Kirchentag 2025 in Hannover

Einigkeit und Recht und Freiheit

Auf dem Kirchentag wird über die „Deutsche Zerrissenheit“ in Sachen Krieg und Frieden debattiert. Doch so uneinig, wie häufig vermutet, ist man sich zumindest auf dem Podium gar nicht.

Bei herrlichem Sommerwetter im Mai strömen tausende Teilnehmer:innen des Kirchentages auf das Messegelände Hannovers. Nach der Bibelarbeit des Fersehmoderators und Arztes Eckart von Hirschhausen, die wie üblich besonders gefühlig war, wird in der riesigen Halle 2 der Messe am Freitagvormittag darüber diskutiert, ob man mit Waffen Frieden schaffen kann. Alle Podiumsgäste sind sich einig: „Nein, aber …“

Auf die feinen Unterschiede kommt es also an. Sie werden von den 3.000 Besucher:innen der Veranstaltung durchweg wohlwollend zur Kenntnis genommen. Diskutiert wird, während in der Nachbarhalle der scheidende Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Abschiedsrunde dreht, ausschließlich über den Ukraine-Krieg. Der Gaza-Krieg und andere Kriege spielen (zunächst) keine Rolle, obwohl Deutschland ja auch dort und anderswo als Waffenlieferant involviert ist. Gleichwohl liegen mit dem Ukraine-Krieg natürlich auch Fragen des europäischen Selbstverständnisses angesichts der neuen US-Regierung von Donald Trump auf dem Tisch.

Auf dem Podium diskutieren – für den Evangelischen Kirchentag bemerkenswert: Bundestagsvizepräsident Bodo Ramelow (LINKE), Roderich Kiesewetter, Obmann der CDU/CSU-Fraktion im Auswärtigen Ausschuss und Oberst a.D. der Bundeswehr, Sönke Neitzel, Deutschlands einziger Professor für Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt, und der römisch-katholische Militärbischof, Franz-Josef Overbeck (Bistum Essen). Auch inhaltlich engagiert moderiert wird die Runde von Nico Lange von der „Zeitenwende-Initiative“ der Münchner Sicherheitskonferenz. Mit Oberstleutnant Tina Behnke von der Bundesakademie für Sicherheitspolitik in Hamburg führt Lange etwa zur Mitte der Veranstaltung ein „Einschub“ genanntes Zwiegespräch.

„Waffen sind notwendig, aber nicht hinreichend“

Protokollarisch korrekt darf Bodo Ramelow mit seinem „Nein, aber …“ beginnen und beklagt, dass das Wort Abrüstung völlig aus der gesellschaftlichen Diskussion verschwunden sei. Das dürfe nicht so bleiben. Gleichwohl verteidigt er, dass er noch als Thüringischer Ministerpräsident Waffenlieferungen an die Ukraine durchaus befürwortet habe. In seiner Partei sei er mit dieser Überzeugung bei vielen angeeckt.

Am liebsten aber hätte es Ramelow, wie er bereits im Sommer 2024 vorgetragen hat, dass im Grundgesetz der Bundesrepublik jegliche Waffenlieferungen verboten würden. Ziel sei, Frieden mit immer weniger Waffen zu schaffen. Er stünde hinter der Bundeswehr, für deren „gute Ausrüstung“ er sich sehr stark mache, erklärte Ramelow im Verlauf der Diskussion, nicht ohne einzuschränken, dass er den Auftrag der Bundeswehr auf die Landesverteidigung beschränkt sehen will. Das Friedenschaffen, so lernt man, geht in der Finsternis der Welt leider doch nicht ganz ohne Waffen und Armeen.

„Ich komme gerade eben erst aus der Ukraine, habe noch Staub an den Schuhen“, leitet Roderich Kiesewetter sein Statement ein. Damit ist ein anderer Ton gesetzt. Militärische Gewalt ist dem CDU-Politiker eine weltliche Selbstverständlichkeit. Und sein „Nein, aber …“? Zum Friedenschaffen seien „Waffen notwendig, aber nicht hinreichend“. Ihr Einsatz müsse in jedem Fall an politische Zwecke gebunden werden, was immer auch eine Einhegung militärischer Gewalt bedeute.

Diese Pointierung sorgt für ein erstaunliches Einverständnis mit Ramelow. „Waffenlieferungen dürfen niemals ein Selbstzweck sein“, sondern müssten einem guten Ziel folgen. Am konkreten Beispiel Ukraine-Krieg: Aus einem gemeinsamen Verständnis davon, wer in diesem Fall der Agressor ist, nämlich Russland, eine „Revisionsmacht“ (Neitzel), folge die Notwendigkeit, die Ukraine in ihrem Verteidigungskampf für Freiheit und Selbstbestimmung zu unterstützen.

Und mehr noch: Es gehe auch um die Verteidigung der internationalen Friedensordnung. Agressoren dürften aus dem Ukraine-Krieg nicht den Schluss ziehen, mit Völkerrechtsbrüchen durchkommen zu können, erläutert Kiesewetter. „Es geht nicht, dass die Ukraine für uns blutet.“

„Es ist kompliziert“

Nach den beiden aktiven Politikern darf nun der katholische Militärbischof sein Verständnis der Friedensethik umreißen: Militärische Gewalt sei immer „Ultima Ratio“, es gebe zugleich „keine Pflicht zum Martyrium“ und daher ein Selbstverteidigungsrecht. Weil der Frieden immer ein „Werk der Gerechtigkeit“ ist, sei auch der Einsatz militärischer Gewalt an Regeln gebunden. „Wenn Gerechtigkeit durch Deals ersetzt wird“, warnt Overbeck vor der US-Diplomatie mit Russland, „ist das der Beginn neuer Kriege und nicht von Frieden“.

Aus der Geschichte könne man leider nicht einfach lernen, ob mit Auf- oder Abrüstung der Frieden gesichert oder riskiert werde, bekennt Sören Neitzel. Der historische Befund sei wie die Lage: „kompliziert“. In der politischen Debatte suche sich eh jeder das Narrativ aus, das einem passe. In bemerkenswerter Knappheit und Luzidität erklärt Neitzel, wie die Aufrüstung der Entente vor dem 1. Weltkrieg nach einem „Jahrhundert des Friedens“ in Deutschland den Eindruck hinterließ, man werde „eingekreist“. Die Aufrüstung habe in diesem Fall also zur Entfesselung des Krieges beigetragen.

Beim Ausbruch des 2. Weltkrieges aber habe es sich ganz anders verhalten. An der Abrüstung der 1920er-Jahre festzuhalten und das nationalsozialistische Deutschland mit Entgegenkommen (Appeasement) und wirtschaftlichen Beziehungen einzubinden, sei daran gescheitert, dass „der Gegner zum Krieg entschlossen“ war. So viel könne er doch sagen, erklärt Neitzel: Es sei ihm „kein historischer Beleg dafür bekannt, dass eine Revisionsmacht vom Krieg durch Abrüstung abgehalten worden sei“. „Revisionsmacht“ meint einen Staat, der die internationale Rechtsordnung nicht akzeptiert und ihre Beseitigung beabsichtigt.

Komplettiert wird die Runde der auf der Bühne präsentierten Perspektiven durch die Bundeswehroffizierin Behnke, die sich zu Beginn ihres Talks für die Einladung herzlich bedankt. Viele Soldat:innen, stellt Behnke klar, seien sehr wohl auch selbst kritische Beobachter:innen der sicherheitspolitischen Entwicklungen. Es sei allerdings nicht selbstverständlich, dass in Diskussionen über Krieg und Frieden auch soldatische Perspektiven miteinbezogen würden. Das gilt auch für den Evangelischen Kirchentag, der trotz des Engagements der Evangelischen Kirche in der Bundeswehrseelsorge Zeit seiner Nachkriegsgeschichte ein eher abständiges Verhältnis zu den Staatsbürger:innen in Uniform und Waffenrock pflegte.

Als die Soldatin von der Bühne sprechen soll, gibt es auf dem Hannoverschen Kirchentag 2025 jedoch nur einen eher verzagten Zwischenruf. Eine kleine Gruppe Demonstrant:innen aus der traditionellen Friedenbewegung entfaltet inmitten des Publikums für die herbeieilenden Fotojournalist:innen ein Transparent. Nach wenigen Minuten ziehen sie wieder ab. Auch das Einlegen von Protest kann zu einer Pflichtübung abflachen. Zum Ende der Veranstaltung werden die Besucher:innen in Halle 2 eine Resolution des Kirchentages ablehnen, die eine Zustimmung zum Atomwaffensperrvertrag durch die Bundesregierung gefordert hätte. Auch das eine Tradition der Friedensbewegung auf Kirchentagen.

„Deutsche Zerrissenheit“ – wirklich?

Auf dem Kirchentag in Hannover versammelte sich auf dem Podium und im Publikum jener Großteil der Gesellschaft, der weder irrsinnig um sich schießen noch sich wehrlos dahergelaufenen Despoten ergeben will. Den anhaltendsten Applaus erhielt die Bundeswehroffizierin – vielleicht auch zum Trost dafür, dass sie gerade in dieser Zeit in Uniform dienen muss. Auf allen Seiten ist man sich der „Bauchschmerzen“ bewusst, die Waffengänge und -Lieferungen nun einmal mit sich bringen. Und in der Messehalle waren sich auch alle über den Aggressor und seine Motivation sowie sowieso über den US-Präsidenten einig. So viel der kostbaren Einigkeit gibt es in diesen Fragen medial inszeniert in Deutschland wahrhaft selten.

Die Einigkeit der Männerrunde, die auf dem offiziellen Podium des Kirchentages saß, darf gleichwohl nicht darüber hinwegtäuschen, dass es auch anderslautende evangelische Stimmen gibt: Die ehemalige EKD-Ratsvorsitzende und hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann zum Beispiel fordert rund um den Kirchentag, bei einem von Friedensgruppen organisierten Forum in den ver.di-Höfen: „Statt von Kriegstüchtigkeit zu reden, sollten wir uns mehr für Friedensfähigkeit starkmachen!“ Dem evangelischen Magazin Chrismon sagte sie: „In unserer Kirche waren Pazifistinnen und Pazifisten schon immer eine Minderheit, wenn wir ehrlich sind. Wir werden als naiv betrachtet. Es irritiert mich allerdings, dass die Stimme zum Frieden, für Waffenstillstand und gegen diese ewige Debatte um Waffenlieferungen an die Ukraine in unserer Kirche derzeit so leise ist.“

Die titelgebende „Zerrissenheit“ spielt sich auf dem Kirchentag eher subkutan ab und hat ihren Ort häufig auch in den Biografien der an der Diskussion beteiligten Akteur:innen. Roderich Kiesewetter berichtete von seinem „Damaskuslerlebnis“ und Ramelow ließ spüren, dass auch linke Protestant:innen prinzipiell lernfähig sind.

An Ideen, wie wir aus den Krisen der Diplomatie und den Kriegen wieder herausfinden können, die sich nicht in Appeasement oder Durchhalteparolen erschöpfen, mangelte es auf dem „Zerrissenheit“-Podium des Kirchentages. Ramelow forderte „die Kontinente“ auf, jeweils in ihrem Beritt für Ordnung zu sorgen, dahingehend sei auch der UNO-Sicherheitsrat neu zu denken. Die in Deutschland angesagte Rüstung dürfe nicht dazu führen, in „Trump und Musk“ zu investieren. Eine eigene europäische Sicherheitsarchitektur und Infrastruktur ohne die USA bereitzustellen, aber werde teuer, gab Sicherheitskonferenz-Profi Lange zu bedenken. Auf solche „Opfer“ müsse man sich einstellen, bekannte Overbeck. Auch diese Mahnungen nahm das Publikum andächtig hin.

Es blieb dem Historiker Neitzel vorbehalten, eine positive Zukunftsvision zu entwerfen: Die sicherheitspolitischen Notwendigkeiten müssten „die nächste Stufe der europäischen Integration“ zünden. Er erinnerte an Charles de Gaulle, Konrad Adenauer, Helmut Schmidt und Valéry Giscard d’Estaing – allesamt hätten sie den 2. Weltkrieg erlebt und daraus den Schluss gezogen, dass sich ein solcher Weltenbrand nicht wiederholen dürfe.

„Wenn es in 1000 Jahren noch Deutschland und Europa gibt“, sollten unsere Nachfahren, so Neitzel, auf uns Jetztmenschen zurückschauen und in unserer Zeit die finest hour Europas erinnern, in der „wir alle unserer Verantwortung gerecht geworden sind“. Winston Churchill auf dem Evangelischen Kirchentag: Die Vereinigten Staaten von Europa! Zum Abschied aus der Halle spielt Pianist Ben Seipel Beethovens „Ode an die Freude“. Manche singen mit.


Für Die Eule berichtet Philipp Greifenstein vom 30. April bis zum 4. Mai aus Hannover vom 39. Deutschen Evangelischen Kirchentag.


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