„Wir wollen unseren Glauben nicht an den Nagel hängen!“
Das Buchprojekt „Nicht mehr schweigen“ versammelt Lebensgeschichten von homo-, bi- und transsexuellen Christ_innen. Das Projekt wird durch ein Crowd-Funding von den Leser_innen selbst finanziert.
Eule: Euer Projekt versammelt Lebensgeschichten von homo-, bi- und transsexuellen Menschen in der Kirche, die in den Gemeinden zum Teil verschwiegen werden. Warum ist es wichtig, dass diese Geschichten jetzt geteilt werden?
Platte: Mir ganz persönlich hat das gefehlt in meiner Biographie. Ich bin selber als sehr frommes, konservatives Kind aufgewachsen in einer christlichen Gemeinde, in der das Thema absolut tabu war. Da redete man nicht drüber. Ich kannte das Wort schwul gar nicht. Geschweige denn, dass ich zwei Männer oder zwei Frauen kennengelernt hätte, die irgendwie zusammen gewesen wären. Oder Transsexuelle, um die es im Buch auch geht. All das war in meiner kleinen, frommen Welt nicht präsent. Und doch habe ich schon als junger Mensch gemerkt, ich ticke irgendwie anders. Das konnte ich aber kaum in Worte fassen.
Diese Situation erleben ganz viele Leute, auch heute noch im Jahr 2018, dass man in seinem Umfeld niemanden hat, mit dem man darüber reden kann, weil man Angst hat. Angst vor den Folgen, Angst vor den Reaktionen der anderen. Angst, nicht verstanden oder ausgegrenzt zu werden.
In sehr konservativen Gemeinden und Kirchen unterschiedlicher Couleur ist die Situation für homosexuelle oder transidente Menschen nach wie vor sehr schwierig. Das Thema wird ja nach wie vor diskutiert, der Umgang damit und wie man dazu steht. Man diskutiert das dann biologisch oder theologisch, es gibt gesellschaftliche Debatten. Der Mensch, den es betrifft, geht dabei häufig unter.
Eule: Die Personen, die im Buch zu Wort kommen, stammen aus christlich-konservativem Umfeld. Was ist damit gemeint?
Platte: Das ist ganz gemischt. Die meisten kommen schon aus dem evangelikalen Spektrum, z.B. aus evangelischen Freikirchen. Aber auch aus dem katholischen Bereich und aus den Landeskirchen kommen Leute, weil auch dort die Situation für Betroffene teilweise sehr unterschiedlich ist.
Eule: Die Autor_innen bleiben anonym. Es sind also auch Personen dabei, die in ihren Gemeinden ungeoutet sind?
Platte: Ja, das stimmt. Deshalb haben wir es grundsätzlich so gemacht, dass alle Autor_innen nur mit Vornamen oder eben unter Pseudonym auftreten, um ihre persönliche Lebenssituation zu schützen. Die Autor_innen sind ja nicht alleine im Leben unterwegs, sondern da gehören Familien und Angehörige dazu, die von einem Coming-Out immer auch mit betroffen sind.
Eule: Als Herausgeber und Autor stehst Du mit deinem Namen für das Projekt. Wann hattest Du dein Coming-Out?
Platte: Das war 2012 und hat mein Leben ziemlich auf den Kopf gestellt. Es ist auch immer noch spannend mit Menschen zu reden und die eigene Geschichte zu erzählen. Das ist immer wieder ein neues Coming-Out, weil es natürlich immer die Unsicherheit beinhaltet: Wie geht der andere jetzt mit dieser Information um? Es sind immer wieder Aha-Erlebnisse, wenn ich Menschen treffe, die so überhaupt kein Problem damit haben, die einen als Menschen wahrnehmen und sich in meine Lebenssituation reindenken können.
Eule: Welche Konsequenzen hatte dein Coming-Out als Christ in der Kirche? Hast Du die Gemeinde gewechselt?
Platte: Für mich war relativ schnell klar, da bin ich falsch am Platz. Ich komme aus einer evangelisch-freikirchlichen Gemeinde, da ist das Thema nach wie vor sehr umstritten. Letztlich geht es immer um das „Ausleben“ der Homosexualität. Für mich war dann klar, wenn ich nicht mal mit einem Partner in der Bank sitzen kann, dann setz‘ ich mich auch nicht mehr alleine da hin. Denn ich bin schwul und das ändert sich auch nicht dadurch, ob ich es nun in einer Beziehung lebe oder nicht. Mein Schwulsein ist eine Veranlagung, die zu meiner Person gehört und wenn das nicht akzeptiert wird, dann muss ich da auch einen Strich drunter ziehen.
Eule: Vor allem in den USA gibt es die Selbstzuschreibung der „Affirming Churches“, die Kirchen benutzen, die offen für homosexuelle und transidente Menschen sind. Wo gehen denn Homo- und Transsexuelle bei uns zur Kirche, wenn sie aus ihren christlich-konservativen Gemeinden rausgehen?
Platte: Ja, das ist wirklich ein Problem. Natürlich kann man sich an der Landeskirche orientieren. Aber auch das ist je nach Landeskirche sehr unterschiedlich. Es kommen also auch Menschen im Buch vor, die sagen ganz klar: „Ich werde in meinem Dorf, in meiner Stadt keine Gemeinde finden, die mich akzeptiert.“ Das ist de facto so. Gerade im ländlichen Raum wird man da vergeblich suchen. Das sind existentielle Fragen für Menschen, die gerne in die Kirche gehen und das Gemeindeleben wertschätzen und vermissen. Das eigene geistliche Obdach zu verlieren, ist ein ganz schwieriger Schritt.
Da macht sich auch kaum jemand Gedanken darüber: Was passiert eigentlich mit den Menschen, die ich hier ausklammere, die ich verurteile? Was macht das mit ihrer Seele, mit ihrem Glaubensleben, mit ihrer Existenz als Christen? Da ist es besonders spannend in diese Biographien reinzuhören.
Für mich selber war die Vorbereitung des Buches eine sehr bewegende Zeit: mit Menschen in Kontakt zu kommen und mit ihnen über ihre Situation zu sprechen und immer wieder herauszuhören, dass sie ihren Glauben nicht an den Nagel gehängt haben. Aber so zu glauben, wie es ihre Gemeinden ihnen vorschreiben, das ist ihnen nicht mehr möglich.
Eule: Wie hast Du selbst das erlebt?
Platte: Bei mir selbst war dieser Konflikt sehr langwierig. Es war auch deshalb schwer, weil ich gemerkt habe, dass die Frommen die Schwulen nicht wollen, aber die homosexuelle Szene auch ein Problem hat mit Frömmigkeit. Die Ablehnung von Frömmigkeit bei Homosexuellen kommt ja häufig daher, dass man selbst ausgegrenzt wurde. Da habe ich mich zwischen allen Stühlen wiedergefunden. Wo gehöre ich eigentlich hin?
Eule: Das Buchprojekt wird gemeinsam mit dem Zwischenraum e.V. organisiert. Was ist das für ein Verein?
Platte: Zwischenraum sind Leute, die sich gesucht und gefunden haben. Eine Gruppe von Menschen, die aus verschiedenen Gemeindestrukturen geflogen sind, rausgekegelt wurden und für sich selber sagen: „Wir wollen aber unseren Glauben nicht an den Nagel hängen!“ Dort hatte ich sehr viele wertvolle Begegnungen mit Menschen, die ihren persönlichen Glauben und ihre sexuelle Orientierung miteinander vereinbaren können. Das hat mir sehr geholfen, mich dort zuhause zu fühlen. Überhaupt Menschen zu treffen, die mich so akzeptieren, wie ich bin. Das ist ja eine Sehnsucht, die jeder Mensch hat.
Eule: Hat sich dein Glaube nicht nur was die Gemeinde angeht, sondern auch inhaltlich geändert?
Platte: Ja, ich hab gemerkt, dass sich mein Blick auf viele Dinge geändert hat. Durch die Frage der Homosexualität, die ich mit meinem bisherigen Verständnis von Bibel, Glaube, Christsein nicht zusammenbringen konnte, habe ich gemerkt, dass ich eine andere Antwort finden muss, die mit meiner Lebenswirklichkeit zusammenpasst. Als ich mich auf den Weg gemacht habe danach zu suchen, habe ich angefangen viele andere Fragen zu stellen: Was stimmt denn jetzt eigentlich noch nicht? Was ist vielleicht nur fromme Prägung? Was ist eigentlich mein persönlicher Glaube, was bleibt mir noch?
Darüber jetzt im Nachhinein zu sprechen, ist natürlich einfach, aber in der Situation war das echt existentiell und schwierig, weil das ganze fromme Kartenhaus zusammenfällt. Und das macht Angst. Das macht auch Leuten Angst, die sich mit der Thematik auseinandersetzen und dann auf einmal merken, da muss ich noch über ganz viele andere Dinge nachdenken, die meinen christlichen Glauben und mein Bibelverständnis angehen. Denn neben den sechs Bibelversen, die Homosexualität thematisieren, stehen ja andere Verse, die man genauso ernst nehmen müsste. Da habe ich für mich ein neues Bibelverständnis finden müssen. Und neu entdecken: Was will eigentlich Gott von mir, von meinem Leben, von unserem Zusammenleben?
Eule: Ist ein Coming-Out für evangelikale Christen also gleichbedeutend mit einer Abkehr vom wörtlichen Verstehen der Bibel?
Platte: Ne, nicht Abkehr, sondern noch einmal intensivere Auseinandersetzung. Für mich hat das bedeutet, die Bibel noch einmal zu lesen und wirklich zu lesen, was da steht, und auch, was da nicht steht. Ich glaube, man lernt über viele Jahre hinweg, die Bibel durch eine bestimmte Brille hindurch zu lesen, die Welt und Gott zu sehen. Da schwingt eine Menge Prägung mit. Und das kommt dann auf den Prüfstand.
In diesen Konflikten, die dann aufgekommen sind, war mir immer klar: Es gibt einen Vater im Himmel. Aber alles andere war auf einmal weg. Dann nach und nach zu entdecken, dass die Verbindung nach oben geblieben ist, dass Gott es aushält, wenn ich zweifle, das ist was ganz Wertvolles. Ich erlebe Gott als jemanden, der mir nahe ist. Ich glaube, näher als je zuvor.
Eule: Ihr schreibt eure Lebensgeschichten in einer Zeit auf, in der Kirche sich vorgenommen hat – z.B. in den Missbrauchsdebatten – auf Menschen zu hören, die von ihren Verletzungen erzählen. Einen Verlag habt ihr für das Buch aber nicht gefunden. Woran liegt das?
Platte: Wir haben den Wunsch gehabt, mit einem christlichen Verlag einen Zugang gerade auch zu Lesern aus dem konservativem Spektrum zu finden, zu Menschen, die mit dem Thema noch gar keine persönliche Berührung hatten. Mit den Lebensgeschichten wollen wir ja die häufig verkopfte, rein theologische Debatte bereichern.
Interessanterweise hatte ich mit allen angesprochenen Verlagen eine sehr wertschätzende Zusammenarbeit. Es gab großes Interesse bei allen fünf Verlagen an dem Buch. Und doch war dann innerhalb der Verlage keine einheitliche Haltung zum Projekt zu erreichen. Da spielen auch wirtschaftliche Überlegungen eine Rolle. Da scheut man auch die Auseinandersetzung mit jenen Lesern, die doch sehr eindeutig denken bei diesem Thema und das lautstark klarstellen. Das finde ich natürlich schade, weil ja hier einfach Menschen aus ihrem Leben erzählen. Auf der anderen Seite habe ich durch die Gespräche viele interessante Leute kennengelernt, die sich hinter das Projekt stellen und uns unterstützen.
Eule: Ist denn der Inhalt des Buches so kontrovers?
Platte: Wir wollen niemanden anklagen, darum geht es gar nicht in dem Buch. Es kommen einfach Menschen zu Wort, die uns ihr Leben erzählen, wie es ihnen geht oder ergangen ist. Und die Leute können sich ihre eigenen Gedanken machen. Die Leser werden auf Menschen treffen wie Du und ich. Jeder hat seine Geschichte, seinen Glauben, seine Fragen. Das ist ganz wertvoll, einfach mal zuzuhören.
Eule: Das Buch soll jetzt durch Crowd-Funding realisiert werden. Ihr habt eine Kampagne bei Startnext gestartet. Was wird mit meinem Beitrag denn gemacht?
Platte: Ein Vorteil des Crowd-Fundings ist ja, dass die Beiträge der Unterstützer direkt in das Buch fließen, aber erst ausgeschüttet werden, wenn wir unser Funding-Ziel erreichen. Man kann also im Grunde über die Kampagne das Buch vorbestellen, zahlen muss man erst, wenn es auch gedruckt wird. Und dann haben wir uns natürlich noch einige Dankeschöns überlegt für diejenigen, die das Buch mit größeren Beträgen unterstützen wollen. Zuerst wollen wir das Lektorat und den Druck bezahlen, wenn mehr zusammenkommt, wollen wir auch eine Hörbuchversion anbieten und haben vielleicht noch etwas für Marketing und den Vertrieb übrig. Wer das Projekt unterstützen möchte, kann das noch bis zum 6. November 2018 tun.
Das Interview führte Philipp Greifenstein.