50 000 – Die #LaTdH vom 24. Januar

Das Sterben während der Pandemie gerät endlich in den Fokus der Aufmerksamkeit. Außerdem: Ein katholischer Präsident, Streit um den assistierten Suizid, islamische Theologie und ein Poem.

In dieser Woche hat Deutschland die Marke von 50 000 Toten überschritten, die an und mit dem Corona-Virus verstorben sind. Von 40 000 bis 50 000 hat es knapp zwei Wochen gedauert. Noch nie wurde in Deutschland so viel an Corona gestorben wie in diesen Tagen. Derweil sinken die Inzidenzen nur langsam.

Debatte

#lichtfenster

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ruft zu einer von vornherein hybrid gedachten Gedenkaktion für die Toten der Corona-Pandemie und ihre Angehörigen auf, und die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) machen mit. Am Freitag bei Einbruch der Dunkelheit, dem Beginn des jüdischen Shabbats, soll ein Licht ins Fenster gestellt werden.

Wir stellen ein Licht ins Fenster, weil wir wissen: Überall in unserem Land leiden Menschen. Wir trauern mit den Angehörigen. Wir wünschen den Kranken schnelle Genesung. Mit unseren „Lichtfenstern“ rufen wir einander zu: Die Toten der Corona-Pandemie sind für uns keine bloße Statistik. Auch wenn wir ihre Namen, ihre Familien nicht kennen – wir wissen: Jede Zahl steht für einen geliebten Menschen, der uns unendlich fehlt.

Aufruf und Hashtag deuten schon an, dass es ein wichtiger Teil der Aktion ist, Bilder von den eigenen Lichtfenstern in den Sozialen Netzwerken zu teilen. Daran haben sich am Wochenende schon viele Menschen beteiligt. Viel wichtiger als dieses erneute Ritual – wie viele Aufrufe zum Lichtanzünden, Glockenläuten und zu verabredeten Singzeiten hat es eigentlich schon gegeben? – ist die Ankündigung des Bundespräsidenten:

Nach Ostern richtet Bundespräsident Steinmeier dann in Berlin eine zentrale Gedenkfeier für die Toten der Corona-Pandemie in Deutschland aus. Gemeinsam mit den anderen Verfassungsorganen möchte der Bundespräsident damit ein Zeichen setzen, dass wir als Gesellschaft gemeinsam trauern, dass wir die Toten und das Leid der Hinterbliebenen nicht vergessen.

Damit antwortet Steinmeier auf entsprechende Forderungen, die bereits seit dem Frühjahr 2020 immer wieder gestellt werden. Es wird Zeit! Dabei stellt sich natürlich die Frage, wie mit dem doch sehr verschiedenen Leid während der Corona-Pandemie während einer solchen Feier umgegangen werden kann. Es braucht kluge und weise Worte, geschicktes Symbolhandeln. Die Kirchen sollten sich da nicht zurückhalten!

Zahlreiche Initiativen haben versucht, das öffentliche Schweigen um die Toten zu füllen. Auf Twitter und Instagram zum Beispiel die Aktion #MehrAlsNurEineZahl, die biographische Miniaturen der Verstorbenen postet.

„Alles ist gerade zu viel verlangt“ – Interview mit Petra Bahr von Tanja Tricarico (taz)

Petra Bahr (@bellabahr), Regionalbischöfin von Hannover und Mitglied des Deutschen Ethikrates, spricht in der taz über die Herausforderungen der gegenwärtigen Pandemiephase, die frühzeitige Debatte um Freiheiten für Geimpfte und das einsame Sterben.

Ein Virus kann man schlecht mit einem „Es reicht!“ in die Schranken weisen. Wenn die Einsicht über lange und inkohärente Regelwerke nicht mehr hilft, hilft zwischendurch nur Disziplin. Damit meine ich nicht, staatliche Verordnungen kritiklos hinzunehmen. Im Gegenteil. Aber ab und zu melden sich doch ganz menschliche Bedürfnisse, wie endlich mal wieder mit drei Freundinnen einen Abend zu verbringen. Gegen diesen Impuls, aber auch bei dem Gefühl, so viel verabschiedet zu haben, ohne zu wissen, was kommt, hilft mir Disziplin, ein Morgenritual, feste Zeiten für Dinge, die schön sind. Diese Mischung aus Großzügigkeit und Disziplin ist die Haltung, die ich gerne hätte.

#ZeroCovid

In dieser schlimmsten Phase der Pandemie in Deutschland, in der absehbar ist, dass uns die Einschränkungen noch viele Wochen werden begleiten müssen, richten zahlreiche Wissenschaftler:innen und Personen des öffentlichen Lebens mit dem Aufruf #ZeroCovid einen Appell an Politik und Gesellschaft. Ziel ist ein positive Bestimmung des Ziels: „Null Infektionen!“. Worum es dabei jenseits des griffigen Hashtags geht, erklären Jakob Simmank, Corinna Schöps und Sven Stockrahm in der ZEIT.

Derweil wachsen die Ungeduld und die Sorgen um diejenigen, die unter den Einschränkungen am meisten zu leiden haben, wieder einmal ins Unermessliche. Disziplin und Selbstbeschränkung, Affektkontrolle und solidarisches Handeln sind jetzt gefragt. Dabei hilft ganz sicher die ehrliche Kommunikation eines Ziels, auf das wir gemeinsam hinarbeiten.

nachgefasst Teil 1: Corona-Krise

Neue Corona-Regeln für Religionsgemeinschaften

Auch für die Religionsgemeinschaften und Kirchen gibt es Neuigkeiten: Die Absprache zwischen Bundesregierung und MinisterpräsidentInnen-Konferenz (PDF) sieht vor, dass Gottesdienste ab 10 Teilnehmer:innen beim Ordnungsamt zwei Tage im Voraus angemeldet werden müssen. Unbeschnitten bleiben die Verabredungen die insbesondere Bistümer und Landeskirchen mit den jeweiligen Landesregierungen getroffen haben. Die neue Absprache, die erst durch die Umsetzung in den Bundesländern wirksam wird, zielt gegen Versammlungen, die „unter dem Radar“ stattfinden.

Zunächst also gegen Demonstrationen, die um Auflagen zu entgehen sich kurzerhand zu Gottesdiensten erklären, wie es in den vergangenen Monaten zumindest punktuell passiert ist. Und gegen Gottesdienste und religiöse Veranstaltungen von Gemeinschaften, die sich bisher nicht ausreichend Mühe gegeben haben, den notwendigen und gesellschaftlich hoch akzeptierten Schutzmaßnahmen Folge zu leisten. Auch dafür gab es in den letzte Monaten einige Beispiele.

Für Kirchgemeinden in den römisch-katholichen (Erz-)Bistümern und evangelischen Landeskirchen sollte sich gleichwohl kaum etwas ändern. Ansonsten wartet man in der Fläche wie sonst auch (mehr oder weniger) geduldig darauf, dass sich der Krisenstab des Bistums / der Landeskirche einen Reim auf die Landesregelungen gemacht hat. Das dauert manchenorts auch im zweiten Corona-Jahr immer noch mehrere Tage. Und, das sei bei immer noch hohen Inzidenzen und in der schwierigsten Phase der Pandemie-Bekämpfung einmal deutlich gesagt: Wenn das Ziel die Kontaktverminderung und -Vermeidung ist, dann sehe ich für Veranstaltungen mit mehr als 10 Teilnehmer:innen überhaupt keinen Grund.

Corona-Langzeitfolgen

Die ZDF-Sendereihe „planet e“ hat in einer halbstündigen Sendung den Versuch unternommen zusammenzufassen, was Forscher:innen innerhalb des letzten Jahres über das Corona-Virus und Covid-19 herausgefunden haben. Ein eindrücklicher und sehenswerter Film! Und der ARD-Faktenfinder berichtet anhand von Erkenntnissen u.a. aus Großbritannien über die Langzeitfolgen einer Covid-19-Erkrankung.

Laut einer Studie der Universität Leicester und der britischen Statistikbehörde ONS wurde fast jeder Dritte als geheilt entlassene Covid-19-Patient innerhalb von fünf Monaten wieder eingeliefert, oft mit Problemen an mehreren Organen. Fast jeder achte von ihnen starb – und wurde trotzdem statistisch nicht als Opfer der Viruserkrankung gezählt, […]. […] Was besonders auffällig ist: Kranke unter 70 Jahren und ethnische Minderheiten waren davon besonders stark betroffen.

Derweil gibt es zur oft beklagten Impfskepsis des medizinischen Personals (s. #LaTdH von letzter Woche) einschränkende Hinweise, die Hoffnung machen.

nachgefasst Teil 2

Assistierter Suizid

In der Evangelischen Kirche und Diakonie wird nach dem kontroversen Aufschlag von Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie in der FAZ intensiv über den Umgang mit dem assistierten Suizid diskutiert (s. #LaTdH von letzter Woche). In den zeitzeichen unternimmt Michael Coors (@einwuerfe) den Versuch, die Intention der VerfasserInnen des FAZ-Beitrags zu verstehen und unterschiedliche Alternativen einer zukünftigen Praxis zu erklären.

Außerdem erschien am gleichen Ort ein Artikel von Thomas Mäule, der aus seiner praktisch-diakonischen Perspektive einen Beitrag zur Debatte leistet. Keinen sinnvollen Beitrag zur Debatte leistete ebenda der Bochumer Professor für Ethik und Fundamentaltheologie Günter Thomas, der es sich mit seiner 32-„Thesen“-Entblößung offenbar zum Ziel gesetzt hat, den rhetorischen Blingbling von Ralf „Fuck you G.“ Frisch von vergangener Woche noch zu toppen.

Auf die Konsequenzen einer Neuorientierung in dieser Frage für die ökumenische Zusammenarbeit weist Benjamin Lassiwe (@lassiwe) in einem Kommentar für den Weser-Kurier hin.

Der katholische Präsident

Unter der Woche habe ich in der Eule mit Rückgriff auf Aaron Sorkins Fernsehserie „The West Wing“ über die Herausforderungen geschrieben, die sich Joe Biden als zweitem (dritten) katholischen Präsidenten der USA stellen. Über das Katholischsein und die Katholizität Bidens hat Massimo Faggioli (@MassimoFaggioli) ein aktuelles Buch geschrieben, das Christoph Strack (@Strack_C) von der Deutschen Welle bespricht:

Das Buch ist kein wissenschaftliches Werk, aber wissenschaftlich mit Quellenangaben geschrieben. Und es ist eine regelrecht packende Analyse der religiösen Situation in den USA und der Stimmung im US-Katholizismus. Faggioli sieht Teile der katholischen Kirche in der ältesten Demokratie der Welt in den Fundamentalismus abrutschen – und eine Reihe von US-Bischöfen im offensiven Kurs gegen Papst Franziskus. Und er spricht von einem beginnenden „Schisma“, einem „Kulturkrieg“ gegen die Moderne.

In der ZEIT-Beilage Christ & Welt erklärt James Martin (@JamesMartinSJ) Teile des US-amerikanischen röm.-kath. Episkopats für mitverantwortlich am Sturm auf das Kapitol.

Die US-Bischofskonferenz ist tief zerstritten. Ihr Vorsitzender wollte Biden zur Amtseinführung mit einem kulturkämpferischen Schreiben „beglückwünschen“, in dem er ihm Vorhaltungen vor allem in Sachen Abtreibung macht. Dagegen intervenierte kurzfristig der Vatikan. Papst Franziskus veröffentlichte eine wohlwollende Grußadresse. Der interne Streit über die Grußadresse der Bischofskonferenz wurde öffentlich gemacht – auch von Bischöfen, die ihren Dissens mit der Leitung der Bischofskonferenz dokumentiert wissen wollten.

Köln

Im Erzbistum Köln wurde eine Sondersitzung zur Bistumsreform abgesagt, die an diesem Wochenende hätte stattfinden sollen. Die Angst vor dem Feedback der Gläubigen sitzt den Verantwortlichen tief in den Knochen. Derweil hat die Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl angeboten, das vom Erzbistum zurückgehaltene Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen auf eigene Verantwortung nur auf der Website der Kanzlei zu veröffentlichen. Das Angebot wurde vom Erzbistum zurückgewiesen. Und dann wäre da noch die Posse um Weihbischof Ansgar Puff und seinen halben Nazivergleich gegenüber der Presse.

Buntes

„Manche Bischöfe haben nicht einmal geantwortet“ – Interview mit Regina Schwenke (Rheinische Post)

In der Rheinischen Post wird die Missbrauchsbetroffene Regina Schwenke interviewt, die trotz allem Leid, das sie in der Kirche erfahren hat, an ihrem Glauben festhalten hat können. Sie beschreibt die institutionellen Hürden im Kampf um Anerkennung, aber vor allem weht einen in ihren Schilderungen wieder die Kälte der mächtigen Männer an:

Manche Bischöfe haben auf meine Briefe ja nicht einmal geantwortet – geschweige denn sich entschuldigt. Ist es denn so schwer zu sagen: Es tut uns in der Seele leid, was Ihnen passiert ist? Diese Worte wären mehrt wert als vieles andere.

Regina Schwenke ist inzwischen 82 Jahre alt. Für viele Missbrauchsbetroffene läuft die Zeit langsam ab.

Theologinnen wissenschaftlich und medial benachteiligt (KNA, katholisch.de)

Eine Grazer Studie, die den Frauenanteil in Fachpublikationen, Zeitschriften und bei akademischen Vorträgen im deutschsprachigen Raum untersucht hat, zeigt, dass katholische Theologinnen im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen wissenschaftlich wie medial deutlich benachteiligt sind.

Die einzelnen theologischen Disziplinen weisen teils erhebliche Unterschiede auf: Lag der Anteil der Referentinnen in der Religionspädagogik bei 35 Prozent, so betrug er im Fach Neues Testament 15 Prozent. Sieben von zehn untersuchten Arbeitsgemeinschaften kamen bei Jahrestagungen ganz ohne vortragende Frauen aus.

Theologie

„Die soziale Dynamik des Islams ist unbestritten“ – Interview mit Detlef Pollack (IslamiQ)

Im Interview bei IslamiQ spricht der Religionssoziologe Detlef Pollack, der noch zu DDR-Zeiten Theologie in Leipzig studierte und mit einer Arbeit über die Religionstheorie Niklas Luhmanns promoviert wurde (Sachen gibt’s!), über die Ähnlichkeiten zwischen muslimischer und christlicher Religiosität und die unterschiedliche Wahrnehmung des gesellschaftlichen Potentials beider Religionen:

Das Christentum wird in Deutschland tatsächlich oft als eine Religion wahrgenommen, die stark integrativ wirkt, in ihre kulturelle Umwelt eingebettet ist und von der nur wenige politische Impulse ausgehen. Beim Islam ist das anders. Ihm trauen die Menschen ein beachtliches Gestaltungs- und Veränderungspotenzial zu. Der Islam ist öffentlich sichtbar wie kaum eine andere Religion, er übt eine starke politische Wirkung aus. Seine soziale Dynamik ist in der Öffentlichkeit unbestritten. Die Frage lautet also wohl: Wie lassen sich seine radikalisierenden Tendenzen einschränken?

Kommentar zum Text: Einführung in die analytische Koranhermeneutik – Hakan Turan (andalusian.de)

Ein Stück islamische Theologie präsentiert der Ludwigsburger Physik und Religionslehrer Hakan Turan auf seinem Blog. Darin geht es um das analytische Verstehen des Korans, das er an drei Beispielen durchführt, die auch für die Islam-Debatten in Deutschland immer wieder von großer Bedeutung sind: Krieg und Frieden, das Verhältnis von Mann und Frau sowie das Verhältnis zu Juden und Christen.

Predigt

Die Zuschauer:innen der Inauguration Joe Bidens zum US-Präsidenten konnten leicht den Eindruck gewinnen, statt einem staatlichen Zeremoniell nicht nur einer zivil-religiösen Feier (s. #LaTdH vom 10. Januar), sondern einem Gottesdienst beizuwohnen.

Da waren die Invokation von Rev. Leo O’Donovan mit zahlreichen theologischen Bezügen, u.a. auf Papst Franziskus, die Musikeinlagen der Katholikinnen Jennifer Lopez und Lady Gaga, die Antrittsrede des neuen Präsidenten selbst, die vor religiösen Motiven strotze, einen bemerkenswerten Moment der Einkehr und Besinnung auf die Toten der Corona-Pandemie enthielt und vom katholischen Glauben Bidens Zeugnis ablegte. Ein zweites Gebet sprach der methodistische Pastor Rev. Silvester Beaman.

The Hill We Climb: The Amanda Gorman Poem (The Guardian, englisch)

Und dann trug die junge Dichterin Amanda Gorman (@TheAmandaGorman) einen poetischen Text vor, wie es seit einiger Zeit bei Inaugurations-Feierlichkeiten üblich ist. Ihr Text und ihr Auftritt begeisterten Menschen weltweit. Der Guardian dokumentiert ihren Auftritt in Video und Wortlaut.

Ein guter Satz

„Let the globe, if nothing else, say this is true:
That even as we grieved, we grew.
That even as we hurt, we hoped.
That even as we tired, we tried.“

– Amanda Gorman