BücherFest: Übers Meer
Mit Büchern kann man auf Reisen gehen, ohne den eigenen Lesesessel zu verlassen: Heike Stöcklein fährt mit uns übers Meer und entdeckt die Zerbrechlichkeit der Schöpfung.
Fernweh nach dem großen Abenteuer
Schiffe machen mir sofort Fernweh. Da kann ich mir nicht helfen. Da geht es durch mit den wild-romantische Vorstellungen von Freiheit, der offenen See, unendlichen Möglichkeiten, unentdeckten Landschaften, die kein Mensch je sah. Von der Schifffahrt an sich habe ich keinerlei Ahnung; Bug und Heck kann ich noch ausmachen, Backbord und Steuerbord auch. Und den Unterschied zwischen Segelschiff und Binnenschiff sehe ich wohl. Aber da hört das eigentliche Wissen auch schon auf.
Stattdessen setzt bei mir große, dilettantische Begeisterung für alles Nautische ein – das wunderbare Wort „dilettantisch“ trifft dabei den Nagel auf den Kopf, besonders in seiner Wortbedeutung: von lateinisch delectari „sich erfreuen“, „sich ergötzen“, nicht wie heute oft genutzt als Synonym für stümperhaft. Ich erfreue mich an Sätzen wie diesem: „Planen wurden abgenommen, Lampen entzündet, Schuten herbeigerudert, Masten getakelt, Rahen montiert, Segel angeschlagen.“ (Erebus, S. 32)
Das Monty-Python-Mitglied – theologisch Vorgebildeten als lispelnder Pontius Pilatus bekannt – Michael Palin schreibt noch weitere klangvolle Sätze in seinem jüngsten Buch, das kaum in eine Kategorie eingeordnet werden kann. Es ist keine historische Abhandlung, aber herausragend recherchiert. Es ist kein Roman, aber die auftretenden Personen zeichnet Palin so lebendig vor das innere Auge, das ihre Schicksale mich berühren. Was ist es nun also?
Inhaltlich ist es ein Buch, das die Geschichte der „HMS Erebus“ nachzeichnet, einem der wichtigsten Forschungsschiffe des späten 19. Jahrhunderts. Die Erebus dringt auf einer ersten Forschungsreise weiter in das Südpolarmeer vor als es bis dahin je ein Schiff getan hat. Auf einer Expedition, in der sich die Schiffsleute weder auf GPS oder Google-Maps verlassen konnten, waren sie an Orten unterwegs, die auch heute in ihrer extremen Kälte lebensfeindlich sind.
1844 bricht das Schiff dann zur sogenannten Franklin-Expedition auf. Der britische Polarforscher Sir John Franklin wollte mit der Mannschaft die Nordwestpassage erstmals vollständig durchsegeln, kartografieren und so einen kürzeren Seeweg von Europa nach Asien finden. Die Expedition scheiterte, alle Beteiligten starben im kanadisch-arktischen Archipel. Doch erst 2014 wurde das Wrack gefunden – was Palin zum Anlass nahm, seine Recherche zu beginnen.
Mit spürbarer Lust am Formulieren und einer feinen sprachlichen Übersetzung in das Deutsche nimmt Palin mich als Leserin mit in eine Zeit, in der die Erforschung, Entdeckung und Vermessung der Welt Hochkonjunktur hatte. Er schreibt eindrücklich von den unvorstellbaren Strapazen, die derartige Expeditionen mit sich brachten, erzählt aber auch von den einmaligen Naturschönheiten, die es zu entdecken gab. Dabei zeiht Palin die vorliegenden Quellen heran und hat die Gabe, sie so einzubinden, dass sie nicht bloß alte Schriftstücke bleiben, sondern wirklich zu erzählen beginnen.
Palins Witz und seine eigene Begeisterung für das Schicksal der „Erebus“ machen die Lektüre zu einem wahren Fest. Dabei erlaubt er sich auch immer wieder sanft-kritische Töne, beispielsweise wenn es um den Nationalismus des 19. Jahrhunderts geht, der auch vor der Naturwissenschaft keinen Halt gemacht hat, sogar noch heute zu spüren ist.
„Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See“ von Michael Palin darf bei Abenteuerfreunden und Entdeckerlektürefans diesen Winter nicht fehlen – was gibt es an einem grauen Wintertag besseres als in See zu stechen, Stürme auf den Polarmeeren zu bestehen, die Wanten hochzuklettern und dabei gemütlich zuhause eingekuschelt zu sein?!
Michael Palin:
Erebus. Ein Schiff, zwei Fahrten und das weltweit größte Rätsel auf See
Übersetzt von Rudolf Mast
Goldmann
464 Seiten
28 € (gebunden), 14 € Taschenbuch (September 2021)
Logbuch über die Schönheit und Zerbrechlichkeit der Schöpfung
Ein Logbuch ist ja eigentlich nur ein Tagebuch, das auf einem Schiff geschrieben wird. Tagebücher lesen hat immer den Hauch des Verbotenen, eigentlich liest man nicht die intimen Gedanken einer anderen Person. Logbücher hingegen haben eine gewisse Öffentlichkeit. Markus Rex, der Expeditionsleiter der „Polarstern“ hat so eine Art Mischung aus beidem geschrieben. Und das Ergebnis ist mehr als lesenswert – und man lernt sogar noch etwas dabei!
Die „Polarstern“ ist ein als Eisbrecher ausgelegtes Forschungsschiff und ausgestattet mit der feinsten Technik, die die man sich als Naturwissenschaftler:in nur vorstellen kann. Das Schiff wird vom Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) betrieben und ist den Großteil des Jahres in der Arktis oder Antarktis unterwegs. Seit 1982 ist das Schiff in Dienst und hat auf mehr als einhundert Expeditionen in den Polarmeeren Daten gesammelt.
Im September 2019 begann die größte Arktisexpedition unserer Zeit: MOSAiC (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate). Die „Polarstern“ ließ sich ein Jahr lang durch die Arktis treiben, festgefroren im Eis, angetrieben allein von der natürlichen Eisdrift. Ein logistisches Großunternehmen, das durch den Ausbruch der Corona-Pandemie zusätzlich erschwert wurde. Mehr als 400 internationale Wissenschaftler:innen und Crewmitglieder arbeiteten und lebten auf dem Schiff, waren für unterschiedliche Expeditionsabschnitte an Bord und gingen ihrer Forschung nach.
Markus Rex hat als Expeditionsleiter den Überblick und als Autor die Gabe, spannend und verständlich von dieser fremden Polarwelt zu schreiben. Eindrücklich beschreibt er die Strapazen und Herausforderungen, die auf solch einer Expedition auftreten können. Und es wird deutlich: Auch die modernste Technik kommt angesichts der extremen Arktisumgebung an ihre Grenzen.
Gänsehaut lösen die Einsichten über die Folgen des Klimawandels aus, die Rex erklärt: Die immer dünnere Eisschicht der Arktis und große Gebiete, die gar nicht mehr vollständig zufrieren. Veränderungen der Eisschichten und der Meeresströmungen, deren weltumfassende Auswirkungen bereits zu spüren sind.
Das Logbuch von der „Polarstern“ führt die atemberaubende Schönheit und Zerbrechlichkeit der Schöpfung vor Augen. Und zeigt ohne moralischen Zeigefinger, wie verbunden die Ökosysteme unserer Erde miteinander sind. Die Logbucheinträge werden ergänzt einerseits durch Infotexte, die prägnant und verständlich wissenschaftliche Inhalte zusammenfassen, andererseits durch Farbfotos, die Einblicke in eine uns fremde Welt ermöglichen.
(Wem Lesen zu umständlich ist: Die Expedition der Polarstern wurde auch durch ein Filmteam begleitet, die Dokumentation wurde in der ARD ausgestrahlt und steht in der Mediathek zur Verfügung.)
Markus Rex:
Eingefroren am Nordpol. Das Logbuch von der „Polarstern“
C. Bertelsmann
320 Seiten
28 €
„BücherFest“: Eine Woche für das Buch
Wir lesen, um uns und die Welt besser zu verstehen, um gut unterhalten zu werden, um etwas zu lernen. Von Roger Willemsen stammt der Satz: „Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.“ So wollen wir uns am Ende des Jahres bewusst den Büchern und der Literatur zuwenden – kompakt verdichtet in einer Kalenderwoche. Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest stellen Eule-Autor:innen Euch lohnenswerte Lektüren vor – oder raten dringend ab.