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Kolumne Post-Evangelikal

Wie haltet ihr es mit der Berufung zur Leiterschaft?

Viele sind berufen, doch nur wenige sind auserwählt – so steht es im Neuen Testament. Wie post-evangelikale Christ_innen an ihrem Bild von Leiterschaft in Gemeinden arbeiten:

Lieber Christoph,

im Matthäusevangelium können wir als Fazit eines der schwierigsten Gleichnisse Jesu lesen: „Denn viele sind berufen, aber wenige sind auserwählt.“ (Mt 22, 14). Manchmal habe ich den Eindruck, Pastoren und Leiter verhalten sich exakt so. Zwar sind alle Christ_innen, so viel haben wir von der Reformation gelernt, berufen („Priestertum aller Getaufen“), aber eben nur wenige dazu ausersehen, die Gemeinde zu leiten, öffentlich zu predigen, die Bibel mit Vollmacht und Konsequenzen für das Leben der Gemeinde auszulegen.

Mich überrascht manchmal die erstaunliche Selbstsicherheit der Leiter, sich im Recht zu wissen. Immerhin sprechen sie mit der Bibel und Gott im Rücken. Öffnet so ein Verständnis von Leiterschaft, dass sich direkt von Gott her begründet, nicht auch dem Missbrauch Tor und Tür?

Fröhliche Grüße!


Liebe Eule,

viele Menschen, die ich als post-evangelikal beschreiben würde, besuchen nicht mehr regelmäßig Gottesdienste und vertreten vielfach eine eher skeptische Haltung gegenüber gemeindlichen Organisationsformen. Manche würden gar soweit gehen, dass sie Gemeinde als “organisierte Religiösität” generell als eher schädlich beschreiben würden. Woher kommt das?

Meist ist eine solche Haltung mit Erfahrungen verknüpft, die man mit speziellen Leitungskonzepten in einem christlich-religiösen Umfeld gemacht hat, oftmals auch als aktiver Part. Für viele ist ein religiös geprägtes Verständnis von „Leiterschaft“, so wie sie es kennengelernt haben, eines der Kernthemen, warum sie sich aus einem evangelikalen Umfeld und Denkhorizont haben lösen wollen.

Natürlich ist Leitung zu erst einmal etwas, das uns in unserem Alltag überall begegnet. Mit Leitungsstrukturen haben wir überall zu tun, ob auf der Arbeit, im Ortsverein, in unseren Schulen oder in der politischen Arbeit. Überall dort, wo Gruppen sich organisieren oder gar institutionalisieren, kommt man früher oder später mit dem Thema in Berührung. Die Frage, die sich hier aber immer stellt ist, wie wir Leitung letztlich verstehen und begründen.

Welche Bedeutung, aber auch welche Rechte und Pflichten ordnen wir Leitungspositionen in unseren Gruppen zu? Welche Kontrollinstanzen haben wir installiert? Haben wir ein gemeinsames Wertepapier erarbeitet, an dem auch Leiter sich zu orientieren haben? Darf und kann man Leitung kritisieren, muss Leitung sich irgendwo verantworten? Und wenn ja, vor wem?

Die Frage der Verantwortung

In säkularen Zusammenhängen wird Leitung im besten Falle erst einmal hinsichtlich ihrer funktionalen Dimension gedacht. Menschen in Leitungspositionen müssen gewisse Kompetenzen mitbringen und haben sich im Rahmen ihrer Position auch zu verantworten. Am ehesten vergleichbar mit der Verantwortungssituation in Gemeinden sind vor allem pädagogische Berufe.

So orientiert sich Leitung in pädagogischen Zusammenhängen vor allem an einem gewissen Berufsethos, das als gesellschaftlicher Diskurs an den Universitäten, in der Politik, aber auch in Elternverbänden immer wieder diskutiert wird. Insbesondere als Lehrer steht man so unter dem Anspruch seine Handlungen und pädagogischen Positionen auch begründen und diskutieren zu können. Von Amts wegen sind einem hier also auch Pflichten, durchaus gar Verpflichtungen auferlegt, so vor allem auch der klare Fokus auf das Wohl der einem anvertrauten Schüler. Benotet man einen Schüler schlecht oder setzt Sanktionen ein, wird von einem erwartet dies im Einzelfall auch begründen und rechtfertigen zu können.

In religiösen Kontexten findet hinsichtlich der Frage der Verantwortung nun oftmals allerdings eine nicht ganz unproblematische Verschiebung statt. Statt sich als Leiter nämlich primär erst einmal den Menschen zuzuwenden, die einem anvertraut wurden, wird hier oftmals an erster Stelle eine „Verantwortung gegenüber Gott“ postuliert. Das ist natürlich ein problematischer Move, da man hier bereits einen wesentlichen, moralischen Grundsatz aushöhlt, nämlich den, den einzelnen Menschen für sich als Sinn und Zweck des eigenen Handelns zu verstehen.

Leitung als Anleitung zum „rechten“ Glauben

Eine solche Verschiebung kann sich dann je nach religiöser Gruppe unterschiedlich ausgestalten. In orthodox geprägten Kreisen bedeutet dies eine vorrangige Verpflichtung gegenüber der „reinen Lehre“. Leiter haben vor allem die tradierten Dogmen und Glaubenssätze der eigenen Bewegung zu bewahren. Als Prediger oder Leiter eines Bibelkreises bin ich in erster Linie für die richtige Lesart der christlichen Inhalte verantwortlich.

So war beispielsweise bei den strengen Lutheranern lange undenkbar, dass heimische Bibelgruppen und Hauskreise von Laien geleitet wurden, denn ihnen fehlte ja die nötige Kenntnis, um die Bibel auch korrekt auszulegen. In der pietistischen Tradition wiederum steht weniger die Einheit der Lehre im Vordergrund, dafür oftmals Aspekte der Lebensführung, auch der gelebten Frömmigkeit, die vorbildlich zu sein hat. Hier wird also vor allem in das persönliche, auch private Leben von Menschen geschaut, ob diese für einen „Dienst an der Gemeinde“ auch geeignet sind.

Bei beiden Ansätzen ist so vor allem der Moment der Anpassung signifikant. Wer leiten will, oder in solche Funktion berufen wird, der muss in seinem Glauben, seiner Frömmigkeit und seinem Lebenswandel vorbildlich sein, d. h. sich den gegebenen Normen und Vorstellungen anpassen. Hier wird dann oft auch der Begriff des “Dienstes” bemüht. Denn “wem viel gegeben ist, von dem wird auch mehr erwartet” – so der vielzitierte Topos. Leiter gelten als herausgerufen, als Menschen, von denen nun auch mehr erwartet wird als von “normalen” Christen.

Für Christen, die in solchen Systemen aufwachsen und für sich selber vielleicht den Wunsch entwickeln, Leitungsverantwortung in der Gemeinde zu übernehmen, heißt dies häufig auch Druck ausgesetzt zu sein, der durchaus missbräuchliche Züge annehmen kann, da er bis in die privatesten Bereiche des Leben hineinwirken kann. Gerade junge Menschen können sehr tiefe Schuldgefühle ausprägen, sollten sie am Ende an den gesetzten, oft auch moralischen Ansprüchen scheitern.

Der „berufene“ Leiter

Noch problematischer wird das Thema, wenn Leitung nicht nur sozial, sondern auch als geistliches Motiv aufgeladen wird. So findet man in eher charismatisch geprägten Gemeinschaften oft den Gedanken, dass Gott eine persönliche Berufung für dein Leben hat, eben unter Umständen auch die Berufung zur „Leiterschaft“. Im Modus eines solchen persönlichen „Herausgerufenseins“ wird das Thema Leitung nochmals hochgradig individualisiert, was zur Folge hat, dass jedes Scheitern an der eigenen “Berufung” als persönliches Versagen, als ein Verfehlen des Weges interpretiert wird, der von Gott für einen gedacht war.

Natürlich zieht die Idee des „berufenen Leiters“ vor allem junge Menschen an, die dies in ihrer Suche nach Identität und Bedeutung abholt. Indem sie sich nach solchen Vorstellungen ausrichten und vielleicht selbst versuchen, Stufen auf der christlichen Karriereleiter zu meistern, reproduzieren sie natürlich auch die dahinterliegende Topik weiter. Leider funktioniert das Ganze immer nur solange auch die persönlichen Biografien erfolgreich verlaufen.

Prediger im Scheinwerferlicht, Foto: Hermes Rivera (Unsplash)

Kommen die ersten Lebenskrisen, die ersten Zweifel auf, kommt man schnell auch einmal unter die Räder eines solchen Systems. Ob das nun die persönliche Lebensführung betrifft, eher liberalere Standpunkte, die man herausgebildet hat, oder einfach auch formulierte Zweifel, die vielleicht auch kritische Töne anschlagen. Fällt man die christliche Karriereleiter einmal herunter, stellt sich in vielen hochreligiösen Kreisen schnell ein Abwehrreflex ein, der Menschen als Problem markiert, was in manchen Fällen auch ernste seelische Verletzungen mit sich bringen kann.

Eine weitere Folge, die sich aus einer solch individualisierten Vorstellung von „Leiterschaft als Berufung“ ergibt, ist, dass Erfolg als „Segen Gottes“ oft in besonderer Weise als qualitatives Merkmal einer „bevollmächtigten Leiterschaft“ rezipiert wird. So kommt es nicht von ungefähr, dass gerade im charismatischen Raum der Typus des „charismatischen Leiters“ besonders viel Anerkennung und Gehör findet. Funktioniert Frömmigkeit in streng pietistischen Rahmen eher durch “Tiefstapeln”, treten die Shootingstars der charismatischen Szene zunehmend als rhetorisch geschickte moderne Performer auf.

Gemeinde als Feld der Selbstprofilierung

Wo es Leiter gibt, da gibt es auch Schäfchen. Aber wer von uns will schon gerne Schäfchen sein? In meiner freikirchlichen Gemeindelaufbahn habe ich daher Gemeinde auch immer wieder als ein Feld der Selbstdarstellung erlebt. Gerade das Narrativ des “berufenen Leiters” öffnet hier einen Raum, in dem Menschen, die sich als „berufen“ empfinden, am Ende subversive Kleinkriege um Anerkennung und Einfluss in der Gemeindearbeit führen.

Kaum ein anderer sozialer Raum ermöglicht es Menschen mit einer narzisstischen Persönlichkeitsstruktur, sich auf Kosten anderer zu profilieren und Mitmenschen zu manipulieren. Ich kenne letztlich nicht eine einzige charismatisch geprägte Freikirche, die solche Machtkämpfe und solchen Zwietracht nicht kennt, und die sich nicht mit irgendwelchen selbsternannten “Propheten”, “wahren Lehrern” oder eben „berufenen Leitern“ hat rumschlagen müssen.

Da aber das grundlegende Leitungsverständnis in der Regel nicht als ursächlich für solche Probleme reflektiert wird, führen solche Szenarien meist eher dazu, dass Leitungsstrukturen sich nur noch weiter verfestigen und noch stringenter werden.

Praktisch heißt dies, dass man in vielen Fällen über Jahre keine anderen Köpfe in den Leitungskreisen sehen wird als die bereits etablierten und deren beste Buddies. Der Stabilität wird letztlich also sowohl die Durchlässigkeit wie auch die Vielfalt geopfert. Gerade jüngere Gemeindeprojekte hängen sich so bereits in ihrer Gründung sehr stark an einzelnen, charismatischen Leitungspersönlichkeiten auf und erinnern oft eher an Start Ups aus der Wirtschaft als an eine christliche Community. Die Frage ist, muss das so sein?

Interessanterweise sind pietistische Gruppen mit ihrem Konzept des Ältestenkreises hier oft deutlich demokratischer unterwegs. Hier wird der Leitungskreis nämlich, im Gegensatz zu den meisten charismatischen Gemeinden, tatsächlich regelmäßig neu gewählt. Es gibt also eine gewisse demokratische Kontrolle, die Menschen in Leitungsverantwortung bestätigen und gegebenenfalls auch abwählen kann. Leitung ist hier also nicht individualisiert an bereits „berufene“ Personen geknüpft, sondern wird diesen erst von der Gruppe aus zugesprochen.

Gemeinschaft auf Augenhöhe

Auch Post-Evangelikale lehnen die Idee einer persönlichen Berufung zur “Leiterschaft” im Gro ab. Dies liegt auch daran, dass ein solches Narrativ im Kern Vorstellungen transportiert, die nur wenig mit unseren heutigen, humanistischen Werten um Mündigkeit, Autonomie, Gleichberechtigung und Demokratie vereinbar sind. Zudem hat man ja, wie eingangs erwähnt, überall im Alltag bereits mit Leitungsstrukturen zu tun, da sucht man die vielleicht nicht auch noch in seinem privaten Umfeld, seinem Freundeskreis.

Als Mosaik Düsseldorf benutzen wir daher auch gerne den Begriff Community. Mit diesem Begriff wollen wir bewusst einen Unterschied machen, denn wir suchen Begegnung auf Augenhöhe. Wenn wir uns als Gemeinschaft treffen, dann wollen wir uns untereinander austauschen, ermutigen und bereichern lassen auf unserem persönlichen Glaubensweg. Wir sind alle Individuen mit unterschiedlichen Hintergründen und Weltanschauungen, die Gemeinschaft leben wollen, in der sich jeder mit seinen Perspektiven, Erfahrungen und Fragen als gleichwertiger Teil auch einbringen können soll. Unser Anspruch ist nicht uns gegenseitig zu korrigieren oder zu belehren, sondern uns vor allem miteinander inspirieren zu lassen.

Nichtdestotrotz sind auch kleinere Gruppen keine machtfreien Räume. Gerade im Falle sehr flacher Hierarchien besteht die Gefahr, dass sich eine unausgesprochene Leiterschaft installiert, die manchmal vielleicht sogar problematischer ist als eine autoritäre Leitung, die zumindest klar adressierbar bleibt. Gerade deshalb ist es wichtig, sich der Mechanismen von Leitung bewusst zu werden und darüber zu sprechen. Leitung kann auch heißen, sich Klarheit zu verschaffen, welche Strukturen wir wollen und brauchen, um eine “Gemeinschaft auf Augenhöhe” auch realisieren und gegen übergriffige Personen schützen zu können.

Die Frage ist also oft weniger, wer letztlich den Ton angibt, als vielmehr die Mechanismen sichtbar zu machen, die hier wirken, um diese als Gruppe auch gezielt gestalten und konstruktiv einsetzen zu können. Wichtig ist hierbei meines Erachtens einen ideologischen Begriff von “Leiterschaft” zu meiden. Egal ob dieser nun in Form der “Berufung” an Personen geknüpft ist, als “reine Lehre” eine kirchliche Autorität repräsentieren soll, oder sich an der Idee des “moralischen Vorbilds” orientiert. Leitung ist etwas, das der Gruppe dienen sollte und dieser im besten Fall die Struktur und Freiheit gibt Begegnung und Miteinander zu ermöglichen, ohne dass Einzelne sich übermäßig profilieren und andere dominieren können.

Persönlich vertrete ich deshalb durchaus den Standpunkt, dass es auch für kleinere Gruppen klug ist, die Besetzung von Leitungspositionen regelmäßig bewusst zur Diskussion zu stellen. Mit einem solchen demokratischen Moment strukturiert und fördert man nämlich nicht nur eine gesunde Kultur der Kritik, sondern unterstützt auch den Gedanken der Verantwortung gegenüber der Gruppe, der als grundlegendes Ethos die Funktion von Leitung in unseren Gemeinschaften meines Erachtens prägen sollte.

In diesem Sinne also – lasst euch nicht “verleiten”.

Herzlichen Dank für das Interesse und auf ein nächstes Mal!