„Dann musst du wirklich hin!“

Als Pfarrer hat Johannes Heun in den vergangenen Wochen viele Menschen bestattet, die am Corona-Virus erkrankt waren. Seitdem lässt ihn die Frage nach dem Sterben in Corona-Zeiten nicht mehr los.

Eule: Du hast als Pfarrer in den vergangenen Wochen einige Corona-Tote beerdigt. Auf Twitter teilst Du jeden Tag die Totenzahlen, die in Essen bekannt gegeben werden. Das heißt, Du setzt dich jeden Tag den Todesnachrichten um dich herum aus. Warum?

Heun: Ich habe wie viele Menschen im Land über viele Monate die wachsenden Totenzahlen nur in den Nachrichten verfolgt. Für mich hat sich das geändert, als im Dezember in den Krankenhäusern und Pflegeheimen bei uns so viele Menschen gestorben sind. Dass ich dann die Lebensgeschichten von Verstorbenen gehört habe, die ich beerdigen durfte, hat meinen Blick auf die Zahlen verändert. Diesen Menschen hat Corona Lebenszeit geraubt und Kontaktmöglichkeiten genommen zu ihren Verwandten, die sie gerade in der letzten Lebensphase dringend benötigten. Das beschäftigt mich seitdem sehr.

Eule: Die Hinterbliebenen, mit denen Du arbeitest, hatten häufig nicht die Möglichkeit, sich von ihren Sterbenden zu verabschieden.

Heun: Bei meinen ersten Corona-Toten haben mir die Familien das so erzählt, ja. Ab dem Moment des positiven Tests konnten sie nicht mehr in die Heime oder Krankenhäuser. Es gibt aber auch Betroffene, bei denen das anders ist. Eine Ehefrau hat sich selbst sehr engagiert und wir haben dann den Sozialdienst der Klinik und die Kollegin eingeschaltet, die in dem Krankenhaus als Seelsorgerin arbeitet. Die Mitarbeiterin des Sozialdienstes hat die Schutzkleidung organisiert. Die Frau konnte sich von ihrem sterbenden Mann verabschieden.

Von solchen Einzelfällen, wo sich jemand sehr, sehr dahinterklemmt, habe ich inzwischen häufiger gehört. Aber das kennen wir auch schon aus der Zeit vor Corona: Wenn Du engagierte Angehörige hast, dann gehen Sachen, die bei anderen Patient:innen im Krankenhaus oder Pflegeheim nicht gehen.

Eule: Meine Beobachtung ist, dass solche verbesserten Möglichkeiten häufiger geworden sind, aber es doch sehr am Einsatz der Familien liegt und vor allem daran, ob sie bei ihrem Anliegen auch Unterstützung erhalten. Sollte sich die Kirche für das Abschiednehmen verwenden?

Heun: Ja, ich finde das ganz wichtig. Ich kenne mehrere Kolleginnen in den Krankenhäusern hier in der Umgebung persönlich. Die machen das häufig auf halber Stelle. Aber es ist total wichtig, dass sie da sind. In unserer Stadt gibt es viele Kliniken, große und kleine. Mehr oder weniger ist da überall noch jemand da, aber die Stellen werden zunehmend stärker reduziert.

Auf der einen Seite werden Stellen gekürzt, auch in der Krankenhausseelsorge, andererseits erleben wir in der Pandemie, was es ausmacht, dass Seelsorger:innen dauerhaft vor Ort sind. Bei der Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und der Seelsorge in den Einrichtungen gibt es auch Verbesserungspotential. Wir haben Ende 2020 wenigstens dafür gesorgt, dass alle Kolleg:innen eine aktualisierte Kontaktliste der Klinikseelsorger:innen der Umgebung bekommen.

Eule: Für die Seelsorge in den Pflegeheimen sind meistens die Pfarrer:innen der Ortsgemeinden mit zuständig. Da stehen Pfarrer:innen gerade dann vor verschlossenen Türen, wenn es besonders schlimm wird.

Heun: Der Eindruck unter uns Kolleg:innen war schon sehr deutlich: Niemand kommt in die Krankenhäuser oder Pflegeheime rein, außer denen, die sowieso dort arbeiten. Es ist uns mehrfach geglückt, über die Krankenhausseelsorger:innen Kontakt zu den Patient:innen aufzunehmen.

Das Schwierige ist ja: Du kannst mit deinen Angehörigen lange Zeit telefonieren. Man kann Bewohner:innen in Pflegeheimen besuchen, solange sie ans Fenster gehen können. Doch wenn es dann wirklich zur letzten Reise geht, dann geht das alles nicht mehr. Dann musst du wirklich hin! Ich finde es wichtig, dass wir uns als Kirchenleute dafür einsetzen.

Eule: Das Nicht-Abschiednehmen können hört ja mit dem Sterben nicht auf. Auch ein Abschied nach dem Tod ist häufig nicht möglich.

Heun: Mir erzählen Angehörige, dass sie ihre Toten sogar außerhalb der Krankenhäuser und Pflegeheimen nicht mehr sehen konnten, weil Leichensäcke und Särge nicht mehr geöffnet werden durften. Bei einer Erdbestattung sollte der Verstorbene noch sein Lieblingshemd bekommen. Aber es war nicht einmal möglich, das Hemd mit in den Sarg zu legen, geschweige denn, ihn zu waschen und umzuziehen.

Eule: Auch der Zugang zur Trauerfeier ist beschränkt.

Heun: Das haben wir jetzt monatelang so erlebt, leider. Meine Kolleg:innen und ich hatten im Frühjahr manchmal das Gefühl, dass wegen der Teilnehmer:innen-Begrenzung für Trauerfeiern nicht einmal wir Pfarrer:innen dazu geholt wurden, so wenige Bestattungen wurden bei uns nachgefragt. Mittlerweile ist es schon länger so, dass bei uns in der Stadt bis zu 25 Personen teilnehmen können.

Im Sommer haben wir die Trauerfeiern nicht in der Kapelle, sondern gleich im Freien durchgeführt. Da habe ich vermutet, dass wir das in Zukunft viel häufiger so machen werden, weil sich die Menschen daran gewöhnen. Dann kam der Dezember mit dem schlechten Wetter und die Angehörigen gaben mir verstärkt die Rückmeldung, dass sie sich sehr unwohl fühlen im Freien. Da verabschieden sich Menschen von Verstorbenen, die ein langes, erfülltes Leben hatten und die werden jetzt ganz schnell und in der Kälte beigesetzt. Das stellt man sich natürlich anders vor.

Eule: Die Trauerfeiern sind auch viel kürzer geworden, da wird natürlich auch an der Predigt gespart. Bei Menschen mit einem langen Leben gibt es viel zu erzählen, was nicht eindampfen sollte nur auf das Sterben während der Corona-Pandemie.

Heun: Ich habe Angehörige erlebt, die mich darum baten, ich solle die Corona-Erkrankung gar nicht erwähnen. Man redet seit Monaten von nichts anderem, da sollte wenigstens der Abschied vom Großvater oder Vater nicht davon dominiert werden. Das Virus war ja nicht sein Leben, sondern vielleicht die letzte Infektion, gegen die sein Körper keine Chance mehr hatte. Die Krankheit hat die letzten drei, vier Wochen seines Lebens geprägt, aber davor gab es doch noch so viel anderes Leben.

Ich sehe bei den Trauerfeiern während der Pandemie noch einen anderen großen Unterschied: Es gibt niemanden, der einen mal in den Arm nimmt, außer den allerengsten Familienangehörigen. Keiner schüttelt sich die Hand. Bei Trauerfeiern gibt es sonst auch Szenen, wo sich Menschen gegenseitig trösten. Heute ist es so, dass Angehörige zwar auch mal von weiter her angereist kommen, aber dann Abstand halten. Man kann auch nach der Trauerfeier nicht zusammenbleiben. Das spielt sonst eine wichtige Rolle.

Ich erinnere mich an eine Familie kurz vor Weihnachten, die auf dem Friedhof kleine Tütchen mit Gebäck von einer Konditorei verteilte. Das fand ich eine sehr schöne Idee. So konnte man im Anschluss zu Hause doch noch bei einer Tasse Kaffee und einem Plätzchen „zusammen sein“.

Eule: Auf dem Land erlebe ich, dass Traditionen abbrechen. Eigentlich ist es üblich, dass das ganze Dorf zur Bestattung geht, dass es einen Trauerzug von der Kirche zum Friedhof gibt. In der Stadt habe ich das Gefühl, dass die Anonymität des Sterbens noch verstärkt wird. Da weiß man manchmal sowieso schon nicht, ob jemand verstorben oder nur verzogen ist.

Heun: Die meisten Menschen, die ich beerdigt habe, waren alt. Das heißt auch, dass der Kreis der möglichen Teilnehmer:innen bei einer Trauerfeier mit den Jahren kleiner geworden ist. Aber es gab in vielen Trauergesprächen den Moment, wo gesagt wurde: „Ja, es gäbe da schon noch den und den, der lebt aber woanders und unter diesen Umständen wird der nicht kommen.“ Da geht es um Bekannte, Verwandte, Freunde, denen die Möglichkeit genommen ist, Abschied zu nehmen.

Eule: Ist die Begleitung der Angehörigen von Corona-Toten intensiver oder länger als sonst?

Heun: Bis jetzt nicht. Das kann bei meinen Verstorbenen aber auch daran liegen, dass sie im Pflegeheim lebten und nur deshalb in meinem Pfarrbezirk gezogen sind. Einen Bezug zu mir als Pfarrperson oder zur Gemeinde gab es davor überhaupt nicht. Wir werden in diesem Jahr die Angehörigen zum Ewigkeitssonntag einladen. Mal schauen, wie die Resonanz da ausfällt.

Ich denke dabei aber nicht allein an die Angehörigen, sondern auch an die Mitarbeiter:innen der Einrichtungen, die seit vielen Monaten unter großem Druck stehen. Wo können die ihre Klage loswerden, ihre Last ablegen? Ich grüble darüber nach, wie wir als Kirche in unserer Stadt diese Situation aufnehmen können. Bei mir haben sich während der Corona-Pandemie auch Eltern gemeldet, die ihr erstes Kind gerne zur Krabbelgruppe bringen wollten. Denen musste ich natürlich auch absagen. Das liegt nicht auf einer Linie, aber gehört auch zum Bild.

Eule: Ist es denn eine Kompetenz der Kirche, diese unterschiedlichen Krisen- oder Leiderfahrungen so miteinander zu ver-sprechen, dass sie nicht in Konkurrenz zueinander treten? Vielleicht bei einer zentralen Gedenkfeier?

Heun: Ich finde es schwierig, als Kirche so etwas allein zu starten, als ob wir die einzigen wären, denen zu den schwierigen Lebenssituationen etwas einfällt, in denen Menschen jetzt leben. Ich finde, wir sollten genau zuhören, was die Menschen um uns herum machen und welche Bedürfnisse sie äußern. Im großen Maßstab hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier eine zentrale Gedenkfeier angekündigt. Ich würde mich gerne auch hier in der Stadt mit anderen zusammentun und überlegen, was wir in eine solche Richtung gemeinsam unternehmen können.

(Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.)