Was Kirchen- und Katholikentage aus Stuttgart 2022 lernen können

Was können wir aus dem 102. Katholikentag in Stuttgart für die Zukunft von Kirchen- und Katholikentagen lernen? Ökumene, Digitalisierung, Kontrollverlust – oder doch das Pausieren?

„Kontrollverlust als Gewinn“

Von Hanno Terbuyken


Ich war auf dem Katholikentag! Wie viele hundert andere Menschen, war ich dort nicht allein in privater Mission unterwegs, sondern wegen beruflicher Aufgaben. Als evangelischer Christ mit langjähriger Erfahrung in der christlichen Medienszene mache ich mir so meine Gedanken: Denn der 102. Katholikentag trägt sowohl Katholik:innen als auch Protestant:innen Aufgaben auf. Lasst uns über das Format Kirchentag/Katholikentag reden!

Wenn man möchte, dass ein Kirchentreffen ein paar Tage lang die Öffentlichkeit in einer Stadt bestimmt und fast täglich in den Nachrichten vorkommt, braucht es eine kritische Masse an Teilnehmer:innen. Die hatte der Katholikentag in Stuttgart nicht.

In die Nachrichten hat er es trotzdem geschafft, vor allem deshalb, weil die Polit- und Klimaprominenz von Olaf Scholz bis Luisa Neubauer immer noch zum Katholiken- bzw. Kirchentag kommt. Auch, weil die Kirchenkrise der Katholiken derzeit ein Nachrichtenthema ist: Zwischen Missbrauchs- und Finanz-Skandalen, #OutInChurch und den Diskussionen um die Priesterinnenweihe kommt die deutsche katholische Kirche nicht aus den Schlagzeilen.

Trotzdem hatte sich das Katholikentags-Publikum in der vollen Stuttgarter Innenstadt am Samstag so sehr verdünnt, dass es kaum mehr erkennbar war. Der Vergleich zum vorangegangenen Katholikentag in Münster (2018) ist zwar unfair – damals war die Katholikenkrise noch nicht so akut und an eine Pandemie dachte niemand -, auffällig war trotzdem, dass auch die evangelischen Verantwortungsträger:innen, die in Stuttgart waren, mit Sorgenfalten auf der Stirn die Veranstaltung beobachteten. Denn 2023 steht in Nürnberg der erste Evangelische Kirchentag nach Corona an, und niemand weiß, ob dieser DEKT den Reiz vergangener Tage ausstrahlen und genug Leute anziehen wird.

Schon 2017 zum Reformationsjubiläums-DEKT in Wittenberg gab es Zweifel an den offiziellen Besucherzahlen und die gut gemeinten „Kirchentage auf dem Weg“ waren schlecht besucht. 2019 in Dortmund blieb das Signal-Iduna-Stadion zum Abschlussgottesdienst erschreckend leer, die Zahl der Dauergäste lag 20 % unter den Erwartungen (80.000 statt 100 000, Westdeutsche Zeitung). Der digitale Ökumenische Kirchentag (ÖKT) 2021 schließlich war in der Gastgeberstadt Frankfurt am Main fast gar nicht zu spüren – kein Wunder beim digitalen Format, aber trotzdem bedenklich.

Dazu kommt: Für mich fühlte sich der Katholikentag 2022 nicht an wie ein kreatives Laientreffen, sondern wie ein auf vier Tage ausgewalztes Konferenzformat – eher Kirchentagung als Kirchentag. Der Evangelische Kirchentag hat immerhin das dynamische Element der sogenannten „Kirchentagsresolution“, aber wer hört denen noch zu?*

Was also tun?

Wenn das Ziel des Kirchen- bzw. Katholikentages ist, eine Stadt für vier Tage zum Zentrum der deutschen Christenheit zu machen, an dem auch vor Ort niemand vorbeikommt, dann habe ich zwei konkrete Vorschläge.

Erstens: Die Zukunft des Kirchentages ist nur ökumenisch zu denken. Konfessionelle Besonderheiten stehen der Organisation an sich nicht im Weg, das haben die ÖKTs schon bewiesen – trotz der unterschiedlichen Führungs- und Entscheidungskultur, die sich dann zusammenraufen muss. Wer mit wem Abendmahl feiert, hängt sowieso an der einzelnen Veranstaltung. Ökumenische Vielfalt würde auch die Resolutionen eines solchen Christentreffens wieder spannender machen.

Zweitens: Die digitale Komponente sollte konsequent als Teil der Präsenz im öffentlichen Raum mitgedacht werden. Es ergibt wenig Sinn, wenn der Katholikentag ein paar Veranstaltungen per Livestream auf der eigenen Webseite präsentiert, auch das ÖKT-TV aus Frankfurt hat leider keine:r außerhalb der Bubble mitbekommen. In der gastgebenden Stadt sollte man am ÖKT nicht vorbei können, und gleiches sollte auch für ein paar Tage auf Twitch und TikTok gelten.

Vielleicht muss man dafür ein anderes Partner-Management betreiben, um diesen Platz auf Twitch zu bekommen, und sich dafür Formate überlegen, die auf das dortige Publikum passen. Aber das geht – und dafür es innerhalb der Kirchen bereits genug eigene Expert:innen, die gerne dabei mitdenken. Für den ÖKT sollte es außerdem kein Problem sein, zwölf aktuelle Smartphones plus schicke Hotelzimmer zu sponsoren, die dann zwölf TikTok-, Instagram- und YouTube-Influencer:innen in die Hand gedrückt werden mit dem Auftrag: Mach Kirchentags-Content, auf den du Bock hast!

Der damit einhergehende Kontrollverlust ist auf jeden Fall ein Gewinn an Sichtbarkeit. Und darum geht es: Mit dem Kirchentag werden die Kirchen in Deutschland für ein paar Tage so sichtbar wie sonst nie. Das ist immer noch eine Chance. Die sollten sie zukünftig immer gemeinsam nutzen.

Hanno Terbuyken (@dailybug) ist Country Manager bei ChurchDesk in Berlin. Bis Februar 2020 war er Leiter Digitale Kommunikation im Gemeinschaftswerk der Evangelischen Publizistik (GEP) und Portalleiter von evangelisch.de. Dort führte er u.a. den Digitalisierungs-Blog „Confessio Digitalis“. Terbuyken studierte Diplomjournalistik und Neuere Geschichte in Leipzig, baute ab 2009 evangelisch.de von Beginn an mit auf und wurde dort 2012 Portalleiter.

„Die Maschine läuft und läuft und läuft“

Von Philipp Greifenstein


Ich war nicht auf dem Katholikentag. An den sommerlichen Wochenenden stapeln sich derzeit all die schönen Anlässe, die in den vergangenen Jahren pausieren mussten oder verschoben wurden. Und damit meine ich nicht Kirchen-Veranstaltungen, sondern vor allem private Feiern, Urlaube, Ausflüge. Ja, von Berufs wegen hätte es mich wohl nach Stuttgart verschlagen müssen, aber wozu?

Ehrlich gesagt, komme ich mit den ganzen Einladungen und Hinweisen auf spannende Vorträge, Podien und Tagungen so schon kaum hinterher. Die Aussicht auf noch mehr davon, in konzentrierter Form, in womöglich überfüllten Räumen, während einer gerade abschwellenden Pandemie, hat mich nicht begeistert. Dafür bot das Programm – zumindest der Teil, den ich überschauen konnte – sowieso zu viel vom immer Gleichen. Von den schrecklichen Veranstaltungstiteln ganz abgesehen.

Hier läge für mich eine Chance für kommende Katholiken- und Kirchentage: „Ja“-Sagen zur analogen Begegnung. Das heißt für mich, wie bei beruflichen Besprechungen, Fachveranstaltungen & Co. auch: Was digital gemacht werden kann, muss nicht dringend analog passieren. Dann bleibt bei analogen Treffen „in Realpräsenz“ nämlich Zeit und Raum für die Sachen, die man per Video-Konferenz gar nicht oder ganz schlecht machen kann: Gemeinsam Singen und Musik machen, Gottesdienst mit Körper und Geist feiern, Sakramente, tolle Gespräche am Abend – von mir aus auch tanzen.

Ich kann mich noch an das erste Kirchentags-Programm erinnern, das ich gründlich studiert habe. Es war das des Kirchentages 2007 in Köln. Auch dahin bin ich am Ende nicht gefahren, aber das Motto „lebendig und kräftig und schärfer“, das Liedheft und die inhaltlichen Impulse haben damals ein paar Wochen lang meine Arbeit als FSJler in der Jugendarbeit geprägt. Meine nächste Kirchentags-Erinnerung ist 2011 Dresden bzw. der Angang dahin – was mich zum eigentlichen Problem der Kirchen- und Katholikentage bringt.

Dresden ist meine Heimatstadt und man freute sich dort enorm auf den Kirchentag. Eine Begeisterung, die allerdings bei vielen Ehrenamtlichen mit der Zeit nachließ, desto deutlicher wurde, was für ein riesiger Apparat der Kirchentag eigentlich inzwischen ist, welche Ansprüche sich an eine Gastgeberstadt und die dortigen Kirchgemeinden stellen, was überhaupt Sinn und Zweck des Unterfangens ist. Einfach spontan als Christengemeinde irgendwohin einfallen und feiern, das geht offenbar nicht mehr. Aber muss ein Christentreffen einen solchen Überbau haben?

Kirchen- und Katholikentage erscheinen mir inzwischen wie ein unglückliches Ehepaar, das ein Kind bekommt, um die Ehe zu retten. Und dann noch eins. Und noch eins. Und wenn es ganz dringend wird, auch mal ein ganz besonderes: Einen Ökumenischen Kirchentag.

Ich habe große Sympathien für den Vorschlag von Hanno Terbuyken (s.o.) und der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK), in Zukunft (nur noch) Ökumenische Kirchentage zu feiern. Aber bitte nicht so, wie es sich bei Katholiken- und Kirchentagen eingeschliffen hat. Bereits am Montag begannen die Vorbereitungen für den nächsten Katholikentag in zwei Jahren in Erfurt. Auch noch so viel Planung wird nichts daran ändern, dass Erfurt katholische (und christliche) Diaspora ist und unsere Gesellschaft durch die Individualisierung von Glauben und/oder Säkularisierung geprägt ist. Die Maschine aber läuft und läuft und läuft.

Beim evangelischen Kirchentag hat man KirchentagspräsidentInnen für das restliche Jahrzehnt bestimmt, auch hier steht der Zwei-Jahres-Takt fest gemauert in der Erden. Bin ich der einzige, dem das komisch vorkommt? Ja, natürlich braucht ein großes Event eine lange Vorbereitungszeit. Verkehrswege müssen geplant, Subventionen eingeworben, Inhaltliches „angedacht“ werden – schon klar. Doch plötzlich kommt eine Pandemie oder ein Krieg dazwischen und die wirklich relevanten Diskussionsforen und -Podien sind plötzlich ganz andere.

Die Kirchentagsmaschine reagiert dann wie ein Sattelzug, der in einer Sackgasse zu wenden versucht. Ein besonders ärgerliches Beispiel dafür war die Bockigkeit der letzten ÖKT-Forderen, die viel zu lange an einer analogen Veranstaltung in Frankfurt inmitten der Pandemie festhielten. Für wirklich gute digitale Angebote blieb deshalb kein Raum, keine Zeit und kein Geld.

Ich weiß es ja auch nicht!

Ich wünsche mir die Kirchen- und Katholikentage als Christentreffen, auf denen das analog Schöne im Vordergrund steht. Das Feiern, das Singen, die Gemeinschaft. Ich möchte eine wilde Kirchenmeile. Messehallen, die spontan gefüllt werden können. Ein Programm, das nicht schon viele Monate im Voraus festgenagelt ist. Offenheit für neue Akteur:innen. Hanno Terbuyken spricht vom „Kontrollverlust“, den die Kirchen- und Katholikentage wagen müssten. Ich gehe noch weiter: Warum sprechen wir von beiden als institutionellen Größen, als feststehenden Säulen, und nicht vielmehr von den Christ:innen, die gemeinsam ein paar Tage gestalten? Kirchen- und Katholikentage sollten die De-Professionalisierung wagen.

Allerdings: Ob es für so ein chaotisches, buntes, wildes Christ:innen-Treffen überhaupt ein Publikum gibt? Let’s face it! Die Kirchen- und Katholikentage sind zu stur funktionierenden und sich immer tiefer verplanenden Maschinen geworden, weil sich die Ansprüche der Besucher:innen und Teilnehmer:innen in den vergangenen 30 Jahren massiv verändert haben – oder?

„Wir“ wollen die perfekte App, die in Echtzeit die Befüllung von Veranstaltungen anzeigt. „Wir“ wollen unsere Tickets für die Podien mit Margot Käßmann und dem Bundeskanzler sicher wissen. „Wir“ wollen nicht mehr in Privatquartieren und Turnhallen übernachten. „Wir“ wollen keine Straßenkonzerte mit schlechter PA, sondern einen Sitzplatz im Megachor-Musical. „Wir“ wollen keine peinlichen Auftritte, keine Tücher-Tanz-Gruppen, keine Verzögerungen und Orga-Fehler, sondern Barack Obama vor dem Brandenburger Tor. „Wir“ wollen Event!

Doch es besteht Hoffnung, wenn die Kirchen- und Katholikentage Mut zur Pause haben, zum Zurücktreten und Freiraum lassen. Und wenn „wir“, die möglichen Teilnehmer:innen, uns ehrlich machen, was unsere Erwartungen an ein großes Christentreffen angeht. Auch hier gilt: Was man sich wünscht und was man wirklich braucht, sind zwei verschiedene Paar Schuh.

In Stuttgart gehörte die „Nacht der Lichter“ mit Taizé-Gesängen, Kerzen und Gemeinschaft zu den erfolgreichsten Veranstaltungen und die schönen Kirchentags-Stories „von früher“ drehen sich sowieso um das spontane Singen in der Straßen- oder U-Bahn, ums Kennenlernen im Quartier, endlose nächtliche Gespräche und Gruppen-Erlebnisse in der Jugendzeit. All das kann man nicht herstellen, sondern es kann sich nur einstellen, wenn nicht alles festgezurrt und durchgeplant ist.

Philipp Greifenstein (@rockToamna) ist freier Journalist (Website) sowie Redakteur und Geschäftsführer der Eule. Außerdem schreibt er die Kolumne „Die rechte Ecke“ (früher häufiger auch „Unter Heiden“).


* An dieser Stelle hatte es gehießen, dass in Deutschland mehr Menschen ein Netflix-Abo haben als eine Kirchenmitgliedschaft. Das ist nicht richtig. Bei der Auswertung einer Umfrage ist uns ein Irrtum unterlaufen.