Interview Diskussion über Vaterjuden

„Die Aufregung entsteht, wenn jemand mit dem Kopf durch die Wand will“

Gibt es in Deutschland „Juden zweiter Klasse“, wie Meron Mendel in der ZEIT nahelegt? Wie steht es tatsächlich um die Gleichbehandlung patrilinearer Juden in den jüdischen Gemeinden?

Eule: Im Artikel „Juden zweiter Klasse“ bei ZEITonline erwähnt Meron Mendel die Ungleichbehandlung von patrilinearen Juden in den jüdischen Gemeinden, vor allem von Kindern und Jugendlichen. Wird da tatsächlich ein Unterschied gemacht?

Nachama: Da fragen Sie den Falschen, in meiner Gemeinde wird das nicht gemacht. Aber ich kann mir vorstellen, dass es solche Gemeinden gibt. Ich bezweifle nicht, dass Meron Mendel richtige Beispiele nennt, aber hier in Berlin glaube ich nicht, dass sich die Gemeinden so verhalten. Meine Gemeinde, für die ich sprechen kann, macht das sicherlich nicht.

Eule: Ich kenne es aus den christlichen Kirchen so, dass nach Gemeinde- bzw. Religionszugehörigkeit gar nicht gefragt wird. Es gibt zunehmend mehr Kinder, die nicht im Säuglings- oder Kleinkindalter getauft werden, aber an kirchlichen Angeboten teilnehmen. Zumeist kommen die auch aus kirchlichen Elternhäusern.

Nachama: Wenn Sie so fragen, zäumen Sie das Pferd aber von hinten auf! Also grundsätzlich ist es richtig: Auch im liberalen Judentum in Europa hat man sich darauf verständigt, die patrilineare Herkunft nicht gleichberechtigt mit der matrilinearen zu behandeln. Bei männlichen Personen ist die Beschneidung (Brit Mila) Voraussetzung. Das ist die Ausgangsposition.

Das andere ist dann die konkrete Situation: Kommt da jemand mit Kindern in die Synagoge? Dann fange ich doch nicht an zu fragen, sondern freue mich, dass jemand mit Kindern kommt und an den Angeboten teilnimmt. So geht das dann, bis irgendjemand – in aller Regel die Betroffenen selbst – Fragen stellt: Wie ist das nun mit meinem Kind? Dann muss man Lösungen finden.

Eule: Ich habe verstanden, dass das von der Halacha bestimmt wird.

Nachama: Na ja, die Halacha ist das eine, wenn sie die Bibel aufschlagen, haben sie das andere. Da ist alles patrilinear. Das Judentum hat erst später zur matrilinearen Praxis gefunden, weil man keine Vaterschaftstests machen konnte. Wie hätte man die Vaterschaft denn feststellen sollen? Die Mutter ist von Geburt an beim Kind, da weiß man: „Aha, das ist die Mutter!“ Manche Väter haben sich nie gekümmert, da hat man gar nicht gewusst, wer der Vater des Kindes ist. Es ist ja keine Neuerung des 20. Jahrhunderts, dass es One-Night-Stands gibt!

Eule: Also könnte man sagen, dass beide Prinzipien – matrilinear und patrilinear – nicht mehr zeitgemäß sind?

Nachama: Im praktischen Umgang aber ist es nun einmal so. Wie gesagt, in aller Regel kommen die Betroffenen selbst, wenn sie sich fragen, wie ist es da mit der Mutter oder anderen Familienmitgliedern. Dann muss man Lösungen finden. Bei den liberalen Gemeinden ist es so, dass die Kinder formal vor das Beth Din (Rabbinatsgericht) gebracht werden. Wenn auch die nicht-jüdische Mutter damit einverstanden ist, werden sie ins Judentum aufgenommen: Ein kurzer Verwaltungsakt und das Eintauchen in die Mikwe. Je früher man das macht, umso einfacher ist das, weil sich ja im Kleinkindalter keine Fragen nach der Kenntnis des Judentums stellen.

Vor allem reden wir hier also von religionsverschiedenen Ehen. Dann wird das Kind als Baby ins Judentum aufgenommen. Das ist der eleganteste Weg. Am Ende nicht viel mehr als die Registrierung bei der Gemeinde, die man sowieso machen muss. Die Kinder werden in die Mikwe getragen, drei Mal untergetaucht. Das machen manchmal auch die nicht-jüdischen Mütter.

Eule: Nun geht es aber in der Diskussion auch um junge Erwachsene, die ihre jüdische Herkunft oder jüdische Identität entdecken.

Nachama: Meistens fällt es vor Familienfeiern auf, wie der Bar oder Bat Mitzwa und Hochzeiten. Es gibt vor der Bar Mitzwa manchmal noch Familien, in denen das nachgeholt wird. Und ganz selten haben wir auch mal Menschen, die seit vielen Jahren in der Gemeinde engagiert sind und wo sich erst spät im Leben rausstellt, dass sie offiziell gar nicht Teil der Gemeinde sind. Das macht man dann …

Eule: Ja, was macht man dann?

Nachama: Dann stellt ein Beth Din fest, dass sie jüdisch sind und sie werden drei Mal in der Mikwe untergetaucht.

Eule: Hat die Debatte um die patrilinearen Juden etwas mit der Zuwanderung aus der ehemaligen Sowjetunion zu tun, die in den vergangenen 30 Jahren stattgefunden hat? Ist sie Teil der großen Diskussion darüber, wer dazugehört und wer nicht?

Nachama: Da würde ich zur Vorsicht raten! Es gab Menschen, die im KZ waren, aber halachisch gesehen keine Juden waren. Die gab es sogar in großer Zahl! Oder es gab Menschen, die sich vor den Nazis versteckt haben: Für die Nazis waren es Juden, halachisch betrachtet keine. Was hätte man mit den Überlebenden machen sollen?

Auf diese Herausforderung haben die Rabbiner in der Nachkriegszeit sehr pragmatische Antworten gefunden. Es war schon so, dass die Gemeinschaft der Verfolgten neben der Halacha auch mit betrachtet wurde. Ein Rabbinatsgericht soll feststellen, ob jemand jüdisch lebt. Einer, der als Jude im KZ war, hat natürlich als Jude gelitten: Insoweit reicht diese Frage weiter zurück als bis zur Einwanderung aus der Sowjetunion, wo sich die Nationalität nach dem Vater richtete, also patrilinear. Das hat der Diskussion neuen Schub gegeben, aber die Sache war nach 1945 nicht einfacher.

Eule: Ich wundere mich ein wenig, dass die Frage der Herkunft gerade jetzt noch einmal so entscheidend wird. Man könnte heute auch stärker darauf schauen: Wie wollen die Menschen eigentlich heute leben?

Nachama: Das interessiert die Halacha nicht. Die Orthodoxie interessiert sich nicht für den Willen, die glauben ja nicht mal an das amtliche Papier, sondern da braucht man am besten zwei Zeugen. Das ist schon ein schwieriger Prozess. Wenn man sich daran halten will, wird es manchmal sehr schwierig.

Eule: Die Frage wird gerade ja von Menschen aufgeworfen, die jünger sind und sich häufig als säkulare Juden verstehen. Da wundert mich das schon: „Warum ist das Erfüllen religiöser Gesetze Dir denn wichtig, wenn Du am religiösen Leben gar nicht teilnehmen willst?“ Man kann sich doch sehr wohl als Jüdin oder Jude verstehen, ohne Teil der Gemeinde zu sein.

Nachama: Hier in Berlin ist mit Sicherheit der größere Teil der in der Stadt lebenden Juden nicht Teil einer jüdischen Gemeinde. Trotzdem werden diese Menschen eine jüdische Identität haben. Das sie nicht Mitglied der Gemeinde sind, hat oft nichts mit patri- oder matrilinearer Herkunft zu tun:

Das hat was mit den Gemeindesteuern zu tun oder damit, dass man mit dem Gemeindevorstand nicht einverstanden ist. Oder eben damit, dass man sich nicht als religiöser Jude versteht. Oder weil man aus Israel kommt und so Jude ist und sagt, dass man dann nicht auch noch Mitglied in der jüdischen Gemeinde sein muss. Es gibt es also sehr viele unterschiedliche Gründe dafür, nicht Mitglied in der jüdischen Gemeinde zu sein.

Eule: Die matrilineare Herkunft ist also kein Eintrittsticket in das Judentum, verstanden als kulturelle Gemeinschaft?

Nachama: Nein, für die kulturelle Gemeinschaft spielt sie überhaupt keine Rolle.

Eule: Ich verstehe die Aufregung darum nicht so ganz, gebe ich zu.

Nachama: Es gibt ja eigentlich gar keine Aufregung. Aufregung entsteht, wenn jemand mit dem Kopf durch die Wand will, und sagt: „Ich bin säkular, aber ich will als Jude anerkannt sein!“ Damit tun sich orthodoxe Rabbiner natürlich schwerer als die liberalen. Aber auch die liberalen Rabbiner werden sich das, da bin ich ehrlich, genau anschauen, wenn einer im Grunde sagt: „Ich bin Jude, aber aus selbstdefinierten Gründen“. Also ist die Herkunft schon von Bedeutung.

Es hat auch Fälle gegeben, wo Leute eine jüdische Identität angenommen haben, um ihre Mitmenschen zu täuschen. Einer hat sogar Karriere als Gemeindevorsitzender gemacht in Schleswig-Holstein. Das ist alles durch die Presse gegangen. Die Gemeinden haben guten Grund, diejenigen zu prüfen, die formal dazugehören wollen. Wenn aber jemand in der Kneipe behauptet, er sei Jude, das dann für sich begründet und für wahr hält, da gibt es keinen Grund dem nachzuforschen.

Eule: Es geht also am Ende nur um die Mitgliedschaft in der religiösen Gemeinde und um die Privilegien, die sich daraus ergeben – wie ja bei einer Kirchenmitgliedschaft auch?

Nachama: So sehe ich das. In den meisten jüdischen Vereinen sind auch Nicht-Juden dabei und auch an den jüdischen Schulen werden christliche Schülerinnen und Schüler unterrichtet oder solche ohne Religionszugehörigkeit. Nein, es geht dann schon um die religiösen Dinge, wie die Bar Mitza oder eine Hochzeit durch einen Rabbiner, bei denen sich die Frage überhaupt stellt.

Eule: Das sind Konflikte, wie wir sie auch in anderen Religionsgemeinschaften sehen, besonders auch in den großen Kirchen: Die Verwunderung einer zunehmend säkularen Gesellschaft darüber, dass das am Ende Religionsveranstaltungen sind und nicht allein Kulturvereine oder die Wohlfahrt. So nach dem Motto: „Ach, man muss ja doch was glauben, wenn man bei euch dabei sein will?!“

Nachama: Genau, und da wird es interessant! Jemand, der dazugehören will, findet in aller Regel einen Weg. Es mag Gemeinden geben, die da engherzig sind. Das kann ich nicht ausschließen. Es gibt inzwischen doch wieder so viele Gemeinden in Deutschland, darunter auch freie Vereine, da kann der Zentralrat auch nicht einfach überall einheitliche Regeln vorgeben.

Wichtig ist, dass beide Seiten pragmatisch denken. Wenn man immer grundsätzlich diskutieren will, dann wird es natürlich anstrengend. Mein orthodoxer Kollege hier in Berlin sagt gerne: „Ein ‚Nein‘ zu sagen ist einfach, um zu einem ‚Ja‘ zu kommen, muss man kreativ sein.“


Das Interview führte Philipp Greifenstein.


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