Holz klauen, Habitus checken, herrlich sein
Essays, Poesie und einen Roman empfiehlt Marie-Christin Janssen Leser:innen, die nach anspruchsvoller Unterhaltung, schöner Sprache oder einem guten Geschenk suchen.
Wie ein selbstgeklautes Bett
Martina Hefter erkundet in ihrem Gedichtband „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen“ die Sprache, ihren Rhythmus, ihre Lust am Spiel, ihre Formen ebenso wie sie die Wälder erkundet. Wer hier aber eine wie auch immer geartete erbauliche Naturlyrik erwartet, sollte bereits beim Titel aufmerken. Denn obwohl die Texte den Wald in seiner Beschaffenheit schätzen, stehen die Zweige, stehen die Pilze immer in Beziehung zum Menschen und das heißt: sie durchleuchten den Wald in seinen Erzeugnissen und deren Konsumieren, Genießen, Verweigern seiner Kulturprodukte durch Menschen.
Die fünf Abschnitte des Bandes („Essays über Pflanzen“, „Flammen“, „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen“, „Linn Meier (†2019)“, „Geistern“) bieten eine Mischung aus Gedicht, lyrischem Essay und szenischem Schreiben. In ihnen durchwandert Martina Hefter etwa den Leipziger Auwald. Hier lebt Artemis Cynthia Moll in einem Baumhaus, hält Falken (obwohl sie im Internet nur Kursangebote von Neonazis fand) und trifft auf eine Gruppe Geflüchteter aus der Stadt, die ihre Utopien zur Klimarettung umsetzen wollen.
Der als Sage bezeichnete Abschnitt „Flammen“ fragt zudem, ob die antike My-thengestalt Artemis emanzipatorisches Potential in sich birgt, etwa in ihren Attributen Kampfkunst und Asexualität. Der innere Monolog Linn Meiers wiederum stellt die Gedanken einer magersüchtigen Jugendlichen und ihre späteren Erfahrungen sexueller Gewalt dar, die euphorischen Momente des Hungerns, ebenso wie die eigene Einordnung über „drängendere“ Welthungerprobleme. Programmatisch beinah:
„Mein Körper, auch ein Naturdings / Ich hatte Macht darüber, so viel war nun klar / Ich ging hinaus in die Natur“.
Im titelgebenden Essay „In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen“ liegt eine Mutter in dem klapprigen Ikea-Bett ihrer erwachsenen Tochter und sinniert über Produktionsbedingungen in der Holzbranche, hiesige Lebensstandards und Askese, also genauer: den Verzicht und inwiefern er eine Chance zum ressourceschonenden Lebensstil sein könnte.
Das besondere an den Texten ist auf der inhaltlichen Ebene, dass sie nicht belehrend daherkommen. Vielmehr bricht das lyrische Ich heiter, absurd, mitunter morbide mit den Anforderungen, die es an sich selbst stellt:
„Wie säh sie aus, die nützliche Askese? … Nur noch Haferflocken essen. / Kapitalismus aufessen, Hunger abschaffen, Wälder reparieren, Bäume schützen. / Kein neues Bett kaufen, auf dem Fußboden schlafen.“
Der letzte Abschnitt „Geistern“ gibt dem Unsichtbaren, was Mensch und Wald, Mensch und Brot, Mensch und Gedanke verbindet, eine Gestalt und ist gerade darin auch das verbindende Element des ganzen Bandes.
Wer Martina Hefters Sprache kennt, kann sich auch in diesem Gedichtband auf den Rhythmus freuen, der die Worte wie eine Choreografie zum Tanz arrangiert und eben darin auch die Lust am bewegten, zum Körper gehörenden und Körper werdenden Sprachspiel erklingen lässt. Möchte man sich den Gedichten der Performancekünstlerin ganz aussetzen, sollte man sie unbedingt laut sprechen, sich selbst vorlesen, vorlesen lassen. Dann kann man sich kaum mehr ihrer Lust entziehen.
Als Geschenk eignet sich das Buch erst recht wegen der Gestaltung, welche die kook-books generell auszeichnet. Der Einband kehrt in seiner minimalistischen Ästhetik gerdezu das Ikea-Bett an die Oberfläche und liegt mit seinen festen Umschlagseiten wie ein selbstgeklautes Brett in der Hand.
Martina Hefter:
In die Wälder gehen, Holz für ein Bett klauen
kookbooks
96 Seiten
19,90 €
Performen, zweifeln, Tricks
Arbeiterkind. Bildungsaufsteiger*in. Hochstapler*in. Wer in einem Umfeld aufwächst, das sich nicht durch seine „höheren“ Bildungsabschlüsse auszeichnet, wer dann studiert oder gar promoviert, mag sich selbst mit solchen Labeln versehen. Doch wie fühlt, lebt, denkt es sich zwischen Herkunftsmilieu und aktueller Lebenssituation? Und gibt es viel-leicht passendere Begriffe für eine wertfreie Selbstbeschreibung?
Diesem Thema gehen die zunächst digitalen Projekte „check your habitus“ und dessen Fortsetzung „Soll & Habitus“ nach. 18 bzw. 15 Autor*innen haben sich im März bzw. im September diesen Jahres online getroffen; jeden Tag schrieben drei von ihnen einen Beitrag zu einem Unterthema wie performen, zweifeln oder auch Tricks. Sie befragen sich selbst. Ihren Habitus. Habitus bezeichnet die sich meist unbewusst in Körper und Hirn eingeschrieben Klassenregeln und Klassenverhältnisse: Wie spreche ich? Wie gestikuliere ich? Was gefällt mir? Und, im Rahmen von „Soll & Habitus“ besonders: Wie ist mein Verhältnis zu Geld?
Statt von einem Aufstieg zu sprechen, bevorzugen die Projekte den Begriff „Milieuwechsel“ oder „Klassenübergang“, später auch transclasse. Das poetische Bewusstmachen von verinnerlichten Glaubenssätzen, den Gefühlen von Scham, Trauer, Verrat und der Hochstapelei geschieht feinsinnig, im Gespräch, mit klaren und um Verständnis ringenden Worten. So schreibt etwa Anna Schapiro:
„Ich bin davon überzeugt, dass andere grundsätzlich mehr wissen als ich. … Ihr Wissen ist von selbst in sie gedrungen, sie mussten es nicht erst lernen oder nachschlagen, es war schon immer da.“
Oder Heike Geißler von ihrem Umgang mit Nicht-Wissen:
„Ich denke manchmal, mein immer so sehr auf Mithalten und Scheinwahren getrimmtes Hirn rächt sich mit den kleinen Black-outs für all meine Versuche mitzuhalten.“
Die Texte sind radikal ehrlich, pointiert und erschaffen mit der Vielzahl von Stimmen einen intensiven Klangraum. Sie entwickeln eine fast soghafte Wirkung gerade durch die Kürze der Texte. Und mit den bearbeiteten Glaubenssätzen starke Flächen zur Identifikation, die eine unmittelbare Nähe aufbauen und eine Selbstreflexion in Gang setzen.
Die beiden bei sukultur erschienenen Bändchen, die das Onlineprojekt auf Papier festhalten, eignen sich also als perfektes kleines Geschenk für alle, die sich mit ihrer eigenen Herkunft befassen wollen oder an einer Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex interessiert sind. Die Beiträge bieten zudem eine erstaunliche Ergänzung zu den autofiktionalen Behandlungen des Stoffes, die seit Annie Ernaux in den späten 1970er-Jahren in Frankreich eine wahrhafte Welle darstellten. Und die spätestens mit der Übersetzung der „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon (Suhrkamp 2016) nach Deutschland überschwappten.
Wer also doch lieber zum Roman greift oder sich thematisch vertiefen möchte, dem*der seien in der deutschsprachigen Literatur etwa die neueren humorvollen Bearbeitungen von Christian Baron „Ein Mann seiner Klasse“ (Ullstein 2020) oder Timon Karl Kaleyta „Die Geschichte eines einfachen Mannes“ (Piper 2021) empfohlen.
Daniela Dröscher, Paula Fürstenberg (Hgg.):
check your habitus (SL 191)
sukultur, Mai 2021, 4 €
Daniela Dröscher, Paula Fürstenberg (Hgg.):
Soll & Habitus (SL 195)
sukultur, Oktober 2021, 3 €
Mit Beiträgen von Senthuran Varatharajah, Shida Bazyar, Heike Geißler, Maria Milisa-vljević u.a.
„Wie fragt man, wenn man nicht genau weiß, wonach?“
„Im Menschen muss alles herrlich sein“ nimmt uns mit in zwei Familien: in eine Kindheit in der Sowjetunion während der 1960er-Jahre, nach Berlin und in Jenaer Plattenbauten 2017 und in die Entscheidungen und Beziehungen, die dazwischenliegen. Der Roman begleitet vier Frauen, genauer: zwei Mütter und ihre Töchter, Lena und Edi, Tatjana und Nina, bei ihren Entwicklungen, den individuellen sowie den zwischenmenschlichen. Dabei verhandelt er geschickt, wie zuweilen traumatische Erfahrungen des politischen Umbruchs sich transgenerational auswirken.
Die Erzählung beginnt mit Lena, mit der wir recht chronologisch auf ihrem Weg von der Sowjetunion nach Jena unterwegs sind. Im zweiten Teil des Buches verschränken sich die Erzählperspektiven der vier Frauen: So sind wir mal mit Lenas Tochter Edi in Berlin, dann mit Lenas bester Freundin Tatjana und Edi im Auto, oder mit Tatjanas Tochter Nina in Beziehungsproblemen. Die unter allem liegende Frage, die der Roman in konkrete Bilder übersetzt, spricht Edi einmal aus: „Wie fragt man, wenn man nicht genau weiß, wonach?“
Gleich im ersten Teil schaffen plastische Szenen eine Fläche, die – würde sie intergenerationell thematisiert werden – das Verschweigen einer verlorenen Vergangenheit aufheben und damit den Prozess der Selbstidentifizierung vorantreiben könnte. „Ich kann diesen Mist von Tschechow nicht mehr hören. Bei jeder verdammten Gelegenheit zitieren diese Zurückgebliebenen aus Onkel Wanja“, sagt ein Kollege von Lena, nachdem ein Chefarzt mit dem Zitat „Im Menschen muss alles herrlich sein – das Gesicht, die Kleidung, die Seele und das, was er denkt“ seine Belegschaft zu einem selbstsicheren und schicken Auftreten anhält.
Im Kontext einer zuvor geschilderten gängigen Korruptionspraxis und dem Verbergen von persönlichen Gefühlen kommt diese Szene – wie so viele in diesem Buch – äußerst ironisch daher. Doch ironisch, ohne verurteilend zu sein. Eher wird ein Zwiespalt deutlich, in dem sich die Figuren immer bewegen, weil die Form von Zuhause, von Kindheit, von „Heimat“ nicht mehr so existiert, wie sie sie kannten. Weil sie herkömmliche Rollenbilder hinterfragen und dem Zusammenleben der Religionen, insbesondere der jüdischen und christlichen Glaubenspraxis reflektiert Raum geben.
Das Buch erzählt vom Reiben an herkömmlichen Autoritäten, dem anstrengenden Weg, etwas Eigenes etablieren zu wollen und der Liebe zu dem, was sich zum Beispiel mit dem Wort Pelmeni verbinden lässt. Das Leben in der Sowjetunion, das Auswandern und Neuankommen erleben Lena, Tatjana, Edi und Nina dabei auf so eigenwillige Weise, dass nicht die Gefahr des Klischeehaften droht. Vielmehr bieten eine sinnliche Sprache und souveräne Vergleiche nahegehende Bilder, die das Erzählte miterleben lassen.
Hier fällt zudem auf, dass die Autor:in als Dramatiker:in wirkt: Stark sind besonders auch die spielerischen Dialoge, das Szenische und die glaubhafte Vielperspektivität, die den Roman zu einer „einfühlsamen und schonungslosen Mentalitätsstudie“ (Eugen El, Jüdische Allgemeine) machen. Das Buch, das zurecht auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand, eignet sich für alle, die sich gerne in verwickelte Familiengeschichten mitnehmen lassen, aber auch für Leser*innen, die sich mit der „Fleischwolfzeit“ der Perestroika, mit ihren Vor- und Nachentwicklungen auf psychologische Weise auseinandersetzen möchten.
Sasha Marianna Salzmann:
Im Menschen muss alles herrlich sein
Suhrkamp
384 Seiten
24 € (Hardcover), 20,99 (eBook)
„BücherFest“: Eine Woche für das Buch
Wir lesen, um uns und die Welt besser zu verstehen, um gut unterhalten zu werden, um etwas zu lernen. Von Roger Willemsen stammt der Satz: „Das Leben kann man nicht verlängern, aber wir können es verdichten.“ So wollen wir uns am Ende des Jahres bewusst den Büchern und der Literatur zuwenden – kompakt verdichtet in einer Kalenderwoche.
In der Woche vom 2. bis zum 3. Advent wollen wir Euch in der Eule Sachbücher, schöne Literatur und Schmöker vorstellen. Zwischen den aktuellen Kirchen- und Religionsnachrichten, Recherchen, Interviews und Podcasts finden inzwischen nur noch selten „klassische“ Rezensionen Platz in unserem Magazin. Rechtzeitig vor dem Weihnachtsfest stellen Eule-Autor:innen Euch lohnenswerte Lektüren vor – oder raten dringend ab.
Unter allen Eule-Abonnent:innen verlosen wir in dieser Woche ein Exemplar von Fabian Vogts „Die Zehn Gebote für Neugierige“ (Evangelische Verlagsanstalt). An der Verlosung nehmen alle Menschen teil, die bis einschließlich 11. Dezember 2021 ein Eule-Abo abgeschlossen haben.
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