GUILTY PLEASURE

GUILTY PLEASURE

Am Buß- und Bettag sollen Christ:innen eigentlich von ihren Sünden umkehren. Aber es gibt auch Freuden, von denen wir wider besseres Wissen nicht lassen können: guilty pleasures.

Meine Plätzchen

Eva Kramer-Well (@eva_well) lebt und wirkt im meist sonnigen Baden-Württemberg. Neben ihrer beruflichen Arbeit musiziert sie sooft sie kann und engagiert sich in der Kirchengemeinde. Eva ist Mitgründerin und Redakteurin der Eule.


Guilty Pleasure ist mehr als ein Laster. Guilty Pleasure ist ein Vergnügen, eine Wohltat, durch die oder während ihres Konsums ich mich schlecht und schuldig fühle. Guilty Pleasure ist mehr als ein Laster – und trotzdem schreibe ich heute über meinen Zuckerkonsum.

Ich leide unter starker Adipositas, obwohl ich alles weiß: Je mehr Muskeln ich habe, desto mehr Kalorien kann ich verbrennen, auch im Ruhezustand – mehr Sport tät meiner Gesundheit mehr als gut … Wenn ich weniger Kalorien zu mir nehme als mein täglicher Bedarf ist, führt das auf Dauer zu einer Abnahme … Mehr Ballaststoffe durch Vollkornprodukte und Gemüse zu mir zu nehmen, verstärkt mein Sättigungsgefühl … Pausen von mindenstens vier Stunden zwischen zwei Mahlzeiten ermöglichen es meinem Zuckerspiegel abzusinken und verringeren das Diabetesrisiko … Ich kenne alle WeightWatchers-Programme der letzten 20 Jahre, ich habe zwei Fahrräder im Keller stehen, auf meinem Handy sind zwei Apps zu Intervallfasten und unzählige Apps zu Bewegungsprogrammen, ich folge Mady Morrison und Pamela Reif und ab und an mach ich auch ein Training mit ihnen …

Aber ich will ganz besonders heute über Zucker schreiben. Heute ist Buß- und Bettag und heute steh ich in meiner Küche und beginne mit der Weihnachtsbäckerei. Jetzt beginnt bei mir das Kopfgeflüster, das den Zucker für mich zum guilty pleasure macht, oder wenn man so will, sogar zum Suchtinstrument. In meinem Kopf werden Stimmen laut: Stimmen, die ich denke zu hören von Menschen, die gerade diesen Text lesen und solche Sachen denken wie: Die ist doch schon adipös und gesundheitlich gefährdet, warum backt die jetzt noch Plätzchen!? Stimmen, die ich denke in Blicken zu sehen, wenn ich beim Bäcker stehe und ein Brot kaufe. Stimmen, die ich denke in Blicken von Passanten zu sehen, wenn ich durch den Park walke. Stimmen, die ich täglich neu bekämpfen muss.

Ich genieße Zucker: Das Eis, das ich nach einem langen Tag gemeinsam mit meinem Mann nach einem guten Essen schlotze. Das Stück Schokolade, das langsam auf meiner Zunge zergeht, meinen Mund mit Geschmack ausfüllt, und von dem ich mir einrede, es verdient zu haben. Ja, manchmal gibt es auch Tage, da nehme ich Zucker wieder unkontrolliert zu mir, wenn ich traurig bin, wenn ich gestresst bin. Dann ist es kein pleasure, kein Vergnügen mehr, dann ist da nur noch guilt, Schuldgefühle.

Die Adventszeit steht vor der Tür. Eine Zeit, in der ich schon seit vielen Jahren auf künstlichen Zucker verzichte. Eine Fastenzeit. Ich sehe Lebkuchen, Dominosteine, Marzipankartoffeln, gebrannte Mandeln, Stollen … und gehe an ihnen vorbei. Ich freue mich auf die Plätzchen, die ich heute backe, weil in den Geschäften Weihnachten irgendwie am Tag nach Heiligabend vorbei ist und ich, wenn die Fastenzeit vorüber ist, keine Dominosteine oder Lebkuchen mehr im Handel erhalte.


Adam und Eva von Lucas Cranach d. Ä. (Wikimedia Commons, gemeinfrei)


Der Zoobesuch: Ein zweifelhaftes Vergnügen

Mirjam Petermann (@fraeuleinMoehri) lebt in der Mitte Deutschlands, in Eisenach, und arbeitet als Redakteurin bei der Kirchenzeitung Glaube+Heimat.


Ein graues Stück flauschiges Fell zwischen dichten Eukalyptuspflanzen. Augen, Ohren oder Gliedmaßen sind nicht auszumachen. Keine Bewegungen oder Laute. Und doch: Von denen, die daran vorbeigehen und kurz stehenbleiben, ist „Aaaaah“ und „Oooooh“ und „Wie süß!“ zu hören.

Klar sind Koalas süß. Und live natürlich besonders. Auch in diesen Sommerferien waren wir wieder im Zoo. „Es ist ja so schön für die Kinder!“ Zoos sind ein beliebtes Ausflugsziel für den Sonntag, ein Highlight in den Ferien. Hinterher weiß man – oder könnte zumindest wissen – wie alt Lamas werden und wie schwer Zebras sind, wie schnell Geparden rennen und wie eine Schildkröte Junge bekommt. Aber irgendwie beschleicht mich beim Spaziergang an Käfigen und Gehegen entlang immer wieder auch ein komisches Gefühl. Und spätestens beim obligatorischen Spielplatzbesuch mit entsetzlichen Lautstärken stellt sich mir die Frage nach Sinn und Unsinn dieser Unternehmung.

Der Mensch ist fasziniert von Tieren – egal ob Koala oder Känguru, Elefant, Emu oder Eule und auch wenn sie in Gehegen oder Käfigen, hinter Glasscheiben oder Zäunen leben. Zoologische Gärten und Tierparks dienen seit dem 19. Jahrhundert dazu, Tierwelten in einer Breite und Vielfalt zu präsentieren, die sonst kaum einer im Laufe seines Lebens bestaunen könnte. Farbenfrohe Doktorfische, wunderschöne Aras, anmutige Giraffen, Capybaras, Tapire, Spitzmaulnashörner und Erdmännchen. Vor jedem Exemplar könnte man ein Dankgebet an den Schöpfer dieser Vielfalt sprechen.

Aber beim genauen Hinschauen fällt auf, dass manche Fische in Aquarien stundenlang im Kreis schwimmen. Löwen liegen abseits der Fütterungen apathisch in der Sonne und dösen. Schimpansen hocken regungslos vor Glasscheiben. Und wir glauben, wir oder unsere Kinder könnten dabei etwas über das Leben und Verhalten von Säugetieren, Fischen, Vögeln, Reptilien und Amphibien lernen?

Zoos haben genauso wenig mit der Realität zu tun wie Fernsehgottesdienste. Sie sind konstruiertes Terrain, deren einziger Zweck die Unterhaltung von Zweibeinern ist. Zwar wird Artenschutz oft als ein Argument für Zoos angeführt, doch beißt sich die Raubkatze dabei natürlich in den Schwanz: Sie sind ja nur Ersatzräume für die natürlichen Lebensräume, die der Mensch den Tieren genommen hat.

Ein wirklich zweifelhaftes Vergnügen wird der Zoobesuch für mich immer bei den Vögeln. Wellensittiche, Schneeeulen, verschiedenste Entenarten oder sogar Greifvögel. Manchmal sind die Käfige nicht höher als zwei oder drei Meter. Durch die Drahtmaschen ist der Himmel zu sehen. Ich habe keine Ahnung, ob Vögel Gefühle haben, aber doch auf jeden Fall den Drang dort hinauf zu steigen. Die paar Quadratmeter, die ihnen zum Fliegen bleiben, können ihnen doch unmöglich reichen. Aras etwa fliegen in Freiheit rund 30 Kilometer pro Tag. Natürlich sind das sehr vermenschlichende Gedankengänge. Aber damit die Tiere nicht wegfliegen, werden sie durch verschiedene Methoden flugunfähig gemacht. Und das kann niemals im Sinne von Tierliebhabern sein.

Eine Methode, das Beschneiden von Vogelflügeln, ist inzwischen seit einigen Jahren in Deutschland verboten. Auch als Gesamterscheinung haben sich Zoos heute natürlich verändert. Es werden nicht mehr nur Lebewesen vorgeführt, oft können die Tiere inzwischen in einer möglichst dem eigenen Lebensraum nachempfundenen Landschaft unterkommen. Wir wissen auch mehr über artgerechte Haltung: Geflieste Käfige für Affen, mit Stämmen und Ästen und vermeintlichem Spielzeug, die – wenn man alles ausräumt – einem Schlachthaus gleichen, sind zum Glück nur noch eine Seltenheit.

Und trotzdem, auch mit Wasserfall und Steppenlandschaft: Der Mensch maßt sich an, Mitgeschöpfe zum eigenen Vergnügen der Freiheit zu berauben – ein Vorgehen, das langsam aber sicher abgeschafft werden sollte, auch wenn es doch „so schön“ ist, all die Tiere einmal live sehen zu können.


Das Vergnügen am Zeigefinger

Daniela Albert (@dalbert79) ist Familienberaterin und Autorin. In ihrer Eule-Familienkolumne „Gotteskind und Satansbraten“ schreibt sie sonst über Kinder, Erziehung und Elterntrouble.


Klar könnte ich hier über guilty pleasure schreiben, über schuldhaftes Vergnügen. Über Dinge, die ich tue oder konsumiere, wider besseres Wissen. Mir würde so einiges einfallen: Meine Vorliebe für alte Filme und Serien, die – nun ja – doch etwas aus der Zeit gefallen sind. Oder die Süßigkeiten von dieser einen Marke, die eigentlich wirklich gar nicht geht und für die ich leider noch immer keinen adäquaten Ersatz gefunden habe. Wir könnten über den einen oder anderen freien Nachmittag reden, den ich mir dadurch erschleiche, dass ich „vergesse“ meine Kinder daran zu erinnern, dass ihre Medienzeit bereits aufgebraucht ist. Wir könnten die viel zu heiße Dusche diskutieren, die ich mir von Zeit zu Zeit gönne und die nicht nur meiner Haut, sondern auch dem Klima und den Gasvorräten einen Bärendienst erweist. Vielleicht würden meine Ausführungen sogar der oder dem einen oder anderen helfen, sich nicht ganz so allein zu fühlen mit der vermeintlichen Schuld.

Allerdings merke ich, dass ich mich damit schwertue. Denn ich habe das Gefühl, wo immer Menschen bereitstehen und die eine oder andere Alltagsschuld eingestehen, um anderen zu zeigen, dass sie auch nicht perfekt sind, steht eine andere Fraktion bereit. Ich weiß gar nicht, ob sie einen Namen hat. Ein Hobby hat sie auf jeden Fall. Ich nenne es Guilty-Pleasure-Shaming. Denn für sie sind solche Eingeständnisse des eigenen Un-Perfektionismus ein gefundenes Fressen. Jemand, der*die sonst sehr klimabewusst daherkommt, hat Fleisch auf dem Teller? Wie kann man darauf auch noch stolz sein?! Du Umweltsau und Tiermörder:in!! Die eigentlich im allerpositivsten Wortsinn woke Aktivistin postet ein Foto, wie sie mit ihren Kindern in den umstrittenen Winnetou-Film geht: Rassistin! Sofort bloggen und alle zum Entfolgen auffordern, aber vorher bitte noch ordentlich beleidigen! Eine:r postet auf Twitter ein Bild mit einem Bier von der falschen Marke in der Hand? Sofort darauf hinweisen, dass das aber auch zu diesem bösen Konzern gehört, den man doch eigentlich meiden will. Reagiert der:die angesprochene dann nicht sofort demütigst und einsichtig, hagelt es mehr Giftpfeile als in allen Karl-May-Filmen zusammen.

Foto: Caleb Woods (Unsplash)

Nun ist es nicht so, dass die Guilty-Pleasure-Shaming-Fraktion nicht auch sündhaft vergnügliche Leichen im Keller hätte. Denn die haben wir alle. Sie haben halt nur gerade nicht das Laster, das sie bei dem:der anderen gerade identifiziert haben. Sie trinken vielleicht nicht das Bier aus Großkonzernherstellung und wählen Kinofilme für ihre Kinder politisch sorgsamer aus, aber wenn man wollte, fände man natürlich etwas: Den Pulli von der Fast-Fashion-Kette vielleicht? Das Auto, das etwas zu oft bewegt wird – oder die Flugmeilen? Heimlich alle WM-Spiele schauen, weil man Fußball eben doch zu sehr mag? Aber was keine:r weiß, macht keine:n heiß!

Doch letztlich haben sie mindestens ein schuldiges Vergnügen, das eigentlich relativ offensichtlich ist: Das Guilty-Pleasure-Shaming selbst. Denn man:frau möge mir nicht weis machen wollen, dass man den Zeigefinger in Social Media so weit ausstreckt, weil man wirklich glaubt, dadurch Einsicht und Verhaltensänderung zu erwirken. Durch das Beschämen anderer Menschen erzeugt man meist das Gegenteil. Scham ist ein Gefühl, das wir Menschen sehr schlecht aushalten können, das in uns sogar Aggressionen und Gegenwehr auslösen kann. Ein gepflegtes „Ihr könnt mich mal, jetzt mach ich erst recht, was ich will“, ist demnach eine ziemlich natürliche Reaktion auf solche Art der Kritik.

Doch was dann? Was tue ich, wenn ich finde, dass das schuldige Vergnügen, das sich andere leisten, eigentlich wirklich nicht geht? Na das, was wir immer tun können, um Menschen zum Umdenken zu bewegen: Etwas anderes vorleben. Deine Öko-Biersorte aus der kleinen Landbrauerei zeigen und den schönen neuen Kinderfilm bewerben. Der Welt erzählen, wenn du endlich eine vegane, fair gehandelte Alternative für Kokoskügelchen mit Cremefüllung gefunden hast. Und ganz wichtig: Deine guilty pleasures zeigen.

Denn Menschen haben mehr Lust, irgendwo anzufangen und sich zu verändern, wenn sie sehen, dass andere das auch nicht perfekt, sondern nur im Rahmen ihrer Möglichkeiten tun. Perfektionismus ist ermüdend, manchmal sogar lähmend. Lasst uns einander zugestehen, dass wir nicht in allen Bereichen des Lebens korrekt handeln können, nicht jede sündhafte Leidenschaft sofort an den Nagel hängen und anerkennen, dass wir zumindest alle angefangen haben, unser Handeln zu hinterfragen.

Ich mag übrigens die alten Karl-May Filme. So, jetzt wisst ihr es!