„Gott schützt diejenigen, die glauben“: Corona und die Evangelikalen in Brasilien
Brasilien unter dem evangelikalen Präsidenten Jair Bolsonaro ist besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen. Dabei spielen evangelikale Kirchen eine unrühmliche Rolle.
Ein Frisör oder Schönheitssalon, ein kleiner Supermarkt und dann, auf den ersten Blick gar nicht als solche zu erkennen, eine Kirche. Erst beim näheren Hinsehen fällt auch, dass Kreuze, Tauben und Schriftzüge für den nächsten Gottesdienst und nicht für den Kauf irgendwelcher Produkte werben. Dieses Bild wiederholt sich Tausendfach in brasilianischen Vorstädten und in den vergangenen Jahren sind immer mehr evangelikale Kirchen hinzugekommen. An beinahe jeder Ecke findet man nun die kleinen Kirchen. Von außen wirken sie oftmals eher wie Lagerhallen, innen stehen Reihen aus schlichten Plastikstühlen. Vorne steht ein Altar, fast immer gibt es eine Klimaanlage.
Solche Kirchen ziehen Millionen Gläubige im ganzen Land an. Rund 30 Prozent der Brasilianer:innen bezeichnen sich selbst als evangelikal. Die Tendenz ist steigend. „Der Einfluss von evangelikalen Gemeinden nimmt in Brasilien seit den 1980ern stark zu. Inzwischen haben sie immer mehr Entscheidungsmacht in den Parlamenten“, erklärt Andrea Dip. „Die katholische Kirche hingegen verliert zunehmen an Macht“. Dip ist Journalistin und hat ein Buch über die Macht von evangelikalen Gemeinden in Brasilien geschrieben. Zwar bezeichnen sich zurzeit noch rund 50 Prozent der Brasilianer:innen als katholisch, vor zehn Jahren waren es aber noch rund 64 Prozent.
Volle Hallen trotz Corona
In der Pandemie spielen gerade die evangelikalen Gemeinden eine kontroverse Rolle: Viele Gottesdienste sind trotz des Virus gut gefüllt. Während aktuell immer noch an vielen Tagen 2000 Menschen an den Folgen einer Covid-Erkrankung sterben, wollen die Kirchen nicht auf Präsenzveranstaltungen verzichten. „Gott schützt das Leben von denjenigen, die glauben“, predigte dazu beispielweise ein Priester in einer Gemeinde der Assembleia de Deus.
Zwar gilt in den meisten Gotteshäusern inzwischen Maskenpflicht, andere Vorkehrungen werden aber kaum getroffen. Im Gegenteil: Priester forderten die Gläubigen sogar dazu auf, damit aufzuhören Nachrichten zum Virus zu konsumieren und sich aus Angst vom Besuch von Gottesdiensten abhalten zu lassen. Möglich sind diese Gottesdienste ohne echtes Hygienekonzept auch wegen politischer Untätigkeit: Zwar versuchen einzelne Politiker:innen immer wieder Präsenzgottesdienste einzuschränken, aber Präsident Jair Bolsonaro steht hinter den evangelikalen Gemeinden.
Inzwischen kennt eigentlich jede Brasilianer:in jemanden, der oder die an Covid-19 gestorben ist. Kein Wunder, denn die Pandemie forderte dort schon über eine halbe Million Todesopfer. Obwohl die Fallzahlen nach wie vor hoch sind, gibt es inzwischen etwas Hoffnung: Die Impfkampagne kommt gut voran, jede:r Dritte hat zumindest schon eine Impfung erhalten. Rund 12 Prozent der Bevölkerung sind bereits vollständig geimpft.
Gleichzeitig wird in vielen evangelikalen Gemeinden eine große Desinformationskampagne gegen die Impfungen gefahren: Ein Priester behauptete beispielsweise, die Impfung verursache Krebs und habe HIV in sich. Bei vielen Anhänger:innen scheint das aber nicht mehr anzukommen. Nach einer Umfrage wollen sich nur 14 Prozent der evangelikalen Brasilianer:innen nicht impfen lassen.
Politische Agenda
Diese Performance ist unter anderem möglich, weil in den letzten Jahren auch die politische Macht der Evangelikalen zugenommen hat. Marcello Crivella, ehemaliger Bürgermeister von Rio de Janeiro, ist ein Beispiel dafür. Bevor er seine politische Karriere richtig startete, war er evangelikaler Pastor und Gospelsänger. Aber auch auf der Bundesebene im Parlament wächst der Einfluss:
Rund 200 von insgesamt 513 Abgeordneten im brasilianischen Abgeordnetenhaus und Senat gehören evangelikalen Glaubensgemeinschaften an. Die meisten von ihnen sitzen für rechte oder rechtsextreme Parteien im Parlament und stimmen von dort aus für Gesetze gegen die Rechte von Frauen und Minderheiten oder unterstützen Initiativen zur Missionierung von indigenen Völkern. Immer wieder wird auch die Forderung laut, die Ehe für alle in Brasilien wieder abzuschaffen.
Zwar sind die unterschiedlichen evangelikalen Kirchen sehr unterschiedlich, aber trotzdem teilen sie eine konservative politische Grundhaltung eng gekoppelt an gemeinsame Moralvorstellungen: Sie wollen dafür sorgen, dass die „traditionelle, brasilianische Familie“ und „christliche Werte“ erhalten bleiben. Damit stellen sie sich in Brasilien besonders klar gegen feministische und LGBTIQ-Bewegungen, aber auch gegen viele antirassistische Initiativen.
Die aktuelle Familienministerin Damares Alves steht dafür exemplarisch wie kaum eine andere: Sie wünscht sich ein Brasilien, in dem „Mädchen wieder rosa und Jungen wieder blau“ tragen und ist konsequente Abtreibungsgegnerin. Manchmal bleibt es allerdings auch nicht bei diesen Aussagen: Sie und andere Politiker:innen versuchen beispielweise immer wieder aktiv Einfluss auf den Schulunterricht zu nehmen und so zu verhindern, dass dort Inhalte, die Rollenbilder hinterfragen, gelehrt werden.
Geld und Größenwahn
Um zu verstehen, wie die evangelikalen Gemeinden in Brasilien an so viel Macht gelangen konnten, lohnt sich ein genauerer Blick auf die Kirchen und ihre Organisation: Am bekanntesten und einflussreichsten sind die beiden Mega-Kirchen Assembleia de Deus und Igreja Universal do Reino de Deus (Universal Kirche des Gottesreichs). Beide Kirchen werden von weißen Männern geführt.
Rund sieben Millionen Mitglieder hat nach eigenen Angaben die Igreja Universal do Reino de Deus. Wie viele genau lässt sich nicht sagen, um ihr anzugehören braucht es nicht unbedingt eine Taufe oder ähnliches. Sie wird von dem charismatischen Pastor Edir Macedo geführt, dem gehört auch Brasiliens zweitgrößte Mediengruppe Record mit verschiedenen Fernsehsendern und Zeitungen.
Macedo ist eine der mächtigen Schlüsselfiguren der Evangelikalen in Brasilien. Sein Vermögen wird auf mehrere Milliarden US-Dollar geschätzt, ein Teil davon kommt aus den Spenden der Gläubigen. Immer wieder gab es in den vergangen Jahren Anzeigen gegen ihn, unter anderem wegen Steuerbetrug und dem Handel mit adoptierten Kindern. Sein Einfluss konnte ihn bisher aber vor einer Verurteilung bewahren.
Jemand wie Edir Macedo gibt sich auch nicht nur mit Kirchen zufrieden, die aussehen wie Lagerhallen. In São Paulo baute die Igreja Universal darum auch mit „Templo de Salomão“ eine „exakte Replik“ von Salomons Tempel aus Jerusalem, so wie er im alten Testament beschrieben wird. 2014 wurde das Projekt fertiggestellt, neben einem chaotischen Kleiderbasar und einem alten Bahnhof prangt nun in der Millionenstadt dieser Prachtbau. Neben dem Tempel können die bis zu 400 000 Gläubigen pro Monat auch den „biblischen Garten“ mit Olivenbäumen genießen, der den Garten Getsemani nachempfindet.
Zwar ohne Salomons Tempel dafür aber mit riesigen modernen Bauten aus Glas und Stahl, zeigt auch die Assembleia de Deus (Versammlung Gottes) Präsenz im ganzen Land. Führender Kopf ist dort der Pastor Silas Malafaia. Für ihn ist Homosexualität Sünde, Abtreibung gleichzusetzen mit Mord, aber Korruption bei Priestern ist in Ordnung. Wenn er predigt, wird er oft politisch. Seine Gegner:innen werfen ihm Hassrede vor. Er ist einer von Brasiliens berühmtesten Fernsehpredigern und erreicht so regelmäßig ein großes Publikum. Außerdem ist er Multi-Millionär und unterstützt die Regierung von Jair Bolsonaro.
Kirche statt Sozialstaat
Dass Kirchen, die von Männern wie Malafaia oder Macedo angeführt werden, gerade auch bei der ärmeren Bevölkerung so viel Zuspruch bekommen, hat unterschiedliche Gründe. In vielen Favela übernehmen sie Aufgaben, die der brasilianische Sozialstaat nicht erledigt: „Sie haben klimatisierte Räume, es gibt ein Fußballteam für Kinder und man ist Teil einer Gemeinschaft“, erklärt Dip.
Ein großer Teil der Anhänger:innen der evangelikalen Gemeinden ist of Color, weiblich und lebt in einem Haushalt mit niedrigen Einkommen. Aber arme Menschen sind nicht die einzigen, die sich von evangelikalen gut vertreten fühlen. Sie erhalten auch viel Unterstützung aus der Mittel- und Oberschicht. Grund dafür ist laut Dip unter anderem die sogenannte „Theologie des Wohlstands“ nach der es Gläubigen auch finanziell besonders gut gehe. Wer an Gott glaubt, der hat auch beruflich und finanziell Erfolg, so die Theorie. Figuren wie Macedo oder Malafaia scheinen das zu bestätigen.
Zusätzlich positionieren sich viele der evangelikalen Gemeinden in Brasiliens Favelas als eine Alternative zu Drogen und Verbrechen, versprechen Erlösung, aber auch viel handfester einen Ausweg aus der Armut. Für viele junge Menschen ist das attraktiv.
Auch wenn die evangelikalen Kirchen so durchaus wichtige Aufgaben übernehmen, Andrea Dip beobachtet ihre wachsende Macht mit zunehmender Sorge. Präsident Jair Bolsonaro hatte zuletzt angekündigt einen Evangelikalen zum Vorsitzenden von Brasiliens oberstem Gerichtshof zu machen. „Das wäre fatal“, sagt die Journalistin. Ein evangelikaler Richter in dieser Position könnte dafür sorgen, dass viele Gerichtsentscheidungen in Brasilien in Zukunft deutlich konservativer ausfallen.
Darüber machen sich viele Brasilianer:innen zurzeit eher weniger Gedanken. Priorität hat die Bekämpfung des Coronavirus. Ein großer Teil der Bevölkerung wird noch Monate auf die erste Impfung warten müssen. Währenddessen fliegen die ersten wohlhabenderen Menschen für den begehrten Piecks in die Vereinigten Staaten. Darunter auch einige Führungsfiguren der evangelikalen Kirchen:
Edir Macedo beispielsweise lies sich bereits im März in Miami impfen. Ganz wollte er seine Gesundheit wohl doch nicht von seinem Glauben abhängig machen.