Wachstum.

Wir sind aber gerade in eine Zeit gerutscht, in der Wohlstand und Wachstum nicht mehr das sind, womit wir planen sollten. Seit Monaten schwören uns Politik und auch Kirchenvertreter:innen auf Wohlstandsverlust ein, auf Mangel und Verzicht.

Die neuen Werte, auf die wir setzen, sind Bescheidenheit und Nachhaltigkeit. Aus höher, schneller, weiter scheint tiefer, langsamer und näher zu werden. Auf einmal ist es wichtig, dass du weißt, wie du etwas reparierst, und nicht, ob du genügend Kohle hast, es neu zu kaufen. Die größte Sorge der nächsten Generation ist nicht mehr das spätere Einkommen, sondern ob es noch Frühling, Sommer, Herbst und Winter geben wird, wenn sie erwachsen sind. Gerade unter den sogenannten Bildungsbürger:innen werden Upcycling und Second-Hand-Börsen gefeiert. Wir sehnen uns nach Omas Wissen über Einkochen und Sauerteig und nicht nach den Aufstiegsbiografien unserer Eltern.

Und ja, das ist sehr milieuspezifisch und durchaus noch nicht in der vollen Breite der Gesellschaft angekommen, sondern vielmehr Teil eines Öko-Lifestyles, den man obendrein gern in sozialen Netzwerken zeigt. Doch viele Menschen, die sich intensiver mit Fragen von aktuellen Krisen und dem Klimawandel beschäftigen, erklären uns, dass wir genau diesen gedanklichen Wechsel in der Masse brauchen, um dauerhaft über die Runden zu kommen.

Neue Bilder eines gelingenden Lebens

Wenn wir also umdenken müssen, wäre es dann nicht an der Zeit zu fragen, welche Bilder von einem gelingenden Leben wir unseren Kindern vermitteln wollen?

Natürlich gibt es auch unter denen, die jetzt Kinder sind, solche, die für ihr weiteres Leben davon profitieren werden, dass sie Querflöte spielen erlernt haben oder nach der vierten Klasse ein altsprachliches Gymnasium besuchten. Es ist genau für diejenigen gut, zu denen dieser Weg passt, die Interesse und Talent zeigen und bei denen sich schon in jungen Jahren eine gewisse intrinsische Motivation für diese Dinge erkennen lässt (letztere gilt übrigens bis heute als wichtiges Kriterium für den Gymnasialbesuch, über das viele Eltern einfach hinweggehen).

Doch genauso kann es sein, dass Nachwuchsgamer:innen im Rahmen dieses Hobbys Fähigkeiten und Fertigkeiten erwerben, die wir heute noch gar nicht in Gänze erkennen, die zukünftig aber dringend gebraucht werden. Auch das reine Abwerten der Tatsache, dass die Aufmerksamkeitsspanne von Kindern und Jugendlichen nicht mehr über einen Short hinausreicht, wird uns nicht weiterbringen. Vielmehr können wir uns fragen, wie man die dahinterstehende Fähigkeit, Wissen in komprimierter Form aufzunehmen, nutzen kann, um neue Bildungswege möglich zu machen.

Auf jeden Fall werden wir darüber hinaus in Zukunft jene brauchen, die sich gut um andere kümmern können und die keine Berührungsängste mit Krankheit, Schmerz und Tod haben. Menschen, die geschickt mit ihren Händen arbeiten können, brauchen wir ohne Zweifel sehr dringend! Jede:r, der:die in letzter Zeit versucht hat, Handwerker:innen zu bekommen, weiß, wovon ich rede. Praktisch veranlagt zu sein, Dinge machen zu können, etwas herzustellen, zuzubereiten, zu reparieren, das scheinen mir Schlüsselqualifikationen für eine Zukunft zu sein, in der übervolle Supermarktregale und sofort verfügbare und erschwingliche Dienstleistungen nicht mehr dauerhaft gesetzt sind.

Zeit, sich zu verändern

Am meisten, davon bin ich überzeugt, profitiert eine Generation, die inmitten von multiplen Krisen groß wird, aber davon, dass sie gefestigte Persönlichkeiten hervorbringt – auf allen Ebenen. Das gelingt am besten, wenn junge Menschen die Wege gehen dürfen, die zu ihnen passen. Wenn sie sich ausprobieren können und ernstgenommen werden. Sie müssen fern gehalten werden von falschen Erwartungen, Abwertungen und der Erfahrung, von Anfang an zur Verliererseite zu gehören.

Im derzeitigen System mit früher Selektion, Elternhäusern, die noch immer Bildungsbiografien jenseits von Vorlieben und Talenten bestimmen, als pädagogische Maßnahmen getarnten Demütigungen und einem Festhalten an überholten Strukturen wird das aber schwierig. Das wissen wir eigentlich schon lange. Allein, ändern wollen wir es anscheinend nicht.

Die letzte Woche hat mir übrigens noch etwas gezeigt: Wenn kirchliche Gremien sich laut in gesellschaftliche Debatten einmischen, erregt das ungeahnt viel Aufmerksamkeit. Deswegen würde ich mir wünschen, dass sich die Synode der EKD einmal intensiv mit bildungspolitischen Fragen befasst und Diskussionen über Werte führt, die in Zukunft zu Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und einer neuen Idee von gelingendem Leben beitragen. Wer weiß, vielleicht ruft man ja am Ende alle kirchlichen Bildungseinrichtungen dazu auf, neue Wege jenseits von Leistungsdruck, früher Benotung und Selektion zu finden und den ihnen anvertrauten Kindern so passendes Rüstzeug für die Herausforderungen ihrer Zeit mitzugeben.