Schleiermacher und die Juden
Der 250. Geburtstag Friedrich Schleiermachers wird gefeiert. Pünktlich zum Jubiläum feiern auch seine theologischen Impulse eine Renaissance. Und auch sein lange versteckter Antijudaismus ist wieder aktuell.
In den Foyers der Theologischen Fakultäten von Halle und Berlin steht seine Büste, an ihm vorbei geht es zum Theologiestudium. Ohne ihn gäbe es keine protestantische Theologie des 19. und 20. Jahrhunderts, ob in An- oder Ablehnung seines Denkens. Noch heute wird er auf der einen Seite heftig verschmäht und gilt auf der anderen Seite den progressiven und liberalen Theologen als godfather of theology.
Popstar seiner Zeit
Geboren wurde Friedrich Schleiermacher als Sohn eines reformierten Predigers, aufgewachsen ist er unter der Obhut der Herrnhuter Brüdergemeine, gelebt hat er in Berlin. Seine erste Professur erhielt er 1804 in Halle (Saale), wo er als Universitätsprediger wirkte.
Nach Schließung der Universität durch Napoleon kehrte er nach Berlin zurück, wurde Gründungsdekan der Theologischen Fakultät der neugegründeten Berliner Universität, respektierter Lehrer, Kirchenpolitiker und Bildungsreformer. Als Prediger und Hochschullehrer prägte er seine Zeitgenossen. Als Theologe formte er eine ganze Epoche. Am Tag seiner Beerdigung sollen Tausende die Straßen der Stadt gesäumt haben.
Die bleibende Verehrung die sich Schleiermacher im Protestantismus erworben hat, wurde durch die Dialektische Theologie verdrängt, doch nie gebrochen. Dass der christliche Glaube im religiösen Selbstbewusstsein wurzelt und nicht in der Offenbarung, diese Idee haben ihm einige bis heute nicht verziehen. Doch liegt in dieser Grundentscheidung und ihren weitreichenden Konsequenzen bis heute der große Charme der Theologie Schleiermachers.
Seine über weite Strecken des 20. Jahrhunderts als „Kulturprotestantismus“ verschmähten Impulse lohnen der Wiederaufnahme: Sei es bei der Formulierung einer Theologie der Digitalität, bei der Betrachtung von Gottesdienst und Kanzelrede und in Fragen des interreligiösen Dialogs. Auf allen Feldern erweist sich Schleiermachers theologisches Denken als anschlussfähig an die Debatten unserer Tage.
Doch ist es bis heute nicht allein die Aktualität seines Denkens, sondern die Bewunderung seiner Gestalt, die ihm immer wieder Rennaissancen beschert. Anlässlich des 250. Geburtstages hat die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO) eigens eine sechsteilige Videoreihe zu seiner Biographie produziert.
Die Spaziergänge mit Propst Christian Stäblein führen an einige Orte der Biographie Schleiermachers. Das ist hübsch anzusehen und interessant, obwohl die zahlreich abgefilmten Büsten des „Kirchenvaters des Protestantismus“ zuweilen aufs Gemüt schlagen.
Spannend an dieser populärwissenschaftlichen Aktualisierung sind die Auslassungen. Schleiermachers Hallenser Jahre als Student, junger Professor und Universitätsprediger zum Beispiel. Stattdessen zieht Stäblein in der dritten Folge durch Potsdam, inklusive des obligatorischen Besuchs an der Baustelle der Garnisonskirche. Aber das interessiert vielleicht nur, wer an der Konkurrenz zwischen den preußischen Universitäten in Halle und Berlin Gefallen findet. Schlimmer wiegt eine andere Auslassung.
Tiefsitzender Antijudaismus
Den „Kirchenvater des Protestantismus“ muss man heute bei aller Wertschätzung auch kritisch nach seiner Haltung zu schwierigen Traditionen des Protestantismus befragen.
Schleiermachers Antijudaismus ist in seinen Schriften belegt und – seitdem die Arbeit an der Kritischen Gesamtausgabe voranschreitet – auch Gegenstand der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Nur in der populärwissenschaftlichen Ausbreitung Schleiermachers durch die Kirchen ist davon bisher wenig angekommen. Wissenschaftler haben in den letzten Jahren antijudaistische Ressentiments in Schleiermachers Denken identifiziert, im häufig aufgemachten Gegensatz von Alt und Neu z.B. eine „systematisch ausgebildete Verwerfungsfigur“ erkannt.
Matthias Blum, katholischer Theologe und Pädagoge, ist in seiner Habilitationsschrift an der FU Berlin („Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik, 2010) dem Antijudaismus Schleiermachers in der Pädagogik nachgegangen. In seiner Arbeit macht er darauf aufmerksam, dass Schleiermachers interdisziplinäres Wirken nicht ohne seine Theologie gedacht werden kann und darum auch nicht ohne die ihr innewohnende Geringschätzung des Judentums.
In den noch heute anregenden „Reden über die Religion“ findet sich eben auch das Ressentiment, der jüdische Glaube sei
„schon lange eine tote Religion, und diejenigen, welche jetzt noch seine Farbe tragen, sitzen eigentlich klagend bei der unverweslichen Mumie und weinen über sein Hinscheiden und seine traurige Verlassenschaft.“
Aus dem schroffen Gegensatz von Christen- und Judentum folgt bei ihm eine unsachgemäße Abwertung der jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens und des Alten Testaments. Für Schleiermacher sei Jesus, so Blum,
„etwas vollkommen Eigenes […], was von der ihn umgebenden jüdischen Kultur absolut unbeeinflusst ist“.
Schleiermachers theologischer Antijudaismus bleibt unreflektiert und ist nur als Teil seiner Apologetik des Christentums zu verstehen. Es bleibt vorerst ein Rätsel, warum es gerade dem Theologen der Geselligkeit nicht gelang, seine judenfeindlichen Vorurteile durch eigene Anschauung oder freundschaftlichen Kontakt – Henriette! – zu revidieren.
Antijudaismus mit erstaunlicher Wirkungsgeschichte
Der 1812 in Preußen vollzogenen Judenemanzipation steht Schleiermacher, der sonst am preußischen Reformwerk aktiv teilnimmt, kritisch gegenüber. Schleiermacher sprach sich zwar nicht gegen Bürgerrechte für Juden aus, forderte aber von ihnen eine öffentliche Loyalitätserklärung, fürderhin die bürgerlichen Gesetze über ihre religiösen zu stellen. Die Hoffnung auf einen Messias sollten die Juden aufgeben. Auf diese Weise würde ein jüdisches Leben völlig unmöglich. Auch diese Gedanken Schleiermachers sind heute leider aktuell.
Wie viele Reformer trat Schleiermacher der Deutschen Tischgesellschaft bei, der nur Christen angehören durften. Die Gesellschaft nahm darüber hinaus keine getauften Juden auf und setzte sich für die Diskriminierung von Juden im öffentlichen Leben ein.
Schleiermachers Antijudaismus gehört einer gründlichen Kritik unterzogen. Nicht, weil es sich um einen ausformulierten religiösen Antisemitismus handelt und auch nicht, weil er zu Schleiermachers Lebzeiten wirkmächtig oder außergewöhnlich war. Blum weist in seinem Buch zu Recht auf den historischen Kontext der Äußerungen hin: Danach ist Schleiermachers Geringschätzung nicht zuletzt Folge eines erheblichen Desinteresses am Judentum.
Sondern weil die antijudaistischen Ressentiments in Schleiermachers Werk nach seinem Tod Karriere im Protestantismus gemacht haben. So kommt Matthias Wolfes in seiner Rezension von Blums Buch zu dem Schluss:
„Die […] negativen Urteile über Emanzipation und kulturelle Zugehörigkeit der Juden haben, sofern in ihnen ein prinzipieller theologischer und sozialer Antijudaismus zum Ausdruck kommt, einen nicht zu leugnenden Anteil an der Etablierung einer signifikant judenfeindlichen Haltung im deutschen evangelischen Bürgertum.“
Lernen aus der Geschichte?
Wenn gegenwärtig wieder um die Bedeutung des Alten Testaments für den christlichen Gottesdienst gerungen wird, dann wird in evangelischen Kirchen auch an das Erbe des „Kirchenvaters“ Schleiermacher zu denken sein. In die neue Perikopenordnung, die am 1. Advent eingeführt wurde, sind vermehrt alttestamentliche Texte aufgenommen worden. Eine Lektion aus einer Konfessionsgeschichte voller Geringschätzung gegenüber den jüdischen Wurzeln des eigenen, christlichen Glaubens.
In der kritischen Betrachtung seiner eigenen Wurzeln ist der Protestantismus eigentümlich gründlich und – was z.B. die Gestalt des Reformators Martin Luther angeht – auch weit fortgeschritten. Am Beispiel Schleiermacher aber sehen wir, dass es mit Lutherkritik nicht getan ist: Aus den längst totgeglaubten Wurzeln evangelischer Judenfeindschaft, aus denen schon einmal rassistischer Judenhass in Wort und Tat erwachsen ist, sprießen auch heute frische Triebe.
Im gegenwärtig gerade unter sich als progressiv verstehenden Evangelen anzutreffenden Muster des israelkritischen Antisemitismus taucht eine Geringschätzung jüdischer Glaubensvorstellungen unter Protestanten auf, die nicht ohne einen gründlichen Blick auf die eigene Geschichte bekämpft werden kann.