Foto: Isi Parente (Unsplash)

Jesus queer gelesen

Eine Frau wird gekreuzigt? Oder trägt der gekreuzigte Jesus Frauenkleider. Pfarrerin Margot Runge erkennt in einer Kreuzesdarstellung die größte denkbare Provokation – die wir dringend nötig haben.

Für Matthew Shephard (1976 – 1998) und all die anderen

Die Darstellung einer gekreuzigten Frau stammt aus der Kirche von Santiago Atitlán in Guatemala. Sie ist Teil der Dia-Serie zum Weltgebetstag aus Guatemala 1993 und wurde von Anneliese Knippenkötter aufgenommen. Im Begleitheft heißt es dazu:

Hier „[…] hängt eine gekreuzigte Frau. Diese Figur ist ein Beispiel dafür, wie die christliche Botschaft in Guatemala verstanden werden kann. Wir kennen die Geschichte dieses Kruzifixes nicht. Aber es ist gut vorstellbar, daß es als Symbol für die errichtet wurde, die am meisten Leid tragen.

An die 50.000 Witwen gibt es in Guatemala, etwa 250.000 Kinder haben Vater oder Mutter oder gar beide verloren. Die Frauen haben sich 1988 zur nationalen Witwenvereinigung CONAVIGUA zusammengeschlossen. Sie gehen mit Bildern der verschleppten Angehörigen auf die Straße und fordern Aufklärung.“

Jesus wird als gekreuzigte Frau in Maya-Kleidung dargestellt. Jesus als Frau – das ist singulär. Die untergeordnete Rolle von Frauen ging damit einher, dass Gott das Männliche repräsentiert und erhöht. Weil Jesus von zwölf Aposteln begleitet wurde, bleibt Frauen das Priesteramt in vielen Kirchen bis heute versperrt.

Die feministische Theologie hat zwar inzwischen die weiblichen Traditionen ausgegraben: Es gab Jüngerinnen und Apostelinnen. Die Bibel schildert die weibliche Seite Gottes als Hebamme, Mutter oder Weisheit. Und „der“ heilige Geist ist ruach, heilige Geistkraft.

Doch dass Jesus nicht nur mit „weiblichen“, sogenannten weichen Seiten geschildert, sondern auch bildlich dargestellt wird, das habe ich bisher in keiner Kirche gesehen. Und ich finde mich darin wieder. Es spricht mich mehr an als die männliche Trinität, mit der ich aufgewachsen bin.

Der Atitlán-See und die Dörfer ringsumher wie Santiago Atitlán zählen heute zu wichtigen Ausflugszielen in Guatemala. Maya-Traditionen wurden in Santiago Atitlán über die Jahrhunderte bewahrt. Sie prägen die Gesichtszüge und die Gewänder der Heiligenfiguren in der Kirche. Viele der Heiligenfiguren werden bei Prozessionen verwendet. Zur lateinamerikanischen Tradition gehört auch, dass den Heiligen immer wieder neue Kleider gespendet werden.

Ich habe nur dieses eine Dia, das 1992 oder eher aufgenommen wurde. Weil die Qualität mittlerweile zu wünschen übriglässt, habe ich im Internet nach anderen Darstellungen dieser Maya-Figur gesucht – leider vergeblich. Wahrscheinlich hat sie andere Gewänder bekommen (derzeit blau). Ein befreundeter Besucher vermutet, dass es sich auch um eine männliche Figur mit eher weiblichen Zügen gehandelt haben könnte.

Fotos: links: Anneliese Knippenkötter (Weltgebetstag der Frauen 1993), rechts: Sebastián Eduardo (Dávila)

Was nun: Gekreuzigte Frau oder Jesus „nur“ in Frauenkleidern?

Doch warum eigentlich nicht? Mir jedenfalls fällt kein einziges Bild ein, in dem Jesus die Hosen anhat, im wörtlichen Sinn. Jesus hat schon immer ein bißchen ausgesehen wie Conchita Wurst. Sicher ist das auch der kunstgeschichtlichen Tradition im 19. Jahrhundert zu danken. Aber wieso sollte sich Jesus nicht tatsächlich auch bewegt und gegeben haben wie Frauen? Im übertragenen Sinn hat er das unzweifelhaft.

Er spricht von Geburt als einem Symbol des Wandels und von der Angst und den Schmerzen bei den Wehen. Er spricht von Schwangeren und von stillenden Müttern. Er erzählt von Frauen, die Brot backen oder das Haus ausfegen. Er wäscht den Jünger*innen die Füße – eine Tätigkeit für Sklav*innen und Frauen. In den Bildern, die er verwendet, ist er Teil der Welt von Frauen. Warum sollte er sich nicht auch in dieser Welt bewegt haben?

Jesus in Frauenkleidern – das wäre den meisten Gemeindemitgliedern, gelinde gesagt, sehr fremd. Viele wären aufs äußerste empört und wütend. Jesus hat immer wieder Grenzen überwunden. In Gottes Sinn wäre das gewesen, sind sich Konservative wie Liberale einig. Doch dass er sich auch über die Grenzen des Geschlechts hinweggesetzt haben könnte, würde Proteststürme hervorrufen.

Ein solcher Jesus ist schwer auszuhalten. Er irritiert, genauso wie Transpersonen manche so sehr irritieren, dass sie sie anspucken, mit Steinen bewerfen und totschlagen. Zwischen November 2017 und Oktober 2018 gab es weltweit 369 Morde, so eine Statistik von Transgender Europa (transrespect.org).

Nötige Provokation

Schon ein Mann, der sich schminkt und Kleider anzieht, verunsichert. Doch diese Verunsicherung darf nicht auch noch von Gott ausgehen, also religiös verankert sein. Deshalb muss sie noch radikaler abgewehrt werden, als wenn sie vom Anblick einer realen Person ausgeht. Sie muss komplett negiert werden. Unser Jesus darf nicht „so“ sein!

Das Bild von Jesus würde uns selbst in Frage stellen. Viele beteuern (durchaus ehrlich gemeint), dass sie sich „von Jesus leiten lassen“ wollen. Doch meistens soll das jeweilige Bild von Jesus die eigene Weltsicht bestätigen und gerade nicht durcheinanderbringen.

Eine unfassbare Ablehnung ist Jesus entgegengeschlagen. Die, die ihn töteten, konnten nicht aushalten, wie er auftrat und was er sagte. Sein pures Dasein war ihnen eine Anfechtung, die komplett ausgelöscht und beseitigt werden musste. Die Bibel berichtet von einem grausamen, verstörenden Tod. Sollte Jesus nicht auch dem gleichen Hass zum Opfer gefallen sein, der homosexuellen Männern, Trans- und Interpersonen entgegenschlägt, weil sie vermeintlich männliche Normen verletzen?

Gekreuzigte Frau? Jesus in Frauenkleidern? Ein queerer Jesus ist – neben der Vorstellung, dass Jesus behindert gewesen sein könnte – die größte denkbare Provokation. Genau so haben wir ihn nötig.