Evangelische Momente – Was bleibt nach der Reformationsdekade?
Mit dem 500. Reformationsjubiläum gehen zehn Jahre Beschäftigung mit der Reformation zu Ende. Wie hat sich die Kirche verändert? Was heißt es heute lutherisch zu sein?
Protestanten haben es eilig. Schon seit Monaten läuft die Bilanz des Reformationsjubiläums, die in der Woche vor dem großen Feiertag noch einmal besonders eifrig gezogen wird. Und nach wie vor erscheinen in großen Medien Beiträge, die sich mit der schillernden Figur des Reformators beschäftigen – nach dem Motto: „Was sie bestimmt noch nicht von Luther wussten …“.
Enough already? Habt ihr noch nicht genug?
Alles in allem also alles beim Alten: Die Kritik am Festbetrieb dreht sich im Kreis, die immer gleichen Argumente werden zirkuliert. So sehr, dass manche gute Entwicklung und gelungene Veranstaltung unter ihnen fast begraben werden.
Am Beispiel Wittenberg lässt sich das schön zeigen: Zwar ist die Weltausstellung, was die Besucherzahl angeht, weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben, rechnet man aber Asisi-Panorama und Avantgarde-Ausstellung zum allseitsbeliebten „Reformationssommer“ zusammen, passt es. Zu dieser Vermengung hat der Reformationsverein erheblich beigetragen, um die ein oder andere Flaute schön aussehen zu lassen.
Fakt ist aber auch: An den Lutherstätten stapelten sich dieses Jahr die Gäste. Dass die Besucher lieber in die Kirchen (!) statt manchem Event auf den Leim gingen, kann doch als ermutigendes Zeichen gelten.
So richtig dämlich waren – vong Kräftehaushalt her – eigentlich nur die parallel zum großen Kirchentag in Berlin und Wittenberg stattfindenden „Kirchentage auf dem Weg“. Und hätte die Weltausstellung in Wittenberg statt im Sommer im Herbst um das tatsächliche Jubiläum herum stattgefunden, wer weiß?
Doch genug der großen Highlights! Auf denen lag – von den Organisatoren beabsichtig! – enormer Fokus. Klar, dass so auch mancher Misserfolg erhebliche Aufmerksamkeit fand. Demgegenüber wurde über das Jubiläum in der Provinz wesentlich weniger berichtet, obwohl dort – in der Peripherie – das Herz dieses Jubiläums schlug.
Was M. Schuetz in seinem etwas eklektischen Beitrag in der Freitag-Community alles zusammengetragen hat, stimmt ja. Zwischen all den Luther-Memorabilia und dem Schund, mit dem sich nicht zuletzt Verlage am Jubiläum gütlich getan haben, sind immer wieder auch Perlen zu finden.
Prominenten-Testimonials gehören allerdings – was hat er sich dabei nur gedacht? – bestimmt nicht dazu. Die dem deutschen Protestantismus liebgewordene Tradition, sich von Zelebritäten die eigene Bedeutung bestätigen zu lassen, darf nach dem Jubiläum bitte endgültig verschwinden. Das Pantheon von Frauke Ludowig, Gundula Gause, Petra Gerster bis hin zum unvermeidlichen Eckhart von Hirschhausen bezeugt vor allem die ganz, ganz große Koalition des kulturellen Protestantismus hierzulande.
Für die Evangelen kann jeder sprechen und sich – nicht zuletzt aus dem Jubiläumsangebot – herauspicken, was einem gerade schön in den Kram passt. Doch was war eigentlich wirklich das Thema?
Geübte Kritik
Die Gretchenfrage nach der Bedeutung der Reformation für unsere Zeit, auch sie ist durchbuchstabiert, ausgeweidet, eingegrenzt. Das haben wir vor allem der Riege der – fast ausschließlich männlichen, ältlichen und akademischen – Kritiker aus „den eigenen Reihen“ zu verdanken. Unbeschadet ihrer eigenen Beteiligung und Verantwortung haben sie es nicht unterlassen, am Programm und Inhalt des Jubiläums und der ihm vorausgegangenen Reformationsdekade herumzukritteln, bis auch noch der letzten Beobachterin klar sein muss: Alles Mist!
Doch halt: Die gewohnt pfiffige und mit dem Rückhalt des Feuilletons vorgetragenen Kulturkritik ist für sich schon über-protestantisch. Hier täte manchem Kritiker eine Prise Selbstreflexion gut. Die weitgehende Ablehnung des Jubiläums durch die theologische Wissenschaft ist selbst eine Frucht eben ihrer Freiheit und diese wiederum eine Langzeitwirkung der Reformation. Dass gealterten Barden gerne und ausführlich zugehört wird, geht ebenfalls schon auf die Person Luthers zurück.
Überall Gewinner
Sieht man die Kritik einmal als originären Beitrag zum protestantischen Jubiläumsgeschäft, gibt es nach zehn Jahren Reformationsdekade nur Gewinner. Wir haben uns über die Rolle der Frau in der Reformation verständigt. Wir haben uns einmal durch die Reformationsgeschichte und ihre vielfältigen Wirkungen auf Kultur und Politik gewühlt. Die FAZ hat Seite um Seite mit Lutherkritik vollgedruckt, zehn glückliche Jahre für jeden Kirchen- und Kulturredakteur liegen hinter uns. Und auch und besonders die Schattenseiten des Reformators wurden bis zum Überdruss besprochen. Danke, es reicht!
Die Frage der nach der Bedeutung des Reformationsgeschehens, nach der Reformation ist durch. Was heißt evangelisch sein, gar lutherisch? Wie sieht eine reformatorische Kirche im Präsens aus? Durch-buchstabiert, durch-geleiert, durch-diskutiert – doch unbeantwortet.
Evangelische Momente
Wir blicken auf ein Reformations-Jahrzehnt zurück. Während sich die evangelische Kirche mit ihrer Geschichte, Martin Luther und ein bisschen Ökumene beschäftigte, hat sich die Welt rasant weitergedreht.
Zum Reformationstag werde ich mit jungen Studenten eine Andacht halten. Als „wir“ mit dem Jubiläum anfingen, sind manche von ihnen gerade der Grundschule entwachsen. Von den Konfirmanden, die in diesem Jahr zu Tausenden nach Wittenberg pilgerten, waren einige 2007 wahrscheinlich noch nicht mal trocken. Von den hunderttausenden evangelischen Christen nicht zu sprechen, die während der Reformationsdekade aus ihrem irdischen Leben abberufen wurden.
Die Kirche hat sich in diesen zehn Jahren massiv verändert. Sie ist älter, kleiner und deutlich verzagter geworden. Umso mehr, desto näher der Fixpunkt 31. Oktober 2017 rückte. Wie weiter? Was kommt nach dem großen Knall?
Aber die Kirche ist vielerorts auch mutiger, schlanker, digitaler und offener geworden. Wer hinschaut, der kann sehen: Kirche zieht, wenn sie sich nicht in Reenactments von Thesenanschlägen an Kirchentüren ergeht, sondern dieselbigen weit aufstößt.
Aus dem letzten Kirchenjahrzehnt bleiben vor allem zwei evangelische Momente, die keinen direkten Bezug zum Jubiläum haben, doch jeder für sich zeigen, was es heute heißt reformatorisch zu glauben.
Du kannst nicht tiefer fallen
Der Rücktritt Margot Käßmanns von Bischofsamt und Ratsvorsitz sticht nach wie vor als ein solch evangelischer Moment heraus. Er ist aus mehreren Perspektiven bedeutsam. Zuerst einmal trat eine Frau von ihren kirchlichen Leitungsämtern zurück. Das hätten nur wenige Männer mit so viel Stil zu Wege gebracht. Doch durften sich nicht die vielen Kritiker aus der Ökumene und den „eigenen Reihen“ bestätigt fühlen: „Eine Frau kann das nicht!“
Nein, Käßmanns Vorhandensein als Bischöfin und ihr Rücktritt vom Amt haben gerade gezeigt, was sich Kirchen entgehen lassen, die auf die Frauenordination verzichten. Im letzten Jahrzehnt ist die evangelische Kirche weiblicher geworden, auch wenn ihre bekannteste Kirchenfürstin kein Bischofsamt mehr inne hat.
Ihre Sichtbarkeit hat sicher dazu beigetragen, dass viele junge Frauen sich ein Leben und Arbeiten in der Kirche gut vorstellen können. Die Frauenordination selbst gehört zu den nicht-intendierten Folgen der Reformation. Bloß, weil’s anno 1517 nicht so gedacht war, muss es ja nicht schlecht sein. Dass Käßmann ihr bekanntes Gesicht als Botschafterin des Reformationsjubiläums zu Verfügung gestellt hat, darf als Glücksfall gelten.
Als evangelischer Moment bleibt ihr damaliger Rücktritt aber vor allem deshalb in Erinnerung, weil es ihr gelang, ihr Scheitern öffentlich in den Kontext des eigenen Glaubens einzuordnen. Ihr – geliehenes – Diktum „Du kannst nicht tiefer fallen als in Gottes Hand“, mag Kritiker manchesmal zu Spott oder zumindest Stirnrunzeln angeregt haben (mea culpa ..), es bleibt aber stehen als öffentliches Zeugnis eines vor dem eigenen Gewissen verantworteten Glaubenslebens.
Die Einheit von Bekenntnis und Tat
Ihr Diktum ist in seiner unausgesprochenen Aufnahme des lutherischen simul iustus et peccator vor allem in Tateinheit mit ihrem Rücktritt wirksam. Das unzweifelhaft Klebrige des Sprüchleins erweist sich in Kombination mit der eigenen Verantwortungsübernahme als gültig. Sich nicht verbiegen oder erpressbar machen zu lassen, zu eigenen Fehlern zu stehen und sich der eigenen Erlösungsbedürftigkeit bewusst zu sein – das ist alles gut evangelisch. Das haben die Menschen damals gemerkt: da steht eine zu ihrer Predigt.
Fast schon ironisch ist es, dass von Jahrzehnten der öffentlichen und auch schriftstellerischen Wirksamkeit Käßmanns vielleicht dereinst das übrig bleiben wird. Ironisch ja, aber nicht bedauernswert. In Margot Käßmann hat der deutsche Protestantismus im Februar 2010 ein glaubwürdiges Gesicht bekommen.
Der zweite herausstechende evangelische Moment der zurückliegenden Dekade ist das millionenfache Engagement evangelischer Christen in der Flüchtlingshilfe seit dem Sommer 2015. Es ist einfach so: Auch hier sticht die Einheit von Bekenntnis und Tat sofort ins Auge, wird das Handeln der Kirche glaubhaft.
Es ist darum gut evangelisch, weil aufs Neue deutlich wurde, wer eigentlich Kirche ist. Gut evangelisch auch, weil die Synoden und Kirchenleitungen dem Engagement des Kirchenvolkes folgten und die örtliche Hilfe immer wieder durch öffentliche und politische Stellungnahmen stützen. Gut evangelisch, weil im Engagement für die Geflüchteten deutlich wurde, wozu Ökumene eigentlich da ist und was sie so wichtig macht. Evangelisch vor allem, weil hier der Bezug zum Evangelium, zur Guten Nachricht so deutlich wurde wie kaum irgendwann sonst in den letzten zehn Jahren.
Christen sind auch heute noch Getriebene des Evangeliums. Selbst unsere allzu konsensorientierte und rundgelutschte Kirche kann es noch: kompromisslos und unmissverständlich an der guten Sache festhalten. Das ist notwendig und folgerichtig. Es ist auch – ich gebe es zu – ein klein wenig erhebend.
Eine Antwort auf dem Weg
Diese evangelischen Momente können knapp vor dem großen Fest vielleicht doch so etwas wie eine Antwort auf die Gretchenfragen des Reformationsjubiläums geben: Was heißt es heute, Protestant und evangelische Christin zu sein? Wie sieht reformatorische Kirche aus?
Es heißt heute (wie damals): Am Reich Gottes bauen, die Bibel unterm Arm, die Hände frei zum Helfen. Sich der eigenen Vorläufigkeit und Grenzen gewahr zu sein, Verantwortung für sich und andere zu übernehmen. Die Kargheit des Glaubens auszuhalten und zu Zeiten derben, lutherischen Pathos nicht zu scheuen.
Wir können auch heute fu*** Lutheraner sein, die aufstampfen, nicht klein beigeben, zum Glauben stehen und die Konsequenzen daraus tragen. Die evangelische Kirche kann in aller Schwäche und Kargheit eine Macht des Heils sein, wenn sie ihre Kraft von dem hernimmt, der ihr eigentlicher Grund ist.