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Politik

Streit um die Kopftuchmädchen

Die FDP fordert eine „offene Debatte“ über ein Kopftuchverbot für muslimische Mädchen. In Österreich will die ÖVP-/FPÖ-Regierung so ein Verbot einführen. Was ist dran am jüngsten Kopftuchstreit?

Was haben ein thüringischer Lokaljournalist, Politiker der FDP und der österreichische Bundeskanzler gemein? Richtig, keine Ahnung von den Muslima in ihren Ländern.

Die Religionsfreiheit ist Grundrecht

In der Südthüringer Zeitung vom Donnerstag letzter Woche schreibt Thomas Heigl in seinem Kommentar „Klartext“ aus Seite 1, dass Frauenrechte vor Religion gehen. Diese seien eben als Menschenrecht bekannt, bei jenen handelte es sich schlicht um mal mehr mal weniger sinnvolle Vorgaben einer Religion. Au contraire!

Es handelt sich auch bei der Religionsfreiheit um ein Menschenrecht. Tatsächlich finden sich beide im Grundgesetz: In Artikel 3 Abs. 2 „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ und Art. 4 Abs. 1 „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.“

Im Falle der Verhüllung der Frau im Islam steht keine Religion mit den Menschenrechten im Konflikt, sondern zwei Grundrechte miteinander. Ich bin mir sicher, der thüringische Lokalredakteur möchte Musliminnen nicht vorschreiben, wie sie ihre Religion zu leben haben. Fakt ist: Wenn für sie das Tragen eines Kopftuchs dazu gehört, ist das in Deutschland durch GG Art. 4 Abs. 2  „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ erlaubt.

Die Religionsmündigkeit beachten

Das gilt auch für die vom österreichischen Bundeskanzler Kurz (ÖVP) und nordrhein-westfälischen Integrationsminister Joachim Stamp (FDP) so umsorgten unter 14-jährigen Mädchen. In Deutschland und Österreich werden Mädchen und Jungen mit 14 Jahren religionsmündig, können dann also selbst bestimmen, welcher Religionsgemeinschaft sie angehören oder ob sie aus ihrer bisherigen Religionsgemeinschaft austreten möchten.

Für unter 14-Jährige haben die Eltern da mitzureden, in unterschiedlichen Abstufungen, denn schon ab dem Alter von 10 Jahren haben Kinder Mitspracherechte. So dürfen in Österreich 12-jährige Mädchen und Jungen nicht zum Religionswechsel gezwungen werden.

Wenn also in christlichen Kirchen Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren getauft werden, muslimische und jüdische Jungen beschnitten werden dürfen, dann steht selbstverständlich auch das Tragen eines Kopftuchs bei unter 14-jährigen muslimischen Mädchen unter dem Schutz des Grundgesetzes (-> Religionsfreiheit).

Das Kopftuch ist was für Erwachsene

Richtig stutzig macht es dann, wenn der Partei- und Fraktionsvorsitzende der FDP Christian Lindner an der Seite seines nordrhein-westfälischen Parteikollegen eine offene Debatte über ein Kopftuchverbot für junge Mädchen fordert.

Legt Lindner hier die Axt an das Grundgesetz? Wenn auch in der ostdeutschen Provinz aus historischen Gründen und unter manchen Wählerinnen und Wählern aus Gründen der kulturellen Fremdheit oder gar aus Rassismus gegenüber Einwandern aus mehrheitlich muslimischen Ländern, die Religionsfreiheit nicht sonderlich hoch im Kurs steht, so dürfte man doch davon ausgehen, dass Christian Lindner um den Grundrechtsstatus derselben weiß.

Doch es lohnt sich genauer hinzuschauen. Gegenüber der WELT äußert sich der Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide (Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster) zum FDP-Vorstoß:

„In den meisten Fällen beeinflusst der Vater das Mädchen subtil dazu, Kopftuch zu tragen. Wir befinden uns in einer grauen Zone, in der weder von Freiwilligkeit noch von Unfreiwilligkeit gesprochen werden kann.“

Diese Einlassung gilt für alle Religionen. Das muss deutlich gesagt werden. Auch in christlichen Familien kann erheblicher Druck entstehen, sich taufen oder konfirmieren / firmen zu lassen. Überall werden jüdische, christliche und muslimische Mädchen und Jungen zum Gottesdienst „gezwungen“. Über diese Form des Sozialdrucks wurde reichlich geforscht, und selbstverständlich kann man darüber auch politisch nachdenken.

Die Religionsmündigkeit ist deshalb auf 14 Jahre festgelegt, weil dies traditionell das Alter war, in dem Mädchen und Jungen religiös gut versorgt (konfirmiert bzw. gefirmt) aus dem Elternhaus entlassen wurden. Das ist schon lange nicht mehr so, Mädchen und Jungen leben heute länger zu Hause. Gleichwohl haben sie heute gegenüber ihren Eltern viel mehr Rechte und Freiheiten als damals. Über das genaue Alter der Religionsmündigkeit kann man sicher diskutieren.

Khorchide meint allerdings auch:

„Ein Kopftuch bei einem achtjährigen Mädchen suggeriert in dem Fall auch, dass sie ein sexuelles Objekt ist“

Dieser sicher effektvolle Satz beschreibt zuerst einmal eine Selbstverständlichkeit: Nur die geschlechtsreife muslimische Frau ist, den maßgeblichen muslimischen Lehrschulen nach, verpflichtet sich zu verhüllen. Die Geschlechtsreife bei Mädchen in Europa tritt immer früher ein, Mädchen bekommen ihre erste Menstruation im Durschnitt im Alter von 10-11 Jahren. Es ist also davon auszugehen, dass viele muslimische Mädchen die Geschlechtsreife vor der Religionsmündigkeit erreichen. Von kopftuchtragenden Kindergartenkindern und Grundschülerinnen kann – von Ausnahmen abgesehen – aber keine Rede sein.

Das Kopftuch ist Ausweis strenger Religiosität

Auweislich der Deutschen Islamkonferenz tragen 70 % der Muslima in Deutschland überhaupt kein Kopftuch. Das Kopftuch ist Ausweis einer starken religiösen Orientierung der Familie:

„Keine der befragten Musliminnen, die sich als nicht gläubig bezeichnet, trägt ein Kopftuch. Von den stark gläubigen Musliminnen trägt indessen jede Zweite immer, meistens oder manchmal ein Kopftuch. Gleichzeitig wird auch deutlich, dass starke Gläubigkeit nicht zwangsläufig mit dem Tragen eines Kopftuchs einhergeht. Immerhin jede zweite stark religiöse Muslimin trägt kein Kopftuch.“ („Muslimisches Leben in Deutschland“, 2008)

Wenn also muslimische Mädchen im Alter unter 14 Jahren in Deutschland Kopftuch tragen, dann solche, die in streng religiösen Familien leben. Unnötig zu sagen, dass dies nur eine Minderheit der muslimischen Familien in Deutschland und Österreich umfasst.

Weil die Geschlechtsreife bei Zuwanderern durchschnittlich später eintritt als bei Mädchen aus Familien, die schon länger in Westeuropa leben, dürfte sich die Anzahl der Mädchen in engen Grenzen halten, die tatsächlich schon im Grundschulalter von ihrem Vater „subtil“ dazu gezwungen werden Kopftuch zu tragen. Für die meisten muslimischen Väter gilt in Deutschland ohnehin, dass sie ihren Töchtern das Tragen des Kopftuchs freistellen bzw. explizit davon abraten.

Die Kopftuchdebatte verhindert Integration

Vom Gebaren einzelner, streng religiöser Familien, z.B. aus salafistischer Tradition, auf die Mehrheit der Muslime hierzulande zu schließen, ist ungefähr so unsinnig, als würde man von den Zeugen Jehovas auf alle Christen schließen. Es stellt sich – wie so häufig bei den Kopftuchdebatten der letzten Jahre – die Frage, ob überhaupt ein gesetzlicher Regelungsbedarf besteht.

Die Diskussion um Kopftuchmädchen in Kindergarten und Grundschule erweckt viel eher den Eindruck einer willkommenen Ablenkung, z.B. vom Missstand, dass überproportional viele Kinder aus Einwandererfamilien (gerade aus muslimisch geprägten Ländern) gar nicht in den Kindergarten gehen. Aber natürlich ist es wesentlich bequemer die vermeintliche Integrationsunwilligkeit muslimischer Familien zu beklagen, als tatsächliche Integrationshindernisse abzubauen.

Der österreichische Bundeskanzler Kurz und die FDP aber bleiben nicht einfach untätig, sie ranzen sich mit dieser Pseudodiskussion auch an „islamkritische“ Wählerinnen und Wähler ran, sie bedienen den rassistischen Pöbel auf der Straße und in den Sozialen Netzwerken.