Zur (Ver-)Klärung der Schuldfrage
Schuld, Umkehr, Versöhnung: Daniel Vorpahl über biblische Lichtgestalten und die innerjüdische Rezeption ihrer Schattenseiten.
Für Schuld gibt es im Tanach keinen einheitlichen theologischen Begriff. Je nachdem ob von juristischer Haftbarkeit, sozialer Verantwortlichkeit oder kultischen Versäumnissen die Rede ist, kommen unterschiedliche Vokabeln zum Einsatz, die als Bestandteile eines komplexen biblischen Sündenkonzepts gelten können. Doch soll es im Folgenden nicht vorrangig um die Schuld des Menschen gegenüber Gott gehen und ebenso wenig um deren materielle Schuld untereinander.
Was mich hier im Spannungsfeld zwischen Schuld und Vergebung beschäftigt, ist vielmehr der zwischenmenschliche Umgang mit moralischer Schuld, welche auch zentrale Traditionsfiguren der Bibel auf sich laden. Bereits zwischen dem ersten Geschwisterpaar der Menschheit kommt es zum Mord aus Eifersucht (Gen 4) und sogar der wichtigste jüdische Prophet, Moses, erschlägt einen Menschen und muss deshalb aus Ägypten fliehen (Ex 2).
Gerade in ihren Erzählhandlungen dokumentiert die Hebräische Bibel menschliche Entwicklungsprozesse zwischen egoistischem Impulshandeln und sozialethischer Rücksichtnahme, was sich besonders eindrücklich entlang der Entwicklung sämtlicher Geschwistergeschichten im Buch Bereschit (Genesis) ersehen lässt. Aufgrund ihrer starken Präsenz im Rest der Tora werden aber – insbesondere außerhalb der jüdischen Tradition – vor allem die göttlichen Gebote als maßgebliche moralische Institution aufgefasst.
Zum einen liegt dies gewiss an der Bekanntheit der prägnanten sozialethischen Gebote des Dekalogs (du sollst nicht töten, … nicht ehebrechen, … nicht stehlen etc.). Zum anderen dürfte es der christlich gefärbten Auffassung des Judentums als sogenannte ‚Gesetzesreligion‘ geschuldet sein, wenn mitunter aus dem Blickfeld gerät, dass das Gebot der Nächstenliebe aus dem jüdischen Heiligkeitsgesetz des Buches Wajjikra (Lev 19) stammt und die göttliche Gesetzgebung des Tanach von zahlreichen Erzählungen soziallethischer Dilemmata umsäumt ist.
Auf zwei solcher Erzählungen und den traditionsgeschichtlichen Umgang mit ihren schuldigen Hauptfiguren will ich hier zu sprechen kommen. Dabei müssen wir berücksichtigen, dass die biblischen Stammeltern, Prophet*innen oder Könige für ihre jüdische Rezipient*innen eben nicht nur literarische Typen waren, sondern ikonische Gestalten einer identitätsstiftenden Traditionsgeschichte. Dieses Bewusstsein macht den Umgang mit einem betrügerischen Stammvater oder einem intriganten und über Leichen gehenden König zur besonderen Herausforderung. Die Rede ist von Jakob, dem Urvater der zwölf Stämme Israels, sowie David, dem größten Herrscher der jüdischen Antike und Namensgeber des Davidsterns, der bis heute als religiöses, kulturelles und politisches Symbol jüdischer Identität fungiert.
Jakob: Vergeben und vergessen?
Von Jakob berichtet das Buch Bereschit, wie er sich dem eigenen Vater gegenüber als sein Bruder Esau ausgibt und durch offensives Lügen dessen Erstgeborenensegen erlangt, maßgeblich unterstützt durch seine Mutter Rebekka (Gen 27). Dass Jakob dennoch Gottes Verheißungen empfängt und zum finalen Patriarchen der Zwölf Stämme Israels wird, liegt nicht zuletzt daran, dass sich Esau durch die Heirat zweier kanaanäischer Frauen bereits als Stammvater Israels disqualifiziert hat und zudem als Jäger keine solide Versorgungsgrundlage bietet.
Beides ändert aber nichts an der individuellen Schuld Jakobs, Vater und Bruder betrogen zu haben, weswegen er vor der Rache seines Bruders ins Ausland fliehen und Jahre später den Konflikt mit ihm beilegen muss, um in das von Gott verheißene Land zurückkehren zu können.
Die Figuren biblischer Erzählungen sind in der Regel allenfalls indirekt mit charakterlicher Tiefe gestaltet. Jakob ist einer der wenigen Charaktere des Buches Bereschit, entlang dessen Geschichte auch eine Persönlichkeitsentwicklung auszumachen ist. Dennoch lässt sich ein individuelles Gewissen, das Jakobs Schuld sichtbar thematisieren würde, kaum identifizieren. Die biblische Erzählliteratur operiert diesbezüglich nur mit wenigen Anspielungen, etwa als Jakobs Bestreben, Leas jüngere Schwester Rahel zu heiraten, von deren Vater mit der Absage quittiert wird: „Man tut das in unserem Ort nicht, die Jüngere vor der Erstgeborenen zu geben“ (Gen 29,26). Jakob, der einst seinen erstgeborenen Bruder um dessen Segen gebracht hat, dient daraufhin weitere sieben Jahre bei seinem Onkel, um auch Rahel heiraten zu dürfen.
Aufmerksam Lesende dürften dies durchaus als Individualstrafe Jakobs im Erstgeburtsrechtsstreit mit seinem Bruder Esau auffassen. Expliziter tritt Jakobs Schuldbewusstsein in Erscheinung, als er dem Wiedersehen mit Esau angstvoll entgegenblickt und deshalb wertvolle Geschenke an seinen Bruder vorausschickt, um diesen zu besänftigen. An einer Stelle nennt Jakob diese Geschenke sogar seinen Segen (Gen 33,11), was die Lesart eines Täter-Opfer-Ausgleichs bestätigt.
Die Wiederbegegnung der Brüder verläuft nur dem ersten Augenschein nach versöhnlich (Gen 33). Esau zeigt sich in keiner Weise nachtragend, sondern will die Geschwisterbeziehung zukunftsorientiert gestalten. Jakob jedoch möchte sich vor allem der Gunst seines Bruders vergewissern, womöglich auch um sein Gewissen zu beruhigen. Zugleich betont Jakob die ihm zuteil gewordene Gnade Gottes und entwindet sich mit diversen Ausreden der Gesellschaft Esaus, bis die Zwei auf getrennten Wegen auseinandergehen. Jakobs Schuld auf familiärer Ebene scheint dabei eher vergessen als vergeben. Im Hinblick auf seine Gottesbeziehung als Stammvater Israel ist diese Schuld gar nicht erst relevant. Doch innerhalb der jüdischen Traditionsgeschichte bleibt sie ein schwer vermittelbares kulturelles Erbe.
Wie der Stammvater von seiner Schuld entlastet wird
Im innerjüdischen Rezeptionsdiskurs etablierten sich daher früh narrative Strategien der Bewältigung, die dann über Jahrhunderte weitertradiert wurden. Eine dieser Strategien besteht darin, Esau, das Opfer von Jakobs Betrug, moralisch abzuwerten: Von jeher habe sich Esau laut rabbinischen Überlieferungen dem Götzendienst und einem frevelhaften Lebenswandel hingegeben, während sich Jakob dem Studium der Tora gewidmet haben soll (BerR 63,4-8). Selbst bezüglich des Wiedersehens der Geschwister verlautbaren antike Interpretationen, Esau habe bei der Umarmung mit Jakob versucht, diesen zu beißen (BerR 78,9). Auslegung und Ausgestaltung des Bibeltextes vermitteln an diesen Stellen eine moralische Täter-Opfer-Umkehr.
Ein anderer Umgang mit Jakobs Betrugsschuld findet sich bereits im 2. Jahrhundert v. d. Z. im sogenannten Jubiläenbuch, wo der rechnerisch noch lebendige Großvater der Geschwister in die Geschichte deren Konflikts eingebunden wird. Demnach habe der traditionell als tadellos geltende Abraham seinen Enkel Jakob noch selbst gesegnet (Jub 21,1 u. 22,11) und auch Rebekkas Bestrebungen gegen Esau unterstützt, da dessen Makel die Zukunft der Sippe gefährdet hätten.
Dieser Erzählkniff erreicht zweierlei: Zum einen wird Jakobs Schuld betontermaßen auf mehrere Gleichgesinnte umverteilt und somit ein Stück weit relativiert. Zum anderen führt die Legitimation durch Abraham dazu, dass Rebekkas Rolle einer patriarchalen Struktur untergeordnet und weniger eigenständig erscheint. Als treibende Kraft hinter Jakobs Segensaneignung fungiert im Jubiläenbuch Abraham, dessen traditionsgeschichtliches Ansehen den Betrug als nahezu notwendig autorisiert.
Diese und weitere Neuerzählungen des biblischen Geschwisterkonflikts betonen die traditionsgeschichtliche Relevanz Jakobs als Vater der zwölf Stämme Israels und Esaus mangelnde Eignung für diese Rolle. Beides wiegt theologisch schwerer als Jakobs moralische Schuld. Deren narrative Relativierungen in der nachbiblischen Literatur dokumentieren jedoch eine anhaltende traditionsgeschichtliche Auseinandersetzung mit einem Dilemma, das mindestens diejenigen umtrieb, für die Jakob als Stammvater eine personale Bezugsgröße der eigenen Identität darstellte.
David: Ein Schuldfleck im Leben des idealisierten Königs
Einen ähnlich hohen Status innerhalb der jüdischen Traditionsgeschichte nimmt der im Tanach als idealtypisch dargestellte König David ein. Im Buch Schmuel heißt es über ihn, dass er sich zu Kriegszeiten als zufälliger Voyeur in die badende Batscheba verguckt, die Ehefrau seines Soldaten Urija (2Sam 11–12). In Kenntnis ihrer Identität lässt David sie zu sich bringen und hat Sex mit ihr, über dessen Einvernehmlichkeit der Bibeltext schweigt. Als Batscheba schwanger wird, beordert David den betrogenen Ehemann für einen Fronturlaub nach Hause, in der augenscheinlichen Absicht, Urija würde dort mit seiner Frau schlafen und das später geborene Kind für sein eigenes halten.
Doch Urija weigert sich, angesichts des Kriegsgeschehens den Heimaturlaub anzutreten. Daraufhin gibt David den Befehl, Urija dort an die Front zu schicken, wo er gewiss getötet wird und nimmt sich nach dessen Tod Batscheba zur Frau. Noch bevor ihr gemeinsames Kind geboren ist, sendet Gott den Propheten Nathan, der König David durch ein Gleichnis dessen eigene Schuld vor Augen führt, die dieser schließlich als Sünde gegen Gott eingesteht. Gott straft daraufhin David, indem sein von Batscheba geborenes Kind erkrankt und stirbt.
Die durch die europäische Kunstgeschichte hindurch gern rezipierte Darstellung Davids und Batschebas lässt für gewöhnlich keinerlei Auseinandersetzung damit erkennen, dass vor allem Batscheba zum Opfer des moralischen Fehlverhaltens Davids wird. Als Objekt seiner Begierde wird sie ihm zugeführt, verliert dann auf seinen Befehl hin ihren Ehemann und gebiert schließlich ein Kind, dessen baldiger Tod als Strafe Davids fungiert. Dessen Schuld wird vor Gott benannt, eingestanden und gestraft, doch von einer Vergebung spricht der Bibeltext nicht. Davids Vergehen bleibt ein dunkler Schuldfleck auf der Biographie des idealisierten Königs und damit erneut eine Herausforderung für die antike jüdische Erzähltradition nach der Bibel.
Wie aus einem Täter ein leuchtendes Vorbild wird
Diese setzt zum Teil offensiv bei eben jener Diskrepanz zwischen Davids überlieferungsgeschichtlicher Größe und individueller Schuld an. So findet sich im Babylonischen Talmud die Aussage, David sei zu einem solchen Vergehen gar nicht fähig gewesen (bAZ 4b). Denn wie sich anhand eines Bibelverses belegen lasse, war David in allem erfolgreich und hatte Gott auf seiner Seite (1Sam 18,4 in bShab 56a). Dass der Batscheba-Fall trotz dieser Unmöglichkeit in Davids Biographie überliefert ist, zeige daher nur, wie rigoros und umfänglich Davids Umkehr und Buße gewesen sein müssen. Letztlich fungiere er damit, laut Überlieferung des Babylonischen Talmuds, als Exempel für die unbedingte Möglichkeit der Buße (bAZ 5a).
Eine weitere Tradition berichtet mittels eines David zugeschriebenen Psalms (Ps 26,2), dass dieser zur Prüfung seiner eigenen Bedeutsamkeit Gott darum gebeten habe, ihn auf die Probe zu stellen (bSan 107a). Zum Zwecke dieser Prüfung sei Batscheba von Beginn an für David bestimmt gewesen, der seine als natürlich dargestellten Triebe nicht zurückgehalten habe, damit Gott obsiege und Recht behalte (bSan 107a). Dennoch habe David im Anschluss um Vergebung gebeten (bSan 107a) und sei auch bestraft worden (bYom 22b).
Die im Babylonischen Talmud überlieferten Traditionen deuten Davids Schuld also zum Mittel einer übergeordneten Zweckmäßigkeit um. Aus dem Täter wird gewissermaßen ein leuchtendes Vorbild der Resozialisierung, derweil seine Opfer Batscheba und Urija als Objekte innerhalb eines von Gott für David initiierten Lehrstücks erscheinen. Doch auch Relativierungen Davids Schuld werden überliefert: So sei Batscheba als Frau eines im Krieg Gefallenen rückwirkend rechtmäßig geschieden (bKet 9b), während der Tod Urijas dem schwertführenden Feind auf dem Schlachtfeld und nicht David vorzuwerfen sei (bShab 56a u. bQid 43a).
Der Blick auf die Opfer
Der traditionsgeschichtliche Umgang mit der individuellen Schuld biblischer Lichtgestalten wie David und Jakob reicht also von deren Umdeutung über eine moralische Täter-Opfer-Umkehr bis hin zur Schuldrelativierung und geht dabei nicht zuletzt mit der Etablierung bzw. Stärkung patriarchaler Machtstrukturen einher.
Was die Schuld selbst anbelangt, unabhängig davon wer sie trägt, gilt in der jüdischen Tradition nachhaltig das Prinzip der Umkehr: Die eigene Schuld ist kein unauslöschlicher Makel des Individuums, sondern kann durch Umkehr, Buße und auch Versöhnung überwunden werden, so dass jemand auch wieder als vollkommen rechtschaffen gelten kann. Diese Möglichkeit bietet nicht zuletzt alljährlich der Versöhnungstag Jom Kippur.
Idealisierte Traditionsfiguren wie Jakob oder David aber können sich nicht mit jenen Menschen aussöhnen, für die sie identitätsstiftende Relevanz haben. Es ist daher an der Auslegungstradition, deren individuelle Schuld zu ihrer traditionsgeschichtlichen Relevanz ins Verhältnis zu setzen bzw. aufzuzeigen, dass es ebenso relevant ist, dass jene Figuren einschließlich ihrer Schuld von Bedeutung sind.
Vorgehen und Argumentation der rabbinischen Traditionsliteratur bei der Entschuld(ig)ung Jakobs oder Davids sind aus heutiger Perspektive wiederum selbst aufschlussreich. Denn der kulturelle Wert und traditionsgeschichtliche Status jener biblischen Figuren sind heute hinlänglich etabliert, ihre individuelle Schuld Teil ihrer spannungsreichen Ambivalenz. Sie aus heutigem Moral- und Rechtverständnis zu verurteilen, ist ein Leichtes und hat doch keinen konstruktiven Mehrwert.
In der Auseinandersetzung mit ihrer Schuld und deren traditionsgeschichtlicher Verarbeitung, erscheint es heute vielmehr angebracht, den Blick auf deren Opfer zu richten und aus dem Umgang mit ihnen zu lernen. Denn gerade die nachbiblischen Aushandlungen der Schuld Jakobs oder Davids dienen immer auch einer strukturellen Stärkung männlicher Heroen zu Lasten weiblicher Nebenfiguren, wie Batscheba oder Rebekka.