Unter Heiden (23): Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird überschätzt
Der gesellschaftliche Zusammenhalt wird aus Nostalgie heraus beschworen. So viel Vergangenheit will ich mir nicht zumuten.
Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin,
Frieden zu bringen auf die Erde.
Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen,
sondern das Schwert.
– Matthäus 10, 34
Vor ein paar Wochen wurde ich im Deutschlandfunk anknüpfend an diese Kolumne zu den Themen Ostdeutschland und Kirche befragt. „Zusammenhalt wird überschätzt“, meinte ich da und titelte dann der Deutschlandfunk. Ich kritisiere vor allem die Forderung, man müsste der Polarisierung der Gesellschaft durch ein Entgegenkommen gegenüber – ja, wem eigentlich? – „Menschen“, mehr Zusammenhalt entgegenstellen. Und ich frage mich: Ist dieser Zusammenhalt es wert zusammenzurücken?
Kirche, rette uns!
Doch zuerst ein anderes Schlaglicht: Ich höre aus Köthen. Sie erinnern sich noch an diesen anhaltinischen Ort, in dem es vor ein paar Wochen einen Todesfall und anschließend rechtsextreme Demos gab? Ich höre, dass die politisch Verantwortlichen der Stadt dankbar sind, dass die Kirche ihre Türen für eine Trauerandacht öffnet, dass zur Kranzniederlegung am Mittag nach dem Todesfall ein Pfarrer das Vaterunser spricht. „Uns würden sie das gar nicht abnehmen“, ist die Vermutung der Politiker: Nicht das Vaterunser und auch nicht die stadtväterliche Haltung. Politiker gelten als verseucht oder verhalten sich zumindest so. Die Kirche soll vermitteln, die Kirche soll der Raum sein, in dem zusammenfindet, was auseinanderstrebt, auseinander gefallen ist.
Und dabei soll Kirche, meinen nicht wenige, natürlich selbst unpolitisch sein, unideologisch. Unideologisch, da kann ich mitgehen, obwohl ich es schon trappsen höre. Unpolitisch? Die Kirche kann unmöglich ein Hohlraum sein, in den alle möglichen Interessen gegossen werden. Sie kann nicht allen Zwecken dienen. Die Kirche kann wohl kaum die Mitte dieser Gesellschaft sein, wenn das Evangelium in ihrem Zentrum steht. Wenn das Evangelium die Mitte ist, kann es keinen Raum für Hass gegen Ausländer, Geflüchtete etc. geben. Wenn das Evangelium die Mitte ist, dann ist da kein Raum mehr für Nationalismus, „Rassenkrieg“ (wie auf der Demo in Köthen gehört) und Rassismus.
Beim Thema Zusammenhalt auf die Kirche zu kommen, dazu braucht es schon Chuzpe. In Ostdeutschland ist die Kirche eine Minderheitenorganisation. Die Evangelischen Kirchen sind zwar diejenigen gesellschaftlichen Akteure, die in der Fläche und überhaupt noch signifikant Leute zusammenhalten, aber daraus zu schließen, eine Kirche mit 10 – 25 % Anteil an der Gesamtbevölkerung wäre in einer natürlichen Vermittlerrolle, ist nun wirklich überheblich. Mit der gleichen Logik könnte man sich an die Ultra-Vereinigungen der ostdeutschen Traditionsclubs wenden.
Die Gesellschaft zusammenzuführen ist auch schlicht nicht Aufgabe der Kirche. Sie verkündet das Evangelium, mit allen lebensweltlichen Konsequenzen, die es eben auch mit sich bringen, dass man Leuten spinnefeind wird. Eine Kirche, die statt das Evangelium zu vermitteln zwischen allen möglichen Menschen vermitteln will, verfehlt sich. Doch selbst wenn man die Kirche einmal aus der Gleichung herausnimmt, die dieser Tage so häufig aufgestellt wird, geht die Rechnung nicht auf. Was soll das Ergebnis, was soll dieser gesellschaftliche Zusammenhalt denn eigentlich sein?
Gerechtigkeit statt Heimat
Der 52. Historikertag hatte „Gespaltene Gesellschaften“ zum Thema, der gesellschaftliche Zusammenhalt ist in aller Munde. In Sachsen-Anhalt gründen sie dafür an der Uni Halle sogar ein Institut. Wenn damit das Auseinanderfallen der Gesellschaft entlang von Einkommen, Bildung und Teilhabe gemeint sein sollte, dann hätte ich da andere Vorschläge:
Mindestlohn rauf auf 13 € zum Beispiel, die 35-Stunden-Woche einführen, Musiker_innen und Künstler_innen in die Schulen schicken, Steuerflüchtlinge konsequent verfolgen, doppeltes Kindergeld für Alleinerziehende, Aufhebung des Kooperationsverbots, deutschlandweit gleichwertige Anstellung für Lehrer_innen und Erzieher_innen, kostenfreie Ausbildung für Erzieher_innen und Altenpfleger_innen, Spurwechsel für Geflüchtete und Migranten, Ausbildung während des Sprachunterrichts usw. usf..
Statt den Mangel des metaphysischen Zusammenhalts zu beklagen, könnte man an der tatsächlichen Gleichwertigkeit von Lebensverhältnissen arbeiten. Da geht es nicht mehr um Heimat, sondern um Gerechtigkeit.
Defizitäre Gegenwart
Über den gesellschaftlichen Zusammenhalt wird im Blick auf Ostdeutschland nur im Modus des Defizits gesprochen. Entweder es gibt ihn nicht mehr: „Früher war mehr Zusammenhalt / Solidarität!“ Oder es gibt ihn hier nicht, dafür aber reichlich im Westen. Wird die Forderung nach mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht von Leuten vorgebracht, die entweder in die DDR oder in den Westen verknallt sind? Mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt wird von Leuten gefordert, die irgendwie einen Mangel spüren und die den realexistierenden Osten für fehlerhaft und zurückgeblieben halten. Leute, die meinen, früher und erst recht in der DDR sei alles besser gewesen und drüben, ja drüben erst! Das reine Paradies!
Schauen wir uns das doch mal an: In der DDR gab es viel Solidarität, viel verordnete Solidarität vor allem. Ja, es gab das wechselseitige Aushelfen in der Mangelgesellschaft. Den romantisch verklärten Blick darauf nehme ich Leuten nicht ab, die noch heute vor den Warenwelten in jedem Discounter ehrfürchtig erstarren.
Vor allem gab es staatlich vorgeschriebene Solidarität mit jedermann und der gesellschaftliche Zusammenhalt wurde durch Massenorganisationen organisiert, in denen manche aus Überzeugung, andere aus Opportunismus und viele aus Konvention dabei waren: „Das macht man halt so!“ Bei den Pionieren und in der FDJ und in den Betriebskollektiven und Hausgemeinschaften war es solidarisch, warm und für die Dabeigewesenen vorteilhaft. Die Massenorganisationen legten mit ihrer permanenten Sozialkontrolle aber auch die Grundlage für den Überwachungsstaat, der die DDR auch war.
Die Bildung zum Kollektiv hat gehorsame DDR-Bürger geschaffen. Vom Konformitätsdruck haben sich nur sehr wenige emanzipieren können. Als die große Menge der Menschen an ihnen vorbei dem Westen in die brüderlich geöffneten Arme lief, hatten sie die good old DDR mit ihren Worten schon sturmreif diskutiert. In der DDR war zum Schluss auch für den größten Mitläufer nichts mehr zu holen.
Was diese Form des gesellschaftlichen Zusammenhalts nicht hervorgebracht hat, sind mündige Bürger, die sich einer demokratischen, pluralen Gesellschaft zurecht finden. Wenn hier im Osten Leute – und bis vor ein, zwei Jahren waren es vor allem alte Menschen – meinen, früher sei mehr Zusammenhalt gewesen, dann meinen sie auch, früher war das hier weniger unübersichtlich, weniger neu und komplex, weniger fremd und ungewohnt. Der Wunsch nach gesellschaftlichem Zusammenhalt als reaktionäre Utopie. Wenn Honecker noch lebte, er hätte Tränen in den Augen, wie sehr sich manche Bürgerinnen und Bürger der Deutschen Demokratischen Republick nach ihr zurücksehnen. Diesem Wunsch muss ich mich nicht anschließen.
Wenn Zusammenhalt heißt, diesen Leuten entgegen zu kommen, dann lieber nicht. Dieser vormals als „Jammerossi“ titulierte Typus ist auch überhaupt nicht neu, auch wenn westdeutschen Redaktionen ob seiner Neuentdeckung ganz blümerant zu Mute wird. Mit der Pathologisierung des Ostdeutschen lassen sich hierzulande Zeitungen füllen und verkaufen. Die Faszination des Fremden! Hier im Osten halten seit fast 30 Jahren Menschen gegen solche Nostalgie, ihnen und mir ist nicht zuzumuten, dass wir uns ausgerechnet jetzt mit diesen in der Tat Ewiggestrigen zusammentun.
Über jedes Bacherl geht a Brückerl
Es ist deren servile Untertanenhaltung, die der Vorbildossi Joachim Gauck bei seinem unseeligen Versuch ins Visier genommen hatte, den Begriff Selbstermächtigung zu rehabilitieren. Die Gaucksche Eitelkeit aber soll nicht darüber hinweg täuschen, dass da doch ein liberaler Kern drin steckt, ohne den ein demokratischer Bürger nicht zustande kommt.
Statt mit Gauck kann man es neuerdings auch mit Stefanie Hertel halten. Der ehemalige Volksmusikkinderstar, Tochter des Volksmusikbarden Eberhard Hertel und inzwischen Scharnier einer Volksmusikdynastie, wandte sich im Nachgang des heißersehnten (sagt man doch so, oder?) Bekenntnisses Helene Fischers zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung an die der Volkstümelei unverdächtige taz und bekannte ohne Ende:
„Wir müssen aufhören vor allem, was fremd und anders ist, Angst zu haben“, betonte die 39-Jährige, die aus dem sächsischen Vogtland stammt. Es sei an der Zeit, Nächstenliebe zu üben und nicht darauf zu warten, „dass Behörden und Politiker unser Zusammenleben in allen Bereichen regeln“.
Das ist ein Schlag ins Kontor der Vergangenheitsverliebten! Mehr noch als das Statement der volksdeutschen Ikone der 2010er-Jahre Helene Fischer, ist dieser Gesinnungsausbruch Hertels das eigentliche Zeichen der Stunde: Nach Chemnitz ist tatsächlich etwas anders. Über jedes Bacherl geht a Brückerl, jetzt muss nur noch Michael Kretschmer drüber gehen. Wenn die Ikone der 90er-Jahre nun aus ihrem Stückerl heile Welt auszieht, wer mag noch bleiben?
Westdeutsche Vergangenheitsbewältigung
Geht es nicht um die Sehnsucht nach der DDR, dann um die nach der alten Bundesrepublik, wie zuletzt von Björn Höcke vorgetragen. Der hessische Lehrer verkündete auf dem Parteitag seiner Partei zuletzt, die alte Bundesrepublik wäre das Ziel. Ob ihm aufgegangen ist, dass die Mehrheit seiner Anhänger die niemals erlebt haben? Was Höcke ausagiert ist seine eigene narzistische Verletzung, selbst nicht mehr in den Genuss der Sicherheiten der BRD gekommen zu sein. Sicherheiten, die immer das Systemgegenüber brauchten, also die Bedrohung von außen, die Höcke heute ständig beschwört. Soll drinnen zusammenhalten, was auseinander strebt, dann braucht es Druck von draußen.
Mir fehlt für Westalgie jeglicher Anlass. Ich hatte guten Geschichtsunterricht und ich war schon mal „drüben“ – anders als viele Westdeutsche bin ich nämlich schon einmal über die ehemalige Zonengrenze hinweg gekommen. Wer sich in den Vorstädten, den zersiedelten „ländlichen Räumen“ und abgerockten Innenstädten dort mal umschaut, dem erwächst keine Sehnsucht. Da hilft auch nicht die Phantasie, sich den Putz ein wenig weniger abgebröckelt vorzustellen. Den bürgerlich-saturierten Beamtenstaat, den nichts erschüttern kann und darf, wähle ich mir nicht zur Heimat, auch nicht zur geistigen.
Den Frieden gönn ich denen nicht!
Wer den gesellschaftlichen Zusammenhalt permanent verteidigt, hat sich längst auf eine Gesprächsführung eingelassen, die von rechts her vorgegeben wird. Wenn der Wessi G. Kubitschek – dem westdeutsche Redaktionen bescheinigen, ein „Vordenker“ der Neuen Rechten zu sein – davon spricht, es bräuchte mehr Spaltung, endlich ein großes Gegeneinander, dann kann offensichtlich im Umkehrschluss nur gelten, dass dieser gesellschaftliche Zusammenhalt zu verteidigen ist. Das ist zu einfach. Der gesellschaftliche Zusammenhalt mit seiner inhärenten Homogenitätsforderung ist selbst das größte Hindernis für das friedliche Nebeneinanderleben in einer pluralen Gesellschaft.
Die Spaltung, die Kubitschek meint, ist eine entlang von Herkunft, Kultur, Religion, ein Aufhetzen der Schwachen gegeneinander. Gegen so eine Spaltung müssen wir aufstehen. Und dabei bedenken, dass dieser mutige Kampf von vielen Bürgerinnen längst schon geführt wurde, bevor sich nun eine größere Menge von Bürgern dafür begeistern lässt.
Die Hass säen, haben Streit verdient nicht Vereinnahmung, die doch nur zur stillen Übernahme ihrer Ideen führt. Mit denen will und werde ich mich nicht gemein machen. Wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt auch all diejenigen umfassen soll, die in den letzten Jahren wutschreiend durch die Straßen des Landes und die Kommentarspalten dieses Internets ziehen, dann nur, indem sie umkehren und sich der bunten Mehrheit anschließen. Dem greife ich nicht vor, indem ich sie alle zurück in eine heile Welt hole. Wie paternalistisch ist das bitte!
Es kann keinen Frieden mit Rassisten geben, es sei denn zum Preise, die plurale Gesellschaft aufzugeben. Es kann keinen Frieden mit Nationalisten geben, es sei denn, man gäbe das Evangelium preis. Es kann keinen Frieden mit den Verächtern der Demokratie geben.