Soli-Kippas – Die #LaTdH vom 2. Juni
Kippa, Al-Kuds-Marsch, abendländischer Antisemitismus und die Frage, wer darf wie erinnern. Außerdem: Das liebe Geld der Kirchen, Rücktrittsforderungen und Rentner-Bashing.
Debatte
Israel-Gegner erleben in Berlin starken Gegenprotest (rbb)
Die wenigen Hundert Al-Kuds-Demonstranten sahen sich dieses Jahr einem vielfältigen, bunten Gegenprotest gegenüber. So soll es sein. Die unerträglichen Parolen der Ak-Kuds-Märsche entkräftet man nicht durch Verbotsforderungen. Man soll ihnen lautstark entgegentreten. Das ist überzeugender. Und wo Überzeugungskraft nicht mehr greift, weil sich die Al-Kuds-Marschierer in eine Parallelwelt verabschiedet haben – wie Antje Schmelcher in der FAZ schreibt -, dann sendet man so wenigstens ein starkes Signal der Ablehnung von Antisemitismus. Aus dem rbb-Bericht:
Zu den Gegendemos hatte ein breites Bündnis aus Parteien, Gruppen und Initiativen aufgerufen. Daran nahmen auch bekannte Politiker und Persönlichkeiten teil. „Wenn Antisemiten ihr hassendes Haupt erheben, ist Widerstand angesagt. Deshalb sind wir hier“, sagte die Linke-Bundestagsabgeordnete Petra Pau auf einer Gegenkundgebung. Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, Felix Klein, der Grünen-Politiker Volker Beck und Israels Botschafter in Deutschland, Jeremy Issacharoff, waren vor Ort.
Berlins Innensenator Andreas Geisel (SPD) trat ebenfalls bei der zentralen Gegendemonstration auf – wie angekündigt mit Kippa als Zeichen der Solidarität. „Wir stehen fest an der Seite der Juden, die hier leben, und an der Seite Israels“, sagte er vor Demonstranten mit Israel-Fahnen.
Gut, dass Innensenator Geisel sich nicht nur um harte Auflagen für die Demonstration bemüht hat, sondern im Stile eines Demokraten auch selbst zur Demo kam. Über die Soli-Kippa lässt sich streiten und wird gestritten: Handelt es sich dabei wirklich nur – wie beabsichtigt – um eine Geste der Solidarität oder um „Kulturelle Aneignung“ (cultural appropriation)?
Mit diesem Begriff wurde ursprünglich kritisiert, dass Weiße mit den bunten Kulturen der Nicht-Weißen, die ihnen nicht gehören, auch noch Geld verdienen. Solidarität heißt im besten Sinne, sich an die Seite eines Schwächeren, Hilfesuchenden, Unterdrückten zu stellen. Niemand fordert internationale Solidarität mit Reichen und Mächtigen. Damit ist eine klare Rollenzuweisung verbunden: Ich als starker und mitleidiger Partner erkläre mich mit dir solidarisch und deshalb setze ich mir z.B. eine Kippa auf.
Vollends ins Kippen gerät die Kippa-Solidaritätsgeste, weil mit dem Anlegen jüdischer Symbole eben ihre Perspektive auf die ganze jüdische Geschichte übernommen wird, und zu der gehört, dass die Deutschen und ihre willfährigen europäischen Helfer die europäischen Juden in Konzentrations- und Vernichtungslager führten, sie vergasten und millionenfach am Rande von Todesgruben erschossen.
Auf diese Schwierigkeit des Erinnerns der Täternachfahren hat die Historikerin Marie Sophie Hingst in ihren Texten immer wieder hingewiesen. Auch wir haben schon Artikel ihres Blogs hier in den „Links am Tag des Herrn“ verlinkt. Nun scheint – nach einer Recherche des Spiegel – erwiesen, dass Hingst sich dazu selbst eine jüdische Herkunft erfand. Aufgeschrieben hat Martin Doerry die „Story“ übrigens im feinsten Spiegel-Stil mit szenischem Einstieg und allem Pipapo. Narrativität rulez. Beim Spiegel auch in einem Text über das Erzählen erfundener Geschichten.
Anke Gröner (@ankegroener) schreibt in ihrem Tagebucheintrag über den Fall und sortiert das auch für Leser*innen, die von Hingst und ihrem Blog bisher nicht so viel mitbekommen haben:
Ich kann den genauen Eintrag nicht mehr benennen – und jetzt kann ihn auch nicht mehr suchen, denn das Blog ist gelöscht oder zumindest offline –, aber ein paar historische Details, den Holocaust bzw. ihre Familiengeschichte betreffend, schienen mir nicht so recht zusammenzupassen. Es war mir nicht wichtig genug, um das ganze Blog rückwärts zu lesen oder die Inhalte ernsthaft zu prüfen – es war nur ein unbehagliches Gefühl. Ich ahne inzwischen, warum ich diesem Gefühl nicht weiter nachgegangen bin – was bilde ich mir als Nachkomme der Tätergeneration ein, eine Opferschichte anzuzweifeln?
Und genau das ist die Fallhöhe.
nachgefasst
Mo Money Mo Problems
Den Amtskirchen kommen die Gläubigen abhanden. Der neuesten Untersuchung nach werden 2060 nur noch halb so viele Menschen Mitglied einer evangelischen Landeskirche oder röm.-kath. Diözese sein. Letztere finden heute auch kaum noch Nachwuchs für das Priesteramt. Auch bei den Evangelen sinkt die Bereitschaft junger Menschen, als Pfarrer*innen für die Kirche tätig zu sein. Die Konsequenzen, die beide Kirchen daraus ziehen, unterscheiden sich gleichwohl. Nur Geld, Geld scheint genug da zu sein. Vielleicht werden wir es dereinst erleben, dass von den beiden großen Kirchen am Ende das übrig bleibt: Ein Haufen Zaster.
Dazu: Bei SpiegelOnline wird dem Reichtum der katholischen Bistümer nachrecherchiert– inkl. einer aufschlussreichen interaktiven Grafik. Es bleibt den Bistümern überlassen, zu erklären, warum z.B. im Erzbistum Hamburg 6 Schulen geschlossen werden müssen, wo doch anderswo mehr als genug Geld da wäre? Die innerkirchliche Solidarität wird jedenfalls herausgefordert.
Schaut man sich die Jahresabschlüsse der Diözesen an, werden große Unterschiede deutlich. Zum einen bei Fragen zur Bilanz im engeren Sinne: wie vermögend ein Bistum ist und wie es sein Geld angelegt hat. Zum anderen macht ein Blick auf die Abschlüsse deutlich, dass eine genaue Beurteilung des Vermögens immer noch schwierig ist.
Und in der Christ & Welt fragen sich Frank Drieschner und Fabian Klask warum die Projektion 2060 nicht für mehr Trubel in den Kirchen gesorgt hat – besonders evangelischerseits wurde ja mit Achelzucken auf die Prognose reagiert. Ein Grund: Viele rechneten mit einem noch schlimmeren Ergebnis. Macht sich jetzt Erleichterung breit, oder sieht so Fatalismus aus?
Die heikelste Zukunftsfrage ist natürlich die nach der Theologie von morgen: Wenn die Christen weniger werden, wenn sie verstreut leben oder, im Gegenteil, die Nähe der anderen suchen müssen, um nicht zu vereinzeln: Ändern sich dann ihre religiösen Überzeugungen? Was glauben die Christen von morgen, und wie werden sie ihren Glauben praktizieren?
Was „die Christen“ von morgen glauben, könnte deshalb stärker dem gleichen, was sie einmal glaubten, als sie gerade keine kleine jüdische Sekte mehr waren. Das löst Ängste aus, weil es natürlich nichts mehr zu verteilen gäbe – kein Geld, keine Macht, keine Deutungshoheit -, wenn da nichts mehr ist.
Forscher Dreßing erwartet Rücktritte in der Kirche – Gerd Felder (Kirche + Leben)
Der Mannheimer Psychiater Harald Dreßing hat an der MHG-Studie zum Missbrauch in der röm.-kath. Kirche in Deutschland mitgeschrieben, auf einer Veranstaltung in Münster, wiederholt er die Empfehlungen, die aus der Studie abgeleitet werden können. Insbesondere beharrt er auf einer stringenten Aufarbeitung, inkl. einer Dunkelfeldstudie und Rücktritten der Verantwortlichen. Denn:
Jeder Beschuldigte im Missbrauchsskandal habe mehrere Mitverantwortliche, die etwas gewusst hätten, „darunter Leute, die noch in Amt und Würden sind“, so Dreßing. Diese Personen, auch Bischöfe und Generalvikare, müssten benannt und aufgefordert werden, Verantwortung zu übernehmen. […] Dreßing betonte ausdrücklich, dass das Risiko sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Strukturen der Kirche fortbestehe: „Es gibt nach wie vor neue Taten.“ Die Quote der beschuldigten Priester habe in den Jahren 2009 bis 2015 gegenüber früheren Jahren nicht abgenommen, sondern bleibe relativ gleich.
Buntes
Rentner, gebt das Wahlrecht ab! – Johanna Roth (taz)
Johanna Roth (@joha_roth) empfiehlt in der taz den Alten des Landes nicht nur, ihren Führerschein abzugeben, wenn es mit dem Sehen und Lenken nicht mehr passt, sondern gleich auch ihr Wahlrecht zu delegieren.
Was wir brauchen, ist eine Epistokratie der Jugend: das Wahlalter herabsenken und nach oben begrenzen – oder zumindest deutliche Anreize dafür setzen, die eigene Stimme an Jüngere zu delegieren. Zugespitzt hieße das, Unschuldige vor einer in fundamentalen Fragen inkompetenten Wählerklientel zu schützen. Das kann man jetzt demokratiefeindlich finden, ich finde es nur vernünftig, sich darüber zumindest mal Gedanken zu machen.
Bibel
Trägt der Teufel Kippa? – Till Magnus Steiner (Dei Verbum)
Auf dem Bibelblog Dei Verbum schreibt Till Magnus Steiner (@TillMSteiner), der in Jerusalem lebt und arbeitet, mit der Bibel im Gepäck:
Wo ist die sogenannte deutsche Leitkultur, die doch so laut gefordert wird? Zeigt sie sich in den 90% der Täter der 1800 antisemitischen Straftaten2) im vergangenen Jahr? Deutsche Rechtsextreme – eine Minderheit der Gesellschaft – leben ihren Antisemitismus wieder in aller Öffentlichkeit inmitten der demokratischen, freien Gesellschaft aus. Und der mahnenden Worte gibt es viele. Doch Worte allein besiegen den Antijudaismus und den Antisemitismus nicht, der sich schon seit Jahrhunderten durch die deutsche und die christliche Geschichte zieht.
Ist das christliche Abendland nicht ohne Antisemitismus zu haben? Das Europa der Kultur und der christlichen Religion wurde als Gegensatz zu den heidnischen Wilden (im Norden) und zur jüdischen Religion (im Süden) konstruiert. Ein Baufehler, der sich vielleicht nur durch Abriss beheben lässt.
Ein guter Satz
Wenn deine Autokorrektur eher auf Augustinus als auf August kommt, dann is doch irgendwas falsch in deinem Leben…
— Svenja Nordholt (@wortholt) May 9, 2019