Essay Trauer im Hiob-Buch

Ein trauernder Vater

Das Hiob-Buch lässt sich als Geschichte über die Trauer eines Vaters lesen, erklärt Anja Marschall. Gibt es ein Weiterleben nach schweren Verlusten?

Das Buch Hiob wird für gewöhnlich als Auseinandersetzung mit dem Problem verstanden, das man heute die Theodizee-Frage nennt: Warum lässt Gott das Leiden in der Welt zu? Dabei wird allerdings übersehen, dass es dem Protagonisten Hiob selbst keinesfalls nur um philosophische Fragen geht. Hiobs Worte zeigen die Trauer eines Vaters, der mit dem plötzlichen Tod seiner Kinder umgehen muss. Gibt man ihnen Raum, verwandelt sich das Buch Hiob plötzlich in eine Geschichte über Trauer, Protest und Verarbeitung nach unwiederbringlichem Verlust.

Sieben Söhne und drei Töchter verliert Hiob, als das Haus seines Erstgeborenen durch einen Sturm einstürzt. Auf die Nachricht, dass alle seine Kinder gestorben sind, reagiert er mit typischen Selbstminderungs- und Trennungsriten des Alten Orients, die den ganzen Körper in einen Ausdrucksraum der Trauer transformieren: Das Zerreißen des Gewands, das Scheren des Hauptes, das Niederknien auf der Erde (Hiob 1,20).

Dieser kulturell geprägte Ausdruck verkörpert die Emotionen des Verlusts und der Trauer mimisch, gestisch und sozial. Danach sagt der verwaiste Vater jedoch drei viel zitierte Sätze, die erstaunlich emotionslos erscheinen (Hiob 1,21): „Nackt bin ich aus meiner Mutter Leib gekommen, und nackt kehre ich dahin zurück. Gott hat gegeben und Gott hat genommen. Der Name Gottes sei gepriesen!“

Hiobs Äußerungen werden traditionell als Ausdruck festen Gott-Glaubens und tiefer Demut gedeutet. Sie können allerdings auch als psychische Schockreaktion verstanden werden, die bei plötzlichen Verlusten auftritt und die Hinterbliebenen emotional betäubt. Diese Taubheit hat eine schützende Funktion, indem sie für einige Zeit vor der emotionalen Konfrontation mit dem Geschehen und den damit verbundenen Schmerzen bewahrt.

So erscheint auch Hiob von dem überwältigenden Verlusten benommen zu sein. Auf den Tod seiner Kinder reagiert er zunächst auf die sozial von ihm erwarte Weise und führt die üblichen Trauerriten aus, durch die er seinen Verlust körperlich und sozial sichtbar macht. Doch innerlich ist er betäubt. Erst nach einiger Zeit, nach sieben Tagen des Schweigens mit seinen Freunden (Hiob 2,13), löst sich seine innere Starre. So bricht aus Hiob in Kapitel 3 sein Schmerz hervor: „Untergehen soll der Tag, an dem ich geboren wurde!“ (Hiob 3,2)

Trauer um Kinder im Alten Testament

Ob eine heute bekannte Trauerreaktion auch für einen antiken Text vorausgesetzt werden kann, entscheidet sich unter anderem daran, ob wir den Menschen, die vor hunderten und tausenden von Jahren lebten, tiefe Trauer beim Tod ihrer Nachkommen zutrauen. War die Kindersterblichkeit nicht ohnehin so hoch, dass man nicht mit dem Überleben aller Kinder rechnete? Tatsächlich können wir davon ausgehen, dass zur Zeit der Entstehung des Alten Testaments (und somit auch zur Zeit der Niederschrift dieser Hiobsgeschichte) etwa die Hälfte der Kinder im ersten Jahr nach der Geburt verstarb. Unter den Überlebenden ist der Tod durch Unfälle, Kriege, Krankheiten oder Gewalttaten bis zum 15. Lebensjahr nahezu ebenso wahrscheinlich.

Verschiedene alttestamentliche Texte belegen dennoch große Schmerzen der Eltern angesichts des Todes ihrer Nachkommen. Besonders plötzliche Tode von bereits älteren Kindern lösen heftige Trauerreaktionen aus. So überschneidet sich eine Erzählung aus dem zweiten Königebuch (2 Kön 4,18–37), in der eine Frau aus Schunem sehr betroffen auf den Tod ihres Sohnes reagiert, mit dem Verlust Hiobs in verschiedenen Punkten. Auch hier ist, ebenso wie in der Hioberzählung, das Alter des Verstorbenen unklar, er ist jedoch dem Kleinkindalter entwachsen.

Auch die Mutter in der Erzählung des zweiten Königebuchs leidet offenbar sehr am plötzlichen Tod ihres einzigen Sohnes, demgegenüber erscheint Hiobs Leiderfahrung aber sogar noch größer. Im Gegensatz zur Frau aus Schunem erhält Hiob keinerlei Vorwarnung und hat keine Zeit, bei den Sterbenden zu sein oder sich zu verabschieden. Außerdem verliert Hiob zehn Kinder, nicht nur eines, und damit alle seine Erben. Zudem wird auch all sein materielles Erbe zerstört. Er verliert alles und jeden außer seine Frau.

Der Verlust, den Hiob erfährt, ist somit zweifelsfrei groß und auch im alttestamentlichen Kontext ein emotional dramatischer Einschnitt. Doch gilt dies tatsächlich auch für Väter? Zeigen sich im Alten Testament in der Trauer um Kinder typische Genderrollen? Besonders aufschlussreich für diese Frage ist die Erzählung von Jakob, der in Genesis 37,33–35 den plötzlichen Tod eines Sohnes verarbeiten muss. Obwohl Jakob im Gegensatz zu Hiob nicht alle seine Kinder verliert, sondern nur eines, leidet er so sehr, dass er mit ihm sterben möchte. Die übrigen Söhne sind sich einige Jahre später sogar sicher, dass er es nicht ertragen, sondern tatsächlich sterben würde, wenn er nun auch den zweiten Sohn seiner Lieblingsfrau verlöre (Gen 44,22).

Offenbar gab es keine Genderzuschreibungen im Alten Israel, die Frauen auf Emotionalität und Männer auf Kontrolliertheit festlegten. Keiner der alttestamentlichen Texte nimmt Anstoß daran, dass die Väter emotional um ihre Kinder trauern – so emotional gar, dass sie ersehnen, ihnen in den Tod nachzufolgen. Auch Hiob geht zunächst davon aus, ebenfalls bald zu sterben und leidet schließlich daran, dies nicht zu können. Dies geht aus seiner Erwartung hervor, nackt in den Mutterschoß (die Erde) zurückzukehren (Hiob 1,21) und wird umso deutlicher in seinem Wunsch, nie geboren worden zu sein (Hiob 3,11), der schließlich in der Bitte mündet, endlich sterben dürfen: „Ich will nicht ewig leben! Lass ab von mir!“ (Hiob 7,16)

Die Todessehnsucht eines hinterbliebenen Elternteils, wie sie Hiob und Jakob äußern, ist auch der modernen Psychologie bekannt. Jedoch nicht nur als Wunsch zur Nachfolge in den Tod, der bis zum Suizid führen kann, sondern auch als eine physische Tendenz zur Morbidität. Verschiedene Studien legen einen sprunghaften Anstieg von natürlichen Sterbefällen der Eltern nach einem Todesfall ihrer Kinder nahe. Die Trauer scheint vor allem Eltern mit mangelnder sozialer Unterstützung körperlich dem Tod näher zu bringen. Hinzu kommt, dass Eltern, die ihre Kinder aufgrund gewaltsamer oder unerwarteter Todesumstände verlieren, oftmals eine sog. komplizierte Trauer erfahren, die intensiv, langanhaltend und gesundheitsbeeinträchtigend ist.

Auch Hiobs und Jakobs Nähe zum Tod sind Ausdruck einer typischen, sehr realen Trauererfahrung. Gleiches gilt für Hiobs konkrete körperliche Leiden. Den Humanwissenschaften ist heute bekannt, dass der Verlust eines Kindes zu verschiedenen physischen Störungen führen kann, zu denen beispielsweise Appetitlosigkeit (vgl. Hiob 6,6), Schlaflosigkeit (vgl. Hiob 7,4) und Hautausschlag (vgl. Hiob 7,5) zählen.

Die Frage „Ist Gott gerecht?“ als Trauerreaktion

Das Alte Testament zeigt zwar körperliche und emotionale Auswirkungen von Trauer sowie soziale Gesten und Riten, aber wenig gedankliche Verarbeitung von Verlusten. Zur sog. kognitiven Verarbeitung würden Fragen nach dem Sinn, dem Warum und Wozu des Todes geliebter Menschen zählen. Nachgewiesenermaßen ist die kognitive Trauerreaktion nicht in allen Kulturen gleichermaßen verbreitet. Der alttestamentliche Textbefund legt nahe, dass sie kein typisches Element alt-israelitischer Verlustbewältigung darstellt.

Dieser Umstand erhellt, warum die modernen Ausleger und Auslegerinnen des Hiobbuches meist keine kognitive Trauerarbeit in den Reden Hiobs feststellen: Sie entspricht, zumindest in narrativen Texten, nicht dem Erwartbaren. Allerdings handelt sich beim sog. Hiob-Dialog, im Gegensatz zu Pro- und Epilog, nicht um einen narrativen Text. Der Kern des Hiobbuches ist auf einzigartige Weise in Weisheitsdichtung und Klageform verfasst und bildet in poetischer Sprache die Gefühle und Gedanken Hiobs ab. So hinterfragt die Klage in Kap 7 exemplarisch Gottes Absichten mit den Menschen (Hiob 7,17.20):

„Was ist der Mensch, dass du ihn großziehst und dein Herz auf ihn richtest? (…)

Wenn ich gesündigt habe, was kann ich dir antun, du Wächter der Menschen? Warum machst du mich zur Zielscheibe für dich?“

Hiob bearbeitet seine persönliche Leid-Erfahrung in seinen Reden durch gedankliche Auseinandersetzung. Daher liegt nahe, dass auch seine Trauer kognitiv-reflektierenden Ausdruck findet. Der Ausnahmecharakter dieser Trauerarbeit erklärt wiederum, warum Hiobs Freunde mit ihm in Streit über seinen Umgang mit seinem Leiden geraten: Die Freunde, Elifas, Bildad und Zofar, nehmen sehr deutlich wahr, dass Hiobs theologisches Hinterfragen der Gerechtigkeit Gottes mit der kognitiven Verarbeitung der Trauer um seine Kinder verbunden ist.

Der zweite mit Hiob sprechende Freund, Bildad, deutet Hiobs Anklage aus. Er führt sie auf Hiobs Schmerz über den Verlust der Kinder zurück. Bildad geht außerdem davon aus, dass die Kinder durch Gott vernichtet wurden, weil sie gesündigt haben:

„Beugt etwa Gott das Recht, oder beugt der Allmächtige die Gerechtigkeit? Weil deine Söhne gegen ihn gesündigt haben, lieferte er sie ihrer Übertretung aus.“ (Hiob 8,3f.)

Das Großziehen des Menschen und Anvisieren als Zielscheibe lässt sich somit mit Bildad nicht nur auf Hiob selbst beziehen, sondern auch auf Hiobs Kinder, die unter Gottes Anvisiert-Werden längst zugrunde gegangen sind. Aus Bildads Sicht ist für Hiob bereits mit dem nicht nachvollziehbaren Ergehen seiner Kinder Gottes Gerechtigkeit fraglich geworden.

Die göttliche Gerechtigkeit erscheint als Schlüssel zur kognitiven Verarbeitung der Verlusterfahrung Hiobs, ist sie doch die Weltordnung, auf der alles beruht und der Wille, der alles Ergehen, auch den vorzeitigen Tod Unschuldiger, bedingt. Diese Gerechtigkeit Gottes ist Hiob sowohl unverständlich als auch unberechenbar geworden. So nimmt er auch in den folgenden Reden wiederholt Bezug auf Gottes verstörendes Handeln, seine eigene Machtlosigkeit Gott gegenüber und seine Verzweiflung angesichts dieser Umstände.

„Siehe, er rafft dahin, und wer will ihn hindern? Wer kann zu ihm sagen: Was tust du? (…) Es ist eins! Darum sage ich: Den Rechtschaffenen wie den Gottlosen vernichtet er. Wenn die Geißel plötzlich tötet, so spottet er über die Verzweiflung Unschuldiger.“ (Hiob 9,12.22f.)

Diese Einschätzung kann Hiob kaum auf sich selbst als Dahingerafften oder Vernichteten beziehen, da er entgegen seiner eigenen Todessehnsucht noch am Leben ist. Plötzlich getötet wurden andere. Hiob ist der Verzweifelte, der unschuldig zurückbleibt.

Derart verzweifelt Zurückbleibende können nach dem US-amerikanischen Psychiater Robert Jay Lifton als survivor figure eingeordnet werden: Ein solcher survivor (dt. „Überlebender“) ist jemand, der in Kontakt mit dem Tod gekommen und am Leben geblieben ist. Dabei benennt Lifton verschiedene psychologische Muster, die unter diesen Überlebenden auftreten. Die erklären sowohl Hiobs verletzliche Todesnähe („death imprint“) als auch seinen Unwillen angesichts des Todes seiner Kinder weiterzuleben („death guilt“).

Die Tatsache, dass Hiob nie die wahre Ursache seines Ergehens erfährt, entspricht ebenfalls der Erfahrung Traumatisierter. Wenn Hiob immer wieder nach Gottes Gerechtigkeit und dem Grund und Ziel der Geschehnisse fragt, kämpft er auf protestierende Weise mit dem Zerbrechen der Weltordnung, der Gemeinschaft und der persönlichen Gottesbeziehung. Lifton beschreibt, dass Überlebende von Katastrophen, vor allem wenn sie nahe Angehörige verloren haben, zwischen Trauer und Protest hin und her gerissen sind. Hiobs Worte sind der Protest eines typischen Überlebenden, der alles verloren hat, außer sein eigenes Leben. Dabei nimmt Hiob Gott als Verantwortlichen ins Visier. Sowohl eine angemessene Schuldzuweisung, sofern es Schuldige zu benennen gibt, als auch eine gewisse Wut gegenüber dem Schuldigen bestimmt Lifton als wichtige kognitive Elemente der Trauer.

Die Reaktion der Freunde: Unverständnis

Für diese Trauer bringen Hiobs Freunde kein Verständnis auf. Vielmehr versuchen sie, die Schwere von Hiobs Verlust zu relativieren und bewerten implizit Hiobs Trauerverhalten als überzogen. Der von Freunden oder Familie vermittelte Eindruck, die Art oder Intensität der Trauer eines Hinterbliebenen sei nicht angemessen, ist aktuellen Trauer-Forschenden vertraut. Wenn sich Einschätzung von außen und Verarbeitung des Trauernden auf diese Weise unterscheiden, spricht man in der Psychologie von Disenfranchised grief (dt. „entrechtete Trauer“).

Drei typische Faktoren dieses Trauerphänomens lassen sich im Hiobbuch wiederfinden: Erstens stellen die Freunde die Schwere von Hiobs Verlust in Frage. Sie verweisen auf neue, weitere Kinder (Hiob 5,25) und eine frohe Zukunft, die sein Leid relativieren oder gar aufheben wird (Hiob 11,16). Zweitens bewerten sie die Todesumstände. Sie sind sich sicher, dass die Kinder selbst die Schuld an ihrem Ergehen tragen (Hiob 8,4). Bei Selbstverschulden erscheint intensive Trauer und das Hinterfragen des Todes durch die Hinterbliebenen weniger angemessen. Drittens beanstanden die Freunde Hiobs Trauerstil, wenn sie seine Worte als gefährlich und unpassend einordnen (Hiob 4:5f). Auch die Dauer der Trauer wird von ihnen kritisiert. So enthält der Rat, sich endlich Gott mit den richtigen Worten zuzuwenden und so die eigene Wiederherstellung einzuleiten, eine Kritik an Hiobs Verweilen im Leiden (Hiob 8,5–7).

Angesichts Hiobs abweisender Reaktion liegt nahe, dass die Freunde durch ihr Unverständnis sein Leiden verschlimmern. Denn ein Problem, das sich aus Disenfranchised grief häufig ergibt, ist eine weitere Verstärkung der Trauerreaktion, die wiederum die Diskrepanz von Fremd-Einschätzung und erlebter Trauer weiter intensiviert. Am Ende des Streitgesprächs bleibt der trauernde Vater Hiob gänzlich allein zurück: Nicht nur ohne Kinder, sondern auch ohne Freunde. Elifas, Bildad und Zofar beharren auf der Weltordnung, die Hiob angesichts des Todes seiner Kinder fragwürdig geworden und zerbrochen ist. Weder verstehen noch unterstützen die Freunde seine Trauer, sondern stellen Hiobs Art der Trauer-Verarbeitung vor und mit Gott in Frage.

Ein Happy-End für Hiob?

Während Hiob seinen Verlust lange Zeit nicht eindeutig benennt, findet er in seiner letzten Rede schließlich zu einer eindeutigen Ausformulierung der Sehnsucht nach seinen Kindern:

„O, dass ich wäre wie in den früheren Monaten, wie in den Tagen, da Gott mich behütete! (…) Als der Allmächtige noch mit mir war, meine Söhne mich umgaben!“ (Hiob 29,2.5)

In dieser finalen Rede geht Hiob seine Vergangenheit ab und klagt um alles, was er verloren hat: zunächst die Zuwendung Gottes, dann seine Kinder, dann seinen sozialen Status. Er beschreibt, wie gut es ihm ging und wie positiv man ihm begegnete (Hiob 29). Dem setzt er sein jetziges Unglück entgegen (Hiob 30), über das er ein letztes Mal zu Gott klagt. Der letzte Vers dieser Klage, bevor Hiob seine Rede mit einem Reinigungseid abschließt (Hiob 31), lautet:

„Und so ist meine Zither zur Trauerklage geworden und meine Flöte zur Stimme Weinender.“ (Hiob 30:31)

Hiob erklärt rückblickend und abschließend seine Worte zur Trauerklage. Neben dieser sehr deutlichen Selbst-Einordnung zeigen die Parallelen der Gedanken, Gefühle und körperlichen Leiden Hiobs zu typischen Trauer-Mustern, dass Hiobs Infragestellung von Gottes Gerechtigkeit in der Logik der Hiob-Geschichte tatsächlich aus der Trauer um seine Kinder hervorgegangen ist. Hiob klagt und protestiert als trauernder Vater. Gleichermaßen verdeutlichen die Reaktionen der Freunde das Kreisen um den Tod der Kinder als Ausgangspunkt der Diskussion. Gottes Gerechtigkeit und der Tod der Kinder sind zwei Pole der Realität Hiobs, die alle an der Diskussion Beteiligten zueinander ins Verhältnis setzen.

Eine kognitive Lösung gibt es für Hiob jedoch nicht. Auch die langen Reden, mit denen Gott schließlich auf Hiobs Klage antwortet, geben keine Antwort. Die Offenheit der Gottesreden bildet auf gewisse Weise die Lebenserfahrung verwaister Eltern ab. Sie werden womöglich niemals zufriedenstellende Antworten auf die Frage nach dem Sinn ihres Verlustes erhalten.

Doch das Hiobbuch erzählt auch davon, dass eine neue Zukunft möglich ist. Nicht, indem Schmerz und Klage aufgehoben werden, sondern indem sie getragen und durchlebt werden und irgendwann Raum geben für weiteres Leben, jenseits der Sphäre des Todes. Dass Hiob im Epilog des Buches weitere Kinder geboren werden, kann als bitterer Trostpreis für sein Trauma gewertet werden. Es kann aber auch auf die Möglichkeit verweisen, eines Tages erneut zu leben und erneut zu lieben.

Anders als die Töchter im Prolog des Hiobbuches erhalten die spätgeborenen Töchter Namen. Ihre Schönheit wird gepriesen und Hiob gibt ihnen ein Erbteil unter ihren Brüdern (Hiob 42,14f.). Sorgte er sich im Prolog noch um die mögliche Sündhaftigkeit seiner Söhne (Hiob 2,5) und beklagte er in Hiob 29,5 noch dezidiert deren Abwesenheit, wendet sich Hiob nun liebevoll seinen Töchtern zu. Die Beziehung zu den späteren Kindern ist eine andere als diejenige zu den früheren. Damit hebt die neue Beziehung das Vergangene nicht auf, sondern keimt zusätzlich zu diesem auf.

Hiob hat deutlich gemacht, dass er – entgegen dem Rat seiner Freunde – das Geschehene nicht vergessen, die verstorbenen Kinder niemals nicht lieben wird. Der Epilog präsentiert Hiob als liebenden Vater, so wie auch die gesamte vorangegangene Erzählung: Hiobs Vaterschaft bildet den Antrieb seines Todeswunsches, ist der Schlüsselpunkt des Streits mit den Freunden, Grund zur Anklage Gottes und schließlich gar das überdauernde und stabilisierende Element im seinem weiteren Leben. Hiob bleibt liebender Vater in seiner Trauer und wird erneut liebender Vater, als der Prozess der Trauer so weit durchlebt ist, dass neues Leben und Lieben möglich wird.

Literatur:


Unterstütze uns!

Die Eule bietet Nachrichten und Meinungen zu Kirche, Politik und Kultur, immer mit einem kritischen Blick aufgeschrieben für eine neue Generation. Der unabhängige Journalismus und die Stimmenvielfalt der Eule werden von unseren Abonnent:innen ermöglicht. Mit einem Eule-Abo unterstützst Du die Arbeit der Redaktion, die faire Entlohnung unserer Autor:innen und die Weiterentwicklung der Eule.

Jetzt informieren und Eule-Abo abschließen!