Kirche

ForuM-Studie: Die „Magie der Zahlen“

Die hohen Zahlen von Betroffenen und Tätern sexualisierter Gewalt in der Evangelischen Kirche erschüttern viele Menschen. Wie sind die Zahlen entstanden? Hat die Kirche bei der Datenerhebung gemogelt?

Beharrlich wiederholen die nach Hannover zur Vorstellung der „ForuM-Studie“ angereisten Betroffenensprecher:innen ihre Mahnung, die evangelische Missbrauchsstudie, die nach all den Jahren des Wartens endlich vorliegt, nicht allein nach der Güte der in ihr enthaltenen Zahlen, sondern besonders aufgrund der zahlreichen qualitativen Ergebnisse zu bewerten. Trotzdem steht zunächst eben jenes Zahlenmaterial im Fokus der Aufmerksamkeit, das im Teilprojekt E als „Kennzahlen zur Häufigkeit des sexuellen Missbrauchs“ der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.

Die Zahlen sind eigentlich nicht überraschend, denn längst war klar, dass die Zahl von rund 900 Betroffenen, die von der Evangelischen Kirche als Gesamtzahl derjenigen, die von der Kirche sog. „Anerkennungsleistungen“ erhalten haben, in den vergangenen Jahren kommuniziert wurde, nicht alle Meldungen von Missbrauchsfällen im Raum der Evangelischen Kirche und Diakonie umfasst – und erst recht nicht alle von sexualisierter Gewalt in ihren Gemeinden und Einrichtungen betroffene Menschen. Außen vor blieben zum Beispiel stets hunderte, wenn nicht tausende Betroffene aus dem Kontext der Heimerziehung, für die sich die Kirche mit ihrem Anerkennungssystem lange nicht zuständig empfand. Und natürlich auch jene Betroffene, die aus guten Gründen auf eine Meldung bei Kirche und Diakonie und/oder einen Antrag auf Anerkennungsleistungen verzichteten.

Die „ForuM-Studie“ also spricht nun von 1.259 Beschuldigten und 2.225 Betroffenen. Das sind deutlich höhere Zahlen, als sie bisher von den verantwortlichen Stellen kommuniziert wurden.

In den Stunden seit der Veröffentlichung beeilen sich nun die Evangelischen Landeskirchen, die konkreten Zahlen zu veröffentlichen, die sie an die „ForuM-„Forschenden weitergeleitet hatten. Ergänzt werden sie durch die Meldezahlen des letzten (und vorletzten) Jahres, denn selbstverständlich sind nach dem „ForuM“-Meldeschluss neue Fälle hinzugekommen. Die „ForuM“-Studie selbst schlüsselt die Zahlen vereinbarungsgemäß nicht nach Landeskirchen auf. Viele Kirchenmitglieder werden in diesen Tagen also zum ersten Mal von den erheblichen Fallzahlen in ihrer eigenen Landeskirche erfahren. Ein hoffentlich klärender Lernmoment.

Die „ForuM-Studie“

Die komplette Studie steht als PDF zum Download auf der Website des Forschungsverbundes zur Verfügung. Dort findet sich außerdem eine 37-seitige „Zusammenfassung der Ergebnisse, Schlussfolgerungen und Empfehlungen für Prävention, Intervention und Aufarbeitung“ als PDF zum Download.

Eine Hochrechnung auf schmaler Aktenbasis

Zu diesem Zahlengewirr hinzu kommt allerdings noch eine spektakulär daherkommende Hochrechnung der Forscher:innen um Professor Harald Dreßing von der Heidelberger Universität (S. 632 ff. des Abschlussberichts). So steht auf einmal die Zahl von 3.497 Beschuldigten und 9.355 Betroffenen im Zeitraum von 1946 bis 2020 im Raum. Was hat es damit auf sich?

Das zwischen EKD, Diakonie und dem Forschungsverbund ursprünglich vereinbarte Studiendesign sah eine Überprüfung der Personalakten bei den Landeskirchen im 2. Teilschritt der Arbeit am Teilprojekt E vor. Diese Überprüfung sollte – wie auch alle anderen Arbeiten an den Akten in dieser Teilstudie – von den Landeskirchen (!) selbst erledigt werden. Für die Zuarbeiten wurden in den Landeskirchen eigene Recherchestäbe nach Maßgabe der Vereinbarung zwischen dem Forschungsverbund und EKD/Diakonie gebildet. Es sind also zu keinem Zeitpunkt „LKW mit Akten“ durch das Land gefahren, auch haben Kirche und Diakonie für das Teilprojekt E keine Akten „zur Verfügung gestellt“ oder den Forscher:innen „übergeben“, wie es dieser Tage in manchen Presseberichten zu lesen war.

Bereits die Zuarbeiten für den Teilschritt 1 der Teilstudie verzögerten sich aber in den Landeskirchen erheblich. In diesem Teilschritt sollten die Landeskirchen einen ausführlichen „Fragebogen“ von 104 Seiten Länge beantworten, der u.a. zahlreiche Fragen zum Personalwesen und zu den bisherigen Melderegelungen sowie zur Präventions- und Interventionsarbeit der Landeskirchen enthielt. Wie die entsprechende Passage des Abschlussberichts (S. 586-632) zeigt, handelt es sich dabei um ein sehr umfangreiches Unterfangen. Außerdem wird deutlich, dass längst nicht alle Landeskirchen auf die Fragen der Forschenden zufriedenstellend eingehen konnten.

Von Akteur:innen aus den Landeskirchen, die mit der Arbeit an der Teilstudie vertraut sind, hat die Eule erfahren, dass die Gestaltung der Fragebögen durch die Wissenschaftler:innen als missverständlich und zum Teil unpassend empfunden wurde. Die Forschenden hätten sich an katholischen Vorgängerstudien orientiert, sodass die vorgeschlagenen Systematisierungen nicht auf die evangelischen Kirchenstrukturen anwendbar gewesen wären. Bei der Präsentation der „ForuM-Studie“ gestanden sowohl Kirchenvertreter:innen als auch Forschende zu, dass es während der Arbeiten zu einem erheblichen Diskussions- und Nachsteuerungsbedarf gekommen sei. Man habe in stundenlangen digitalen Meetings versucht, ein gemeinsames Verständnis der Arbeit herbeizuführen.

Die Arbeiten am Teilschritt 1 sollten ursprünglich im Zeitraum vom 1. Juli bis zum 31. Oktober 2021 erledigt werden, der letzte Dateneingang wurde aber erst am 31. Januar 2022 von den Forschenden registriert. Damit hatte sich die Bearbeitungszeit also verdoppelt. Gleichwohl wird man sich fragen müssen, ob sie nicht von vornherein viel zu knapp bemessen war.

Noch während der Arbeiten am Teilschritt 1 wurde von den Landeskirchen an die Forschenden zurückgemeldet, dass eine Personalaktenuntersuchung nicht wie geplant möglich sein würde. Forschende und Kirchenvertreter:innen sind sich darin weitgehend einig, dass dafür aufgrund der bereits eingetretenen Verzögerungen keine Zeit mehr geblieben wäre. Die Landeskirchen machten vor allem einen Personalmangel verantwortlich, der kurzfristig nicht zu beseitigen sei, und führten, laut Projektleiter Martin Wazlawik, auch ins Feld, „dass Personalakten nur wenig zusätzliche Erkenntnisse brächten“. Die Forscher:innen wissen hingegen aus ihrer Arbeit an ähnlichen Projekten, wie z.B. der katholischen „MHG-Studie“, dass dem nicht so ist.

Im 2. Teilschritt sollten also nun statt der Personalakten nur noch Disziplinarakten eingängiger untersucht werden. Ursächlich dafür ist aber nicht allein die verspätete Startzeit, sondern auch der Zustand des kirchlichen Aktenwesens. Wie die landeskirchlichen Antworten im 1. Teilschritt nämlich eindrücklich zeigen, ist deren Lagerung in den 20 evangelischen Landeskirchen nicht einheitlich und vor allem nicht systematisiert, gelegentlich noch nicht einmal zentralisiert. Auch die Beantwortung anderer Fragen zum kirchlichen Handeln auf dem Handlungsfeld Schutz vor sexualisierter Gewalt ist einigen Landeskirchen offenbar sehr schwer gefallen. Vor diesem Hintergrund erhält der kirchliche Einwand, die von den Forscher:innen vorgeschlagenen Systematisierungen seien teilweise untauglich gewesen, eine andere Farbe: Wo kein System vorherrscht, muss so oder so erst eins geschaffen werden.

Von Personal- und Disziplinarakten

Disziplinarakten werden in den Evangelischen Kirchen nur dann angelegt, wenn es zu dienstrechtlichen Untersuchungen und Verfahren kommt. Sie sind also viel seltener als Personalakten, die für jede Pfarrperson (und jede:n Beschäftigte:n) angelegt werden, und in denen sich auch Hinweise auf Vergehen und mögliche Vertuschung durch Gemeinden, Kolleg:innen und Dienstvorgesetzte finden können, ohne dass jemals ein Disziplinarverfahren eröffnet wurde.

Eine systematische Untersuchung nur der in den Landeskirchen zumeist zentralisiert – und zwar häufig bei oder in den Personalakten der Pfarrpersonen! – gelagerten Disziplinarakten bringt im Vergleich zu einer systematischen Untersuchung der Personalakten sowohl von Pfarrpersonen als auch aller sonstigen kirchlich Beschäftigten eine erhebliche Verengung des Blickfeldes mit sich. Es stehen so vor allem Pfarrer als Täter im Fokus, obwohl die „ForuM-Studie“, wie wir heute wissen, ermittelt hat, dass 60 % der Täter keine Pfarrer waren. Vor allem aber geraten so nur jene Fälle in den Blick, die auf dem Wege eines kirchlichen Disziplinarverfahrens schon einmal aktenkundig wurden.

Mit einer ausführlichen Notiz bezüglich der während der Studienarbeit aus verschiedenen Gründen vorgenommenen Umplanung des Studiendesigns hätte man es also bewenden lassen können.

Dankenswerter Weise aber ist es, wie die Eule bereits am Mittwoch berichtete, so gekommen, dass in einer der 20 evangelischen Landeskirchen neben den Disziplinarakten auch der gesamte bei der Landeskirche zentral vorliegende Personalaktenbestand einer systematischen Untersuchung im Sinne des ursprünglichen Studiendesigns unterzogen werden konnte, deren Ergebnisse auch in die Studie eingespeist werden konnten – und zwar in der Reformierten Kirche. Diese kleine evangelische Landeskirche mit Sitz in Leer (Niedersachsen) hat heute gerade einmal ca. 160.000 Mitglieder. Der Evangelischen Kirche gehören insgesamt ca. 19 Millionen Menschen an. Der Personalaktenbestand beläuft sich auf ca. 800 Akten und war also in der ursprünglich vorgesehenen Arbeitszeit zu bewältigen.

Aus einem Vergleich der bei dieser kleinen Landeskirche vorgenommenen Personalaktenuntersuchung zum Befund aus der Prüfung der Disziplinarakten ergibt sich, dass 57,1 % der Beschuldigten und 73,9 % der Betroffenen nur aufgrund einer Analyse der Disziplinarakten nicht identifiziert hätten werden können. Dies beweist, wie die Forschenden nicht müde werden zu erklären, wie wichtig eine systematische Untersuchung der Personalakten ist.

Die Forschenden um Harald Dreßing, der bereits die Arbeiten an der katholischen „MHG-Studie“ koordiniert hatte, stellen nun auf Grundlage dieser Überlegungen in der „ForuM-Studie“ eine Hochrechnung an, die dieses Ergebnis auf alle Landeskirchen extrapoliert. Demzufolge könnte sich die Zahl der Beschuldigten auf 3.497 und die der Betroffenen auf 9.355 im Zeitraum von 1946 bis 2020 belaufen. Damit würden sie sich auf dem Niveau einpendeln, das für die Katholische Kirche in der „MHG-Studie“ angenommen wurde (Dieser Befund von 2018 ist durch neuere Forschungen inzwischen auch überholt). Dreßing selbst aber betonte bei der Präsentation, es handele sich um eine „spekulative Hochrechnung“, die wissenschaftlichen Standards nicht genüge.

Was bedeutet „Screening“?

Es nehmen jedoch noch weitere Landeskirchen für sich in Anspruch, (mindestens einige) Personalakten untersucht zu haben. Neben der EKM (s. Artikel von Mittwoch) sind dies mindestens noch die Nordkirche, die Bremische Evangelische Kirche (BEK), die Ev.-Luth. Landeskirche Hannovers und die Ev.-Luth. Landeskirche in Braunschweig. Gerne fällt in diesem Zusammenhang das interpretationsoffene Wort „Screening“ oder ist von einer „Prüfung“ die Rede.

Meint eine Untersuchung der Personalakten schon ihre Durchsuchung nach Disziplinarakten und Beschwerdevermerken? Oder ist damit auch ein Durchleuchten nach gängigen Schutzbehauptungen und milieutypischen Umschreibungen gemeint? Geht es nur um jene Personalakten, in oder an denen Disziplinarakten gefunden wurden, wie zum Beispiel die Hannoversche Landeskirche angibt? Oder wurden alle im Landeskirchenamt und/oder einem zentralen Kirchenarchiv auffindbaren Personalakten „gescreent“?

Während der Eule von mehreren Personen, die Kenntnis von der Recherchearbeit in verschiedenen evangelischen Landeskirchen haben, geschildert wurde, man habe die Personalakten durchaus inhaltlich begutachtet, wird dies von den Forschenden vehement bestritten. Auf der Abschlusstagung zur Vorstellung der „ForuM-Studie“ am Freitag wies Dreßing als Reaktion auf das bemerkbare Murren bei den kirchlichen Mitarbeiter:innen noch einmal darauf hin, dass entsprechende Datenerhebungen bei den Forschenden jedenfalls nicht eingegangen seien. Unstrittig hingegen ist, dass eine systematische Untersuchung aller Personalakten ein Desiderat der „ForuM-Studie“ ist (vulg. eine nicht geklärte Forschungsfrage), denn die dezentral – also bei Kirchgemeinden, Kirchenkreisen und in den Einrichtungen – gelagerten Personalakten sind, nach gegenwärtigen Kenntnisstand der Eule, nirgends miteinbezogen worden.

Obendrein haben in das Zahlenmaterial des Teilprojekts E offenbar nur Fälle aus der Diakonie Eingang gefunden, die sich bis Ende der 1970er Jahre ereignet haben. Auch jene Fälle fehlen, die nur in diakonischen Einrichtungen, aber nicht bei den Diakonie-Landesverbänden und/oder der Diakonie Deutschland aktenkundig sind. Dabei handelt es sich mit Sicherheit um ein Vielfaches des von der Diakonie den Forschenden zur Verfügung gestellten Datenmaterials, in dem sich häufig Taten verbergen, die mit besonders großer sadistischer Gewalt durchgeführt wurden und einer „Folter“ an Schutzbefohlenen gleichkommen.

Dass es der Reformierten Kirche als einziger EKD-Gliedkirche gelungen ist, in der eng bemessenen Arbeitszeit den ursprünglichen Arbeitsauftrag – trotz der zwischenzeitlich erfolgten Änderung des Forschungsdesigns, die von den Forschenden akzeptiert wurde – zu erfüllen, liegt wohl maßgeblich am wirklich geringen Aktenbestand der Landeskirche. Die EKM gibt an, für ihr „Screening“ von 8.000 Personalakten sechs Monate benötigt zu haben. Die Bayerische Landeskirche, die fast vier Mal so groß ist wie die EKM, erklärte, sie erwarte für eine systematische Untersuchung der Personalakten eine jahrelange Arbeitszeit. Wieviele Personalakten allein für Pfarrer:innen es in der Evangelischen Kirche überhaupt gibt, kann noch dazu überhaupt niemand genau sagen. Klar ist nur, dass sie nicht einheitlich geführt wurden, nicht systematisiert und verschlagwortet sind und an vielen verschiedenen Orten lagern.

Vertuschung oder Überforderung?

Ist das Fehlen der Personalaktenuntersuchung „nur“ ein Desiderat oder womöglich „desaströs“, wie Henning Stein in seiner Kommentierung aus Sicht eines Betroffenenvertreters auf der Abschlußtagung am Freitag fragte? Ist dieses offenkundige Manko der Studie ein Beweis für den mangelnden Aufarbeitungswillen seitens der Kirche und der Diakonie oder schlicht Ergebnis ihrer Überforderung?

Wer sich mit dem Betrieb der evangelischen Landeskirchen auskennt, wird wenig überrascht davon sein, dass sie in der Kürze der Zeit den Anforderungen des ursprünglichen Studiendesigns nicht genügen konnten. Zwar ist seit Beginn der Missbrauchskrise der Kirchen in Deutschland im Jahr 2010 und seit dem Beginn der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Themenfeld sexualisierte Gewalt auf EKD-Ebene 2018/2019 bereits viel Zeit vergangen, aber der eigentliche Forschungszeitraum der „ForuM-Studie“ war eng gesetzt. Zu eng vielleicht. Warum eine systematische Abfrage wenigstens der bereits bekannten Fälle bei allen diakonischen Einrichtungen unterblieben ist, bedarf ganz sicher einer gründlichen Nachbetrachtung.

Böse Absicht, so stellten die Forschenden in Hannover klar, wollten sie der Kirche keineswegs unterstellen, nur die Gründe für den Wechsel der Forschungsstrategie auf halber Strecke aus ihrer Perspektive korrekt darstellen. Daran hängt für sie, wie bereits am Mittwoch beschrieben, auch ihre eigene Glaubwürdigkeit als Wissenschaftler:innen. Bei aller notwendiger Kritik am kirchlichen Handeln auf dem Themenfeld der sexualisierten Gewalt, für die die „ForuM-Studie“ in ihren anderen Teilstudien reichlich Anlässe dokumentiert, gilt auch hier Hanlon’s Razor, demnach man nichts durch Boshaftigkeit erklären muss, was auch durch Unfähigkeit zureichend erklärt ist.

Den Aufschrei rund um die Veröffentlichung der Studie hat sich die Evangelische Kirche im Übrigen selbst eingebrockt. Noch vor Ausschreibung des Studienauftrags und Beauftragung des Forschungsverbundes hieß es im Jahr 2018 von kirchenleitenden AkteurInnen, man wolle eine Studie, die „das Dunkelfeld des Missbrauchs“ aufkläre. Doch eine solche Studie hat die Kirche nie bestellt. Und noch mehr: Von vornherein legten die Verantwortlichen im „Beauftragtenrat zum Schutz vor sexualisierter Gewalt“, im Rat der EKD, in der Kirchenkonferenz der leitenden Geistlichen und Jurist:innen und im Kirchenamt der EKD Wert darauf, eine „qualitative“ und keine „quantitative“ Studie in Auftrag zu geben. Das wurde – gut evangelisch – gemeinsam so entschieden. Womöglich nicht allein, um besonders viel über Spezifika von Tatkontexten und die eigenen Verfehlungen zu lernen, sondern auch um einem Vergleich mit der gerade eben erst erschienenen katholischen „MHG-Studie“ auszuweichen.

Durch die Ausschreibung der Studie, die Wahl der Vertragspartner und schlussendlich durch die Verzögerungen bei der Datenanlieferung haben die Evangelische Kirche und die Diakonie reichlich Einfluss auf das „Design“ der tatsächlich durchgeführten Studie genommen. Den späten Forschungsbeginn, die Arbeitsüberlastung durch das Beharren auf eigenen Rechercheleistungen und die mindestens verunklarende Kommunikation des eigentlichen Studieninteresses haben sich Diakonie und Kirche selbst zuzuschreiben. Sie plumpsen – nicht zum ersten Mal – in eine Grube, die sie sich selbst gegraben haben.

Wie weiter mit den Personalakten?

Wie eine systematische Untersuchung der Personalakten doch noch gelingen könnte, wurde auf der Abschlusstagung des „ForuM“-Forschungsverbundes in Hannover sowohl vom Podium aus als auch auf den Gängen heiß diskutiert: So könnte man sehr wohl in zwei oder drei Landeskirchen exemplarisch eine solche Untersuchung durchführen (lassen), empfahl Prof. Heinz Kindler vom Deutschen Jugendinstitut, der auch dem Beirat des Forschungsverbundes angehört. Das sei schon allein deshalb gut, um die Datenbasis der Hochrechnung zu verbessern. Offenbar wurden für eine solche Arbeit ja in mehreren Landeskirchen schon mindestens Vorarbeiten geleistet (s.o.), an die man anknüpfen könnte.

Dorothee Wüst, Kirchenpräsidentin der Evangelischen Kirche der Pfalz und Sprecherin der kirchlichen Beauftragten im Beteiligungsforum der EKD (BeFo), verwies bei der abschließenden Podiumsdiskussion auf die neun regionalen und unabhängigen Aufarbeitungskommissionen, die gemäß der erst im Dezember 2023 unterzeichneten „Gemeinsamen Erklärung“ zwischen EKD/Diakonie und der Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung (UBSKM), Kerstin Claus, im Jahr 2024 eingerichtet werden sollen (wir berichteten). Gleichwohl werden die Kommissionsmitglieder alle ehrenamtlich tätig sein, die Kommissionen kommen höchstens als Auftraggeberinnen weiterer Studien in Frage.

Schließlich wiesen mehrere Teilnehmer:innen und Expert:innen darauf hin, dass man die Akten auch gleich im Auftrag der Kirche von Rechtsanwaltskanzleien untersuchen lassen könne, wie es in einigen katholischen Bistümern im Nachgang der „MHG-Studie“ möglich wurde. Nur eine Forschungstätigkeit „auf eigene Faust“ durch einzelne Landeskirchen wurde von allen Teilnehmer:innen einhellig abgelehnt. Es müsse sichergestellt werden, dass weitere Untersuchungen standardisiert erfolgten, sonst drohe der Evangelischen Kirche das gleiche Ungeschick wie der Katholischen: Dort folgen die einzelnen Missbrauchsstudien in den Bistümern je unterschiedlichen Konzepten, sodass ihre Ergebnisse nicht miteinander vergleichbar sind.

„Die Spitze der Spitze des Eisbergs“

Braucht es eine systematische, teure und langwierige Untersuchung der Personalakten überhaupt? Sicher nicht, nur um aus der „Spitze der Spitze des Eisbergs“, als die Projektleiter Martin Wazlawik die Fallzahlen des Teilprojekts E einordnete, irgendwann einmal eine „Spitze des Eisbergs“ zu machen.

In seiner Ad-Hoc-Peerkritik an der Studie auf der Abschlusstagung wies Prof. Heinz Kindler auf die „Magie der Zahlen“ hin, der Journalist:innen, Beobachter:innen und auch Forscher:innen gerne erliegen. Ihn verwundere der Fokus auf die Zahlen in der Studie, denn die enthaltene Hochrechnung sei sowieso „grob falsch“, erklärte er gut gelaunt. Man habe ja bereits eine – auch mit anderen internationalen Studien vergleichbare – sehr gute Schätzung des Dunkelfelds in den Kirchen von 114.000 Betroffenen durch eine Studie des Ulmer Kinderpsychiaters Jörg Fegert vorliegen (mehr dazu). Eine systematische Untersuchung der Personalakten sei aber sehr wohl angeraten, weil man aus ihnen „andere Sachen lernen kann“.

Zu diesen „anderen Sachen“ gehören zum Beispiel Erkenntnisse darüber, wie mit sexualisierter Gewalt, mit Tätern und Betroffenen in der Kirche zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Milieus und beruflichen Kontexten umgegangen wurde. Wurden Täter unter den Pfarrern geschützt, während beschuldigte andere Mitarbeiter:innen hastig vom Hof gejagt wurden? Vieles deutet auf einen solchen evangelischen Klerikalismus hin. Die „ForuM-Studie“ liefert schon eine Menge Stoff zu Tatkontexten und Spezifika evangelischen Missbrauchs, aber klar: weitergeforscht werden kann immer. Kindler wies in seiner kritischen Würdigung der Studie auch darauf hin, dass ihn die eher theologisierenden Deutungen der „machtasymmetrischen Beziehungen“, die von den „ForuM“-Forschenden vorgenommen wurden, nicht restlos überzeugten.

Schließlich scheinen auch die über die vergangenen Jahrzehnte erfolgten massiven Veränderungen der kirchlichen Mitarbeiter:innenschaft und Handlungsfelder – Stichworte wären zum Beispiel: Frauenordination und Multiprofessionalität – noch zu wenig beleuchtet zu sein. Prof. Thomas Großbölting von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, der mit Wazlawik gemeinsam für das Teilprojekt A „Evangelische Spezifika: Kirche und Gesellschaft“ zuständig war, beschied zum Ende der Tagung lediglich, solche Spezifika evangelischer Kirchlichkeit schlügen „im Resultat“ des Missbrauchsgeschehens „gar nicht so durch“.


Alle Eule-Artikel zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“.


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Die „ForuM-Studie“ in der Eule

Eule-Redakteur Philipp Greifenstein wird von der Vorstellung der „ForuM-Studie“ am 25. und 26. Januar aus Hannover berichten. Am Donnerstag wird die Studie Kirche und Öffentlichkeit auf einer Pressekonferenz vorgestellt. Am Freitag findet dann an gleicher Stelle eine Fachtagung zur Studie statt. Fragen und Hinweise zur Studie und zum Themenschwerpunkt „Missbrauch evangelisch“ nehmen wir gerne vertraulich per E-Mail (redaktion@eulemagazin.de), hier in den Kommentaren und auf Social Media entgegen.