Gottesdienst: Der Lockdown der Leute

Seit vergangener Woche finden im deutschsprachigen Raum wieder öffentliche Gottesdienste statt. Jetzt ziehen die meisten Religionsgemeinschaften nach. Wie ist es dazu eigentlich gekommen?

Die großen Kirchen hatten sich zu Beginn der Corona-Epidemie in Europa zunächst unsicher darüber gezeigt, ob und wie genau öffentliche Gottesdienste durchgeführt werden könnten. Es wurde über die Hygiene beim Abendmahl sowie Anpassungen bei der Teilnehmer*innenschaft, d.h. das Fernbleiben von Risikogruppen, diskutiert. Zum Teil muteten diese Diskussionen angesichts der Sterbewelle in Italien sehr seltsam an. Nur wenige gingen schon früh davon aus, dass öffentliche Gottesdienste ganz entfallen müssen.

In den vergangenen Wochen gab es dann nicht nur Online-Gottesdienste, auch in den Kirchen wurde weiter Gottesdienst gefeiert: In röm.-kath. Bistümern im deutschsprachigen Raum fanden und finden Messfeiern mit nur einer handvoll Teilnehmer*innen statt. Über den Zugang zu diesen Feiern und die Bevorzugung der Weiheämter in diesem Zusammenhang entspann sich ebenfalls eine Debatte. Die Menge der Kirchgänger*innen von ca. 4 Millionen Menschen in Österreich, der Schweiz und Deutschland blieb allerdings außen vor.

Das ändert sich nun. In den meisten Regionen wird mit den Gottesdienst-Lockerungen nachvollzogen, was bei anderen Grundrechtseingriffen aufgrund des Infektionsschutzes auch getan wird: Sie werden durch Präzisierungen der Einschränkungen abgemildert. So sind die meisten Bundesländer dazu übergangen, auch Demonstrationen wieder zuzulassen, wenn weitgehende Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden. Diese werden, so ist in den vergangenen Tagen an vielen Orten zu erleben, leider häufig unterlaufen.

Ein immer wieder bemühtes Argument für die Rücknahme des Verbots religiöser Versammlungen ist der Vergleich zum Einzelhandel. Tatsächlich lassen sich manche Sicherheitsmaßnahmen in Kirchen einfacher umsetzen als in Läden und Einkaufscentern, z.B. das Abstandsgebot von zwei Metern. Das Abstandhalten bleibt trotz Atemschutzmasken das wichtigste Instrument beim Seuchenschutz.

In vielen Regionen wird das Wiedererwachen des gottesdienstlichen Lebens in den Kirchengemeinden von Religionsgemeinschaften und Regierungen gemeinsam moderiert. Für die röm.-kath. und evangelischen Bistümer und Landeskirchen entstehen Maßgaben, die mit den zuständigen Bundes- und Länderministerien abgesprochen werden. Der Idealfall: Zur Wiedereinführung liegen in den Gemeinden Pläne für eine sichere Durchführung der Feiern vor.

Herausgeforderte Ökumene

Allerdings gibt es durchaus unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie schnell dieser Prozess abzulaufen hat. Es offenbaren sich dabei Trennlinien innerhalb der christlichen Ökumene, die man für überwunden geglaubt hat. Während die evangelischen Kirchen mehrheitlich zur Vorsicht mahnen, drücken einige katholische Bistümer auf die Tube.

Dort wird erkennbar Rücksicht auf die konservative Klientel genommen, die sich nur murrend den tiefgreifenden Infektionsschutzmaßnahmen gebeugt hat. So kommt es vor, dass Erzbischöfe bei Landesregierungen nachverhandeln und damit vom gemeinsamen Gesprächsgang mit den evangelischen Geschwistern abweichen.

Über Jahre hinweg hat sich eine gute Ökumene des gemeinsamen Gesprächs der Kirchen mit ihren staatlichen Partnern entwickelt. Denkschriften werden gemeinsam verfasst, Interventionen zu ethischen Themen miteinander formuliert. Dabei treten die christlichen Kirchen mit ihrer Lobbymacht auch für andere Religionsgemeinschaften ein.

Die große Ökumene der öffentlichen Verantwortung ist durch die Krise herausgefordert. So ergeben sich nicht nur von Bundesland zu Bundesland, sondern auch von Kirche zu Kirche unterschiedliche und verwirrende Regelungen. Wie soll man erklären, dass in der kath. Kirche fleißig gefeiert wird, während in der benachbarten evangelischen Gemeinde die Mehrzahl der Gottesdienste weiter ausfällt?

Tempovorgabe aus der Politik

Wunderlich ist es außerdem, dass mit Sachsen und Thüringen ausgerechnet zwei ostdeutsche Bundesländer bereits seit letzter Woche wieder öffentliche Gottesdienste zulassen. Hier gehören durchschnittlich 80 % der Menschen keiner Religion an.

Die Gottesdienstöffnungen des sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer (CDU) darf man durchaus als Zeichen an die christlich-konservative Wählerklientel verstehen, die seiner Partei seit einigen Jahren in Richtung AfD davonläuft. Von den Rechtsradikalen will man sich nicht vorwerfen lassen, gegen Gebet und Kirche zu handeln.

Kretschmer auf dem Fuß folgte Mittwoch vergangener Woche die rot-rot-grüne Landesregierung von Thüringen: Sehr zur Überraschung sowohl des Bistums Erfurt als auch der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM). Dort hatte man sich zwar für eine Anpassung der ursprünglich für den 3. Mai anvisierten neuen Regelungen eingesetzt – so sollte die Anmeldung einzelner Veranstaltungen beim Gesundheitsamt entfallen -, von der Öffnung zum vergangenen Donnerstag aber wurden die Kirchen überrascht.

Dass der evangelische Christ Bodo Ramelow (DIE LINKE), Ministerpräsident des Freistaats Thüringen, seinem sächsischen Amtskollegen von der tiefschwarzen CDU in Sachen Kirchenfreundlichkeit in nichts nachstehen will, könnte man in normalen Zeiten durchaus amüsant finden. Während der Corona-Krise muss das Wettrennen um die weitreichendsten Lockerungen erstaunen, dass sich diese und andere Ministerpräsident*innen liefern.

Die Pandemie ist (noch) nicht vorbei

Es wird also auf die Leitungen von Kirchen und Religionsgemeinschaften ankommen, wie mit den Lockerungen nun umgegangen wird, für die sie sich selbst nur zögerlich verwendet haben. Es waren Einzelpersonen, die zum Teil im Ruf stehen „schwierig“ zu sein, und erz-konservative Gruppen, die mit Klagen vor Verfassungsgerichten das Thema Gottesdienst-Öffnungen auf der Agenda hielten.

Doch sollte man sich gut erinnern: Natürlich stellte das Verbot öffentlicher Versammlungen in Kirchen, Moscheen und Synagogen eine Einschränkung der Religionsfreiheit dar, aber das religiöse Leben ist darüber nicht zum Erliegen gekommen. Derartiger Übertreibungen sollte sich aktuelles wie ehemaliges kirchenleitendes Personal enthalten.

Im Gottesdienst allein erleben viele Menschen „ihre“ Kirche eben nicht mehr. Was ist eigentlich mit der Familien-, Kinder- und Jugendarbeit der Kirchen, mit den christlichen Tagungshäusern und Ferienfreizeiten, mit der Seelsorge in Altenheimen und Krankenhäusern? Diese Arbeitsfelder sind nicht nur in der allgemeinen Öffentlichkeit unterbelichtet, sondern fristen auch in kirchlichen Stellungnahmen ein Dasein im Schatten der Gottesdienstfrage.

Gemeinschaft entsteht nicht einfach durch physische Anwesenheit. Foto: Andy Falconer (Unsplash)

Die Sehnsucht nach Begegnungen in Kreisen und Gruppen, beim Kirchenkaffee und im Gottesdienst wird anhalten. Linderung versprechen die „anderen“ Gottesdienste, die nun und auf lange Dauer möglich werden, eher nicht – auch wenn unter den Masken durchaus gesungen werden kann. Gemeinschaft entsteht nicht einfach durch physische Anwesenheit, sie ist eine Frage der Gestimmtheit der Feiernden.

Zu Beginn der Corona-Krise sorgten sich nicht wenige Kirchenprofis, eine lange Unterbrechung könnte bei den Leuten die Frage aufwerfen, wozu man denn überhaupt noch Kirchensteuer zahle. Aus solchen und anderen selbstbezüglichen Gründen aber sollte das Tempo nicht angezogen werden.

Was Ministerpräsident*innen in großer Huld ermöglichen und Kirchenleitungen mit ellenlangen Ausführungsbestimmungen begleiten, muss schlussendlich in den Gemeinden vor Ort ausgelegt werden. Dort wird man auch auf die leise Mehrheit derjenigen treffen, die es mit der Rückkehr zur alten Feierfreude nicht eilig haben.

Die Pandemie ist (noch) nicht vorbei und durch leichtsinniges Vorgehen setzen wir die erzielten Erfolge bei der Corona-Bekämpfung auf’s Spiel, für die Familien, Senior*innen und Mitarbeiter*innen im Gesundheitssystem viel eingesetzt haben. Ein*e jede*r steht selbstverantwortlich vor Gott und seinen/ihren Glaubensgeschwistern und Nächsten. Auf die Gottesdienst-Verbote kann nun der Lockdown der Leute folgen, die mit Blick auf die Schwachen und Bedürftigen vernünftige Entscheidungen treffen.