Interview Wehrpflicht-Debatte

„Der Bedarf wird massiv wachsen“

Die Debatten um eine neue Wehrpflicht sorgen auch für einen Zuwachs an Nachfragen zur Kriegsdienstverweigerung. Wie sich die Kirche für Wehrdienstverweigerer einsetzt:

Eule: Herr Rehm, hat sich die Zahl der Anfragen für Beratungen zur Kriegs- bzw. Wehrpflichtverweigerung bei Ihnen aufgrund der öffentlichen Debatte um die Wehrpflicht erhöht?

Rehm: Ganz klar: Jein. In absoluten Zahlen erhöhen sich die Anfragen nicht intensiv, es gibt keinen gewaltigen Ausschlag nach oben. Aber es gibt eine massive Verschiebung bei den Personen, die Anfragen an uns stellen.

Nach dem russischen Angriff auf die gesamte Ukraine 2022 hatten wir viele Beratungsnachfragen vor allem von Reservist:innen der Bundeswehr. Das verändert sich jetzt zunehmend. Inzwischen haben wir zum allergrößten Anteil Anfragen von jungen Menschen und von Eltern und Großeltern, die sich für die eigenen Kinder oder Enkel informieren wollen. Dabei geht es häufig erst einmal um eine Information darüber, wie jetzt eigentlich der Stand der Dinge ist. Wir stellen fest, dass das Thema Wehrdienst bei jungen Menschen und in den Familien jetzt deutlich präsenter ist.

Eule: Über wie viele Anfragen reden wir eigentlich?

Rehm: Bundesweit haben wir im Jahr mehrere hundert Anfragen, aber die 1000er-Grenze noch nicht erreicht. Seit 2022 registrieren wir kontinuierlich steigendes Interesse an unseren Beratungsangeboten. Wir gehen davon aus, dass sich die Zahl der Nachfragen noch einmal deutlich erhöhen wird, wenn eine neue Regelung zur Wehrpflicht umgesetzt wird. Sollte es dann tatsächlich Fragebögen geben, die alle Wehrpflichtigen beantworten müssen, wird der Beratungsbedarf massiv wachsen.

Eule: In der Debatte wird von Wehr- und Kriegsdienstverweigerung fast schon als Synonymen gesprochen. Gibt es zwischen beiden überhaupt einen Unterschied, der heute noch wichtig ist?

Rehm: Der Begriff der Kriegsdienstverweigerung geht auf das Grundgesetz zurück, in dem im Artikel 4, Absatz 3 steht: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ In der Praxis kommt das Thema Kriegsdienstverweigerung dann auf, wenn Personen zum Wehrdienst eingezogen werden sollen. Denn während des Wehrdienstes würde man eine Ausbildung an der Waffe zum Kriegsdienst erhalten. Vor der Aussetzung der Einberufungen zur Wehrpflicht 2011 gab es also die Rechnung Kriegsdienstverweigerung ist gleich Wehrdienstverweigerung ist gleich Ersatzdienst.

Eule: Menschen, die damals Zivildienst geleistet haben, müssten also nicht noch einmal den Kriegsdienst verweigern?

Rehm: Nein, denn das haben sie damals schon getan und das bleibt auch weiterhin gültig. Die Kriegsdienstverweigerung war ja überhaupt erst die Voraussetzung dafür, einen Ersatzdienst leisten zu dürfen. Ebenfalls weiterhin wirksam sind die Untauglichkeitsbescheinigungen, die viele junge Männer nach ihren Musterungen, zum Beispiel in den 2000er Jahren, erhalten haben.

Eine Antrag auf Kriegsdienstverweigerung kann nur dann bearbeitet werden, wenn zwei Bedingungen vorliegen: Erstens muss die Person die den Antrag stellt wehrpflichtig sein. Das sind in Deutschland alle Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Eine Frau kann also den Kriegsdienst nicht pauschal verweigern, sondern nur wenn Sie freiwillig Wehrdienst geleistet hat. Zweitens muss die Person gemustert werden – und zwar als „diensttauglich“. Nur wenn beide Bedingungen erfüllt sind, kann man zum Dienst einberufen werden. Erst dadurch entsteht ein Rechtsschutzbedürfnis, in dessen Rahmen ein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung bearbeitet werden muss.

Eule: Derzeit kann man auf Social-Media-Plattformen nachlesen, dass Menschen pro forma und vorzeitig den Kriegsdienst verweigern (wollen), um ganz sicher zu gehen, niemals in der Bundeswehr dienen zu müssen. Das ist also überflüssig?

Rehm: Nein, das würde ich so nicht sagen. Es ist durchaus sinnvoll, heute darüber nachzudenken. Die Frage, ob man bereit ist, Kriegsdienst zu leisten, ist eine ganz elementare persönliche Auseinandersetzung. Da geht es um mein Gewissen, um mein Verständnis von der Welt und unserem Zusammenleben in dieser Welt.

Wenn ich zu dem Ergebnis komme, dass ein Dienst an der Waffe für mich damit nicht vereinbar ist, dann kann ich auch heute einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen. Das kann man beim Karriere-Center der Bundeswehr machen. Daraufhin wird man dann zur Musterung eingeladen, um die Diensttauglichkeit festzustellen. Wird die Person dann „ausgemustert“, kann der Antrag rechtlich nicht weiter bearbeitet werden, weil die Voraussetzungen nicht vorliegen. Wenn die Diensttauglichkeit aber vorliegt, wird der Antrag tatsächlich beim Bundesamt für zivilgesellschaftliche Aufgaben geprüft.

Eule: Bald sollen junge Männer wieder mit einem Brief zur Musterung eingeladen werden. Ist es wirklich notwendig, sich jetzt schon zu bemühen, wenn doch offenbar nur eine begrenzte Zahl von Wehrdienstpflichtigen freiwillig zur Bundeswehr gehen soll?

Rehm: Wir wissen noch nicht, wie der neue Wehrdienst tatsächlich gestaltet werden wird. Insofern gibt es da im Moment auch eine Unklarheit und sicher auch Verunsicherung bei vielen Menschen, die davon potentiell betroffen sind. Dazu trägt die öffentliche Debatte vielleicht auch bei.

Zum Beispiel ist immer wieder davon die Rede, die Wehrpflicht sei „ausgesetzt“. Das stimmt nicht. Ausgesetzt ist nur die Einberufung zur Wehrpflicht. Das würde sich mit einem Schlag ändern, wenn Deutschland einen Spannungs- oder gar Verteidigungsfall ausrufen müsste. Wenn das der Fall wäre, würden für eine Kriegsdienstverweigerung Fristen gelten, um die Verfahren zu verkürzen.

Aus unserer Beratungspraxis wissen wir, dass Personen, die sich ernsthaft mit der Kriegsdienstverweigerung befassen und eine Begründung ihrer eigenen Gewissensentscheidung schreiben wollen, dafür Zeit brauchen. Das geht häufig nicht innerhalb von 14 Tagen. Oft kommen die Menschen zu uns mit einem diffusen Bauchgefühl und stehen dann vor der Herausforderung, zur Sprache zu bringen, dass ein Dienst an der Waffe mit ihrem Gewissen nicht vereinbar ist. Wer sich also jetzt auf einen solchen Weg begibt, der tut das mit Zeit und nicht unter Druck.

Eule: Müssten sich denn nicht die Kirchen – wie früher auch – für Kriegsdienstverweigerer einsetzen?

Rehm: In der Evangelischen Kirche ist die Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) auch in den Jahren seit 2011 bestehen geblieben. Wir haben uns zu einem Netzwerk der Friedensbeauftragten der Gliedkirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) weiterentwickelt, die Beratung selbst hat eine weniger große Rolle gespielt. Die katholischen Arbeitsgemeinschaften für Kriegsdienstverweigerung wurden tatsächlich aufgelöst.

Als 2022 die Anfragen anstiegen, konnten wir also unmittelbar wieder einsteigen. Wir haben das Know-How bei langjährigen Mitarbeitenden, auch zur Beratung von Soldat:innen, und haben recht schnell wieder ein Beratungsnetz aufgebaut. Wir sind auf dem Weg, in allen Gliedkirchen wieder Ansprechpersonen für die Beratungen zur Kriegsdienstverweigerung (KDV) zu haben. Ab Januar 2026 bietet die EAK eine hybride Ausbildung zur KDV-Berater:in an. Daran können interessierte Personen aus allen Gliedkirchen teilnehmen. Wir wollen auch in der Fläche wieder beratungsfähig werden.

Eule: Vor Jahrzehnten einmal war die Kriegsdienstverweigerung ein Anliegen von vielen Pfarrern in den evangelischen Kirchen …

Rehm: Die Zeiten haben sich wirklich geändert. Früher einmal haben Personen mit Beratungsbedarf vielleicht am Pfarramt geklingelt, weil sie irgendwie wussten: Da finde ich jemanden, der sich mit der Kriegsdienstverweigerung inhaltlich befasst hat. Heute informieren sich insbesondere junge Menschen im Internet und auf Social-Media-Plattformen. Deshalb laufen auch die Anfragen heute anders ab. Auf unserer Website gibt es ein Formular für Beratungsanfragen, das man einfach ausfüllen kann. Die Anfragen werden dann je nach Wohnort an eine Ansprechperson in den Gliedkirchen weitergeleitet.

Eule: Dass sich heute viele Pfarrer:innen mit der Kriegsdienstverweigerung nicht mehr auskennen, liegt vielleicht auch daran, dass junge Pfarrer:innen viel seltener Männer sind, die selbst mit der Wehrpflicht konfrontiert waren. Seit 2022 sind auch die evangelischen Kirchen mit der „Zeitenwende“ befasst. Spielt die Kriegsdienstverweigerung als Thema in den Kirchen wirklich noch eine Rolle?

Rehm: Der Umgang mit dem Thema hat sich stark verändert, auch mit der veränderten geopolitischen Lage. In der neuen EKD-Friedensdenkschrift, die Montag nächster Woche erscheint, wird man das einigermaßen differenziert nachlesen können. Es gibt ein eigenes Kapitel für Wehrpflicht und Wehrpflichtverweigerung, das auch eine Vielfalt von evangelischen Positionen wiedergibt, von denen ich jedoch nicht alle unterschreiben würde.

Eine Tendenz aber ist ganz unstrittig, die wir betonen sollten: Die Evangelische Kirche sieht sich in der Verantwortung, das Gewissen der einzelnen Person zu begleiten, auch in der Frage der Kriegsdienstverweigerung. Wir müssen dafür da sein, Menschen bei dieser Lebensfrage zu begleiten. So ist auch unsere Beratung aufgestellt: Wir machen keine antimilitaristische Beratung, keine Beratung weg vom Wehrdienst, sondern eine Beratung für die Gewissen. Wir unterstützen Menschen in ihrer persönlichen Auseinandersetzung.

Das ist, nebenbei bemerkt, für die neue Denkschrift der EKD auch eine wichtige Prämisse. Der Grundanspruch der Friedensdenkschrift von 2007 war noch, dem Vorwort des Ratsvorsitzenden Wolfgang Huber nach, einen gesamtgesellschaftlichen Konsens darzustellen. Die neue Denkschrift will einen Beitrag zu persönlichen Urteilsbildung leisten. Der Anspruch, auch nur einen gesamtkirchlichen Konsens wiederzugeben, wurde aufgegeben. Das ist ein gigantischer Unterschied.

Eule: Hat denn der Dienst für Kriegsdienstverweigerer noch Rückhalt in der Kirche?

Rehm: Ich empfinde es so, dass wir inhaltlich absolute Rückendeckung haben. Es steht außer Frage, dass wir diese Aufgabe der Lebensbegleitung erfüllen müssen. Gleichzeitig müssen wir beim Neuaufbau der Strukturen darüber nachdenken, wie wir das verantwortlich angesichts sinkender Kirchensteuermittel machen können. Wir sind auf das Ehrenamt und auf Menschen guten Willens verwiesen, die sich auf diesem Themenfeld engagieren wollen.

Ehrenamtliche Personen sind aber keine Lückenbüßer! Ich empfinde es als zutiefst wesentliche Kernaufgabe eines Christen, für andere in dieser Situation da zu sein. Trotzdem wird es ein Mindestmaß an Hauptamtlichkeit auf dem Aufgabenfeld auch in Zukunft geben müssen, weil es in der Arbeit mit Soldat:innen manchmal gut ist, dass die Ansprechpartner:innen als ordinierte Personen dem Seelsorgegeheimnis unterliegen.

Eule: Wäre das nicht auch eine Frage für die Militärseelsorge?

Rehm: Ja, und als erste Ansprechpartner sind Militärseelsorger:innen für Soldat:innen auch wichtig. Doch zum einen ist die Seelsorge der Bundeswehr gar nicht bei allen bekannt, die sich für die Kriegsdienstverweigerung interessieren, und zum anderen werden die Militärseelsorger doch mit der Bundeswehr identifiziert. Damit meine ich nicht, dass sie per se parteiisch wären. Aber für die Soldat:innen macht es in vielen Fällen einen Unterschied, ob sie einen internen oder externen Ansprechpartner haben.

Eule: Die Bundeswehr genießt einen so guten Ruf wie noch nie, trotzdem wollen nur wenige junge Menschen in Uniform dienen, obwohl der Pazifismus nicht mal in der Kirche im Zeitgeist liegt. Was ist da los?

Rehm: Ich weiß nicht, ob ich auf diese Frage eine Antwort habe und wenn, dann nur aus meinem eigenen Erleben heraus. Ich glaube, junge Menschen erleben sich heute in einem fast durchgängigen Krisenmodus. Die Generation, die jetzt für den Wehrdienst in Frage kommt, hat sich in den Jahren der sog. „Flüchtlingskrise“, der Klimaproteste und vor allem der Corona-Pandemie politisiert. Das sind also Personen, die nicht nur mit globalen Krisen konfrontiert sind, auf die Verantwortungsträger:innen keine adäquaten Antworten finden, sondern denen Einschränkungen zugunsten vulnerabler Gruppen bereits abverlangt wurden.

Sie leben heute in dem Empfinden, dass alte, vermeintlich weise Männer darüber entscheiden, wofür sie ihr Leben lassen sollen. Dass das keine motivierende Perspektive ist, kann ich gut nachvollziehen. Manche ziehen daraus den Schluss, sich gar nicht gesellschaftlich zu engagieren, sondern sich um das eigene Fortkommen zu kümmern. Insofern haben wir es, denke ich, nicht mit einer Krise der viel besprochenen Wehrfähigkeit zu tun, sondern mit einer tiefer liegenden Sinnkrise: Wie sieht eine lebenswerte Welt eigentlich aus, für die ich mich einsetzen will?


Alle Eule-Beiträge zum Themenschwerpunkt „Friedensethik“.


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Das Interview führte Eule-Redakteur Philipp Greifenstein.

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