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Werft das Los!

Nach welchen Kriterien sollte eine Triage gestaltet werden? Anstatt auf ethisch abschüssiges Gelände zu geraten, könnte man im Ernstfall auch das Los werfen.

Triage ist plötzlich in aller Munde. Sie wird in Kriegs- und Katastrophenszenarien eingesetzt, die bis zuletzt von unserer Wirklichkeit so weit weg waren, sodass sie bisher eher abstrakt und akademisch diskutiert wurde. Entsprechende Pläne existieren gleichwohl auch in Deutschland.

In einem theoretisch durchgerechneten Katastrophenszenario einer Pandemie mit einem neuartigen Coronavirus von 2012 rechnete das Robert-Koch-Institut damit, dass auch trotz aller Bemühungen die Verbreitung des Virus‘ mit Maßnahmen zur Einschränkung des sozialen Lebens zu verzögern, die Kapazitäten des Gesundheitssystems um ein Vielfaches überfordert werden. Dann müsste also mittels Triage entschieden werden, wer behandelt wird.

Man darf davon ausgehen, dass jede größere Klinik Pläne in der Schublade liegen hat, wie dann vorzugehen ist. Aus der Theorie ist in Norditalien, Spanien und im Elsass Ernst geworden. Andere Länder könnten bald folgen, auch für Deutschland ist dieser Ernstfall keineswegs ausgeschlossen.

Triage-Regeln erweitern?

Die Medizinethik hat für das Triage-Dilemma eine Lösung gefunden, die sowohl dem unendlichen Wert jedes einzelnen Lebens und der Notwendigkeit gerecht wird, begründete Entscheidungen darüber zu fällen, welche Patienten behandelt werden und welche nicht. Der entscheidende Punkt dabei: Nicht der Wert des Lebens wird bestimmt, sondern die Überlebenschance wird taxiert. Diese lässt sich ermitteln und darum auch vergleichen. Ein Leben ist immer gleich viel Wert, aber die Chancen es zu retten differieren. Am Ende dieser Überlegungen steht folgende Lösung:

1. Wer kaum oder keine Chancen hat zu überleben, selbst, wenn man ihn behandelt, wird nicht oder nur palliativ versorgt.

2. Wer kaum oder keine Chance hat zu sterben, wird nicht oder später behandelt.

3. Bei allen anderen werden zuerst jene versorgt, deren Überlebenschance durch die Behandlung am besten gesteigert werden kann. Dies hat im Falle von COVID-19 etwas mit dem Alter zu tun, aber auch mit Vorerkrankungen usw.

Angesichts der Corona-Krise steht nun zur Diskussion, ob diese Triage-Regeln nicht ergänzt, womöglich ersetzt werden sollten durch Kriterien wie die noch verbleibende statistische Lebenserwartung oder die nach der Behandlung mögliche Lebensqualität. Auch den „gesellschaftlichen Nutzen“ des Überlebens von Patienten möchten einige mit in die Abwägung einbezogen wissen.

Solche Kriterien leuchten vielen Menschen unmittelbar ein. Man möchte „möglichst viele gute Jahre“ retten und ist dafür bereit, ein paar wenige, mühselige Jahre zu opfern. Man soll da beatmen, wo es am meisten nützt.

In der Fachwelt sieht man das allerdings ganz anders. Die gesellschaftliche Debatte verläuft wie so viele Diskussionen rund um ethische Fragestellungen: Der viel beschworene „gesunde Menschenverstand“ findet ganz unproblematisch, ja sogar gut und geboten, was Profis aus Jura, Philosophie und Theologie Bauchschmerzen bereitet. Könnte man dann nicht wenigstens nachrangig solche Hilfskriterien einziehen, wenn die Menge der Patientinnen und Patienten so ansteigt, dass eine Behandlung nach den gängigen Triage-Regeln das System trotzdem überlastet?

Entscheidung im Ernstfall

Gerade die Theologie sollte diese vergiftete Frucht nicht pflücken, und sie schon gar nicht essen oder gar weiterreichen. Denn uns gähnt dahinter der Abgrund menschlicher Hybris entgegen, beurteilen zu wollen, welches Leben lebenswert ist.

Nehmen wir ein krasses Beispiel: Eine junge Mutter von vier Kindern konkurriert um den letzten Beatmungsplatz mit einer Rentnerin. Jeder sagt spontan: Rette die junge Frau! Das wäre auch nach den üblichen Triage-Regeln so, denn die junge Frau hat wahrscheinlich die besseren Überlebenschancen. Was aber, wenn die rüstige Rentnerin keine Vorerkrankungen hat, die Mutter raucht hingegen Kette, hat Atemwegsprobleme und eine wirklich genauso schlechte Prognose wie die Seniorin. Wen retten? Ist es immer noch eindeutig? Wissen wir, ob die Mutter ihre Kinder gut versorgt oder misshandelt? Ob die Rentnerin als Ehrenamtliche engagiert ist, und womöglich als Oma für Kinder aus schwierigen Familien letzter emotionaler Anker ist?

Wenn ein Politiker oder Wirschaftsboss als Patient eingeliefert würde, der Verantwortung für Millionen Menschen oder Tausende Arbeitsplätze trägt, ist er mehr wert als vier Kinder? Was ist mit Behinderten? Alleinstehenden Arbeitslosen? HIV-positiven? Welche „guten Jahre“ haben die zu erwarten und welchen „gesellschaftlichen Wert“ will man ihnen zubilligen? Sollte man, um vergleichbare Zahlen zu nutzen, nicht einfach den letzten Steuerbescheid nehmen, um den „gesellschaftlichen Nutzen“ des Überlebens zu bemessen?

Im Internet äußern angesichts solcher Argumente Minderheiten ihre Sorgen darüber, ob sie schlechtere Chancen haben, diese Pandemie zu überleben als andere, die sich stärker im Mainstream der Gesellschaft befinden. Ferda Ataman hat einen regelrechten Shitstorm ausgelöst mit einem provokativen Tweet zur Frage, ob am Ende auch rassistische Faktoren die Auswahl beeinflussen könnten. Es ist gut, dass Atamans Frage Resonanz erfährt. Die Empörung über diesen Verdacht, dass am Ende Menschen mit farbiger Haut schlechtere Überlebenschancen in einer Pandemie haben, reichte bis weit in die Mitte der Gesellschaft. Es gibt einen Konsens, dass dies nicht einmal gedacht werden darf.

Aber wer das Fass mit dem „gesellschaftlichen Nutzen“ aufmacht, der kriegt es so schnell auch nicht wieder zu. Ob man in unserer Gesellschaft erfolgreich und in der Folge auch als „nützlich“ angesehen wird, hängt eben von vielen Faktoren ab. Und diese sind eben nicht von Anfang an fair verteilt.

Werft das Los!

Irgendwie muss ja entschieden werden. Aber keines der Argumente gegen die Abwägung von Leben wird dadurch entkräftet. Es muss anders gehen. Könnten wir nicht die Entscheidung den verantwortlichen Ärzten überlassen? Die sollen das doch spontan entscheiden, aus dem Bauch heraus!

Allein der Intuition des Arztes oder der Ärztin zu vertrauen ist zweischneidige Sache. Kommen da nicht möglicherweise tiefsitzende Ressentiments und Vorurteile, Präferenzen und Abneigungen zum Tragen, die man in dieser Situation einfach nicht zur Lotterie des Überlebens beitragen lassen möchte? Ja, mit deren Vermeidung aus gutem Grund für die Ablehnung weitergehender Triage-Regeln argumentiert wird. Und seelsorglich gefragt: Dürfen wir dem einzelnen Arzt, der einzelnen Ärztin diese Verantwortung überhaupt aufbürden, spontan und ohne Kriterien über Leben und Tod zu entscheiden?

Ich halte es tatsächlich für ehrlicher, die Lotterie des Überlebens dann auch eine solche sein zu lassen. Auch in der Bibel entscheidet das Los in einigen Fällen, in denen andere Kriterien ausgereizt sind (z.B. Jona im Sturm oder Nachwahl des Matthias). Davor möge uns Gott bewahren, dahin zu kommen! Jede Christin und jeder Christ ist aufgerufen, durch umsichtiges Verhalten zu helfen, die Pandemie einzudämmen, damit uns solche Entscheidungen über Überleben und Sterben zumindest in Deutschland erspart bleiben.

Und noch etwas können wir alle tun: Selbst entscheiden, ob wir im Fall der Fälle beatmet werden möchten oder nicht. Es ist etwas fundamental anderes, wenn Menschen sagen: Ich bin bereit zu sterben, damit ein anderer leben kann. Viele ältere Menschen haben bereits Patientenverfügungen, in denen ihr Verzicht auf maschinelle Beatmung festgehalten ist. Sie selbst blicken auf ein langes Leben dankbar zurück und sind bereit zu gehen, wenn sie schwer erkranken. So wird den Ärzten die Entscheidung abgenommen.

Patientenverfügungen sind freiwillig. Was sich Menschen in ihnen für ihre Behandlung wünschen ist rechtlich verbindlich. Die persönliche Entscheidung ist frei, ob und wie man sein Sterben durch eine Patientenverfügung gestaltet. Diese Freiheit erscheint besonders kostbar angesichts der Nöte, unter denen Ärztinnen und Ärzte während der Corona-Krise arbeiten müssen.