„So will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und es abwehre“
Lässt sich Martin Luthers Gedanken über den Glauben in Seuchenzeiten heute noch etwas abgewinnen? Ein Blick in die Kirchengeschichte am Karfreitag und zum Osterfest:
Eine kirchenhistorische Perspektive auf Corona – ist das überhaupt möglich? Das Virus ist schließlich neu und dass inzwischen die allermeisten Länder auf allen Kontinenten betroffen sind, hat es so auch noch nicht gegeben. Unsere globalisierte Lebenswelt und die damit einhergehende nicht nur hohe, sondern auch rasante Mobilität so vieler Menschen ist ein Faktor, den es in früheren Zeiten nicht gab.
Doch die Frage geht weiter: Gibt es Analogien, Erfahrungen, Ressourcen, an die man anknüpfen kann, etwa im Umgang mit Epidemien? Dem soll hier – dezidiert aus der Perspektive der Gegenwart – nachgegangen werden.
Am Anfang: Ein Luther-Zitat
In den sozialen Netzwerken wird aktuell ein Zitat Martin Luthers vielfach geliked und geteilt:
„So will ich zu Gott bitten, dass er uns gnädig sei und es abwehre. Danach will ich auch räuchern, die Luft reinigen helfen, Arznei geben und nehmen, Orte und Personen meiden, wenn man mich nicht braucht, damit ich mich selbst nicht vernachlässige und dazu durch mich vielleicht viele andere vergiftet und angesteckt werden und ihnen so durch meine Nachlässigkeit eine Ursache des Todes entsteht.“
Deutlich wird darin, wie für Luther selbstverständlich zusammengehört, was leider immer wieder gegeneinander ausgespielt wird: Sich vertrauensvoll, zugleich demütig und erwartungsvoll mit Klage und Bitte im Gebet an Gott zu wenden und das in unserer Macht Stehende zu tun, die für sich und andere notwendigen Vorsichtsmaßnahmen zu berücksichtigen.
Das Zitat stammt aus Luthers Schrift „Ob man vor dem Sterben fliehen möge“, die er anlässlich der 1527 auch in Wittenberg ausgebrochenen Pest verfasst hat. Es lohnt sich, diese Schrift in den größeren Horizont historischer Epidemien und des christlich-theologischen Umgangs mit ihnen einzuordnen.
Die apokalyptischen Reiter
Zunächst ist festzustellen, dass größere Seuchen – dies ist der über Jahrhunderte genutzte Begriff für bedrohliche und sich schnell ausbreitende Krankheiten – häufig im Zusammenhang mit Kriegen auftraten. Denn tatsächlich waren die „Begleitumstände“ von Kriegen, wie Hungersnöte und Krankheiten, oft „tödlicher“ als die kämpferischen Auseinandersetzungen selbst.
So sorgte die „Spanische Grippe“ 1918 bis 1920 im Anschluss an den Ersten Weltkrieg für mehr Tote als der Krieg. Dasselbe lässt sich über den Dreißigjährigen Krieg 1618 bis 1648 sagen: Weitaus mehr Menschen starben aufgrund der Verwüstung ganzer Landstriche und der zahlreichen Seuchen, sowohl innerhalb der Heere als auch in der Zivilbevölkerung. Es verwundert also nicht, wenn Krieg, Hunger, Krankheit und Tod miteinander in Verbindung gebracht und nicht selten mit dem Eintreten des einen auch die anderen erwartet wurden.
Zum Umgang mit diesen Katastrophen wurde auf die Bibel zurückgegriffen. In Offenbarung 6, 1-8 erscheint das eindrückliche Szenario von vier rätselhaften „apokalyptischen Reitern“. Das Szenario hat eine lange und breite Auslegungsgeschichte und wurde vielfach auf Bildern veranschaulicht. Denn die „apokalyptischen Reiter“ boten den Menschen die Möglichkeit, das hereinbrechende Unheil, dem man sich hilflos ausgeliefert sah, theologisch zu verorten.
Die jahrhundertelang maßgeblichen Deutungen für alle Arten kollektiver Schreckenserfahrungen waren demzufolge der Angriff des Teufels oder/und die Strafe Gottes. Prediger hielten die Bevölkerung entsprechend dazu an, Buße zu tun und die eigene Lebensführung zu überdenken.
Ich finde es faszinierend, dass im Moment – auch ohne diese theologische Deutung und selbst in säkularen, religiös indifferenten Kontexten – neu über diese Fragen nachgedacht wird: Was zählt wirklich? Wie wollen wir zusammenleben? Ist das, wofür ich meine Zeit und mein Geld investiere, es tatsächlich wert? Jetzt, da wir ungewollt aus dem gewohnten und häufig gehetzten Alltag herausgerissen wurden, lernen wir – hoffentlich! – manche Selbstverständlichkeit neu schätzen und Wesentliches von weniger Wichtigem zu unterscheiden.
Der Dreißigjährige Krieg
Doch zurück in die Vergangenheit: Der Jenaer Historiker Georg Schmidt hat in seiner großen Geschichte des Dreißigjährigen Krieges – die bezeichnenderweise den Titel „Die Reiter der Apokalypse“ trägt – die auf den ersten Blick sehr plausible These aufgestellt:
Wurde der Schrecken am Beginn des Krieges von Predigern nahezu ausschließlich unter dem Vorzeichen der Strafe Gottes gesehen und mit dem Aufruf zur Buße und der Bitte um Gottes Gnade reagiert, so rückte stattdessen sukzessive das menschliche Agieren in den Fokus. Je länger sich das Elend hinzog, desto weniger Überzeugungskraft hatten die Bußpredigten und desto mehr nahm man das menschliche Versagen, aber auch die menschlichen Gestaltungsmöglichkeiten wahr. Dies habe den Spielraum eröffnet, im Westfälischen Frieden 1648 ein Friedensabkommen zu unterzeichnen, ohne dass ein gottgewollter Sieger festgestellt werden musste.
Weniger Transzendenz, mehr Immanenz – so könnte „die Moral von der Geschicht'“ lauten. Doch das wäre nicht nur ein theologischer Kurzschluss, auch historisch dürfte sich die Lage komplexer darstellen – jedenfalls, wenn man neben den großen Linien auch die Nuancen im Blick behält. Das eingangs angeführte Zitat Luthers aus der Reformationszeit, also ca. 100 Jahre vor dem Dreißigjährigen Krieg, sollte als Hinweis genügen.
Luther ist hier nicht – wie er gern genutzt wird – „seiner Zeit voraus“. Eher kann er beispielhaft dafür angeführt werden, dass die theologische Auseinandersetzung und die Verarbeitung in der praktizierten Frömmigkeit meist vielfältiger und differenzierter waren, als es rückblickende Vereinfachungen suggerieren.
Und wir kommen dabei, was die Analogiemöglichkeit im Blick auf unsere gegenwärtige Situation anbelangt, auch noch einen Schritt weiter. Denn Anlass der Schrift Luthers ist nicht das Zusammenwirken der apokalyptischen Reiter, sondern – um im Bild zu bleiben – das Vorpreschen eines Reiters: der „Pestilenz“, der Pest, die freilich den Tod im Schlepptau hat.
Die Pest im Mittelalter
Das Beunruhigende war, als die Pest im 14. Jahrhundert (neu) ausbrach, dass es so plötzlich so viele traf, und dass sowohl die Ursachen als auch die Verbreitungswege im Dunkeln lagen. Zwischen 1347 und 1351 raffte der „Schwarze Tod“ schätzungsweise ein Drittel der europäischen Bevölkerung hinweg. Er blieb fortan als bedrohliches Szenario präsent. Lokal begrenzt brachen in den folgenden Jahrhunderten immer wieder Seuchen aus.
Zur Entstehung von Seuchen im Allgemeinen gab es verschiedene Theorien, die jeweils mit weiteren medizinischen Grundannahmen zusammenhingen. Die praktischen Schutzmaßnahmen kombinierten häufig unterschiedliche Ansätze – Hauptsache es hilft: So gab es „humoralpathologische“ Medikamente und Therapien, denen zufolge Krankheiten mit den Körperflüssigkeiten zusammenhängen, während die „Miasmatheorie“ davon ausging, dass Krankheiten durch verunreinigte Luft entstehen. Maßnahmen wie das Tragen von Masken, das Desinfizieren von Gesicht und Händen und die Reinigung der Luft kommen uns bekannt vor – auch wenn die damaligen Erklärungen andere waren.
Die beiden Hauptbedingungen, wie es überhaupt zu dieser massenhaften Verbreitung der Seuche(n) kommen konnte, sind vor dem Hintergrund unserer gegenwärtigen Situation bemerkenswert: Zum einen waren dies die Handelswege. Der Handel war schon damals ein Hauptantrieb für Mobilität; die Häfen bilden das vormoderne Äquivalent zu Flughäfen. Zum anderen fällt der Anstieg der Seuchen mit der Entwicklung der Städte zusammen. Wo viele Menschen dicht beieinander wohnen, dort breiten sich Krankheiten schnell aus.
Quarantäne-Maßnahmen kannte man dementsprechend auch im Mittelalter: Ein Haus, das von der Seuche befallen war, sollte nicht verlassen werden. Die Toten mussten so schnell wie möglich außerhalb der Städte gebracht werden. Und diejenigen, die mit ihnen zu tun hatten, sollten entsprechende Schutzkleidung tragen.
Nicht zuletzt eine weitere Maßnahme aus meinem eigenen beruflichen Kontext fällt ins Auge: Die Universitäten wurden verlegt, zwar nicht ins Digitale, wohl aber an andere, sicherere Orte. So geschah es auch 1527-28 und noch einmal 1535-36 mit der Universität Wittenberg, an der Martin Luther lehrte. Sie wurde – zwar notdürftig, jedoch mit allem, was dazu gehört – ins ca. 160 km südwestlich gelegene Jena transferiert.
„Ob man vor dem Sterben fliehen möge“
Bereits zwei Jahre zuvor (1525) hatte Luther von den evangelischen Predigern in Breslau die Frage erhalten, die im Titel der Schrift steckt, nämlich ob es für einen Christenmenschen statthaft sei, vor dem Sterben zu fliehen. Ein uneinheitliches Vorgehen und verschiedene Meinungen in der Stadt und unter den Predigern machten eine Klärung notwendig.
Für Luther wurde eine Stellungnahme allerdings erst dringlich, als die Pest auch Wittenberg erreichte und er nun selbst vor der Entscheidung stand, Wittenberg zu verlassen oder zu bleiben. Aus seiner Schrift – die wohl eine mehrmonatige Entstehungsgeschichte hat und daher auch nicht als „aus einem Guss“ erscheint – möchte ich drei Aspekte hervorheben:
Widerstand und Ergebung
Erstens weist Luther einen fatalistischen Umgang entschieden zurück: Weil die Pest mit ihren Folgen eine Strafe Gottes sei – so diese Argumentation –, dürfe man sich dagegen nicht wehren oder davor fliehen, sondern müsse sie mit starkem Glauben geduldig ertragen.
Dem entgegnet Luther, dass es „von Gott in unsere Natur eingepflanzt“ sei, sich vor dem Sterben und vor anderem Unheil zu schützen, wofür es auch zahlreiche biblische Beispiele gebe. Zudem sei die Argumentation auch in sich völlig kurzschlüssig. Nur weil in der Bibel eine Hungersnot auch als Strafe Gottes erscheinen könne, heißt das ja nicht, man solle dann aufhören zu essen. Auch müsste man konsequent medizinische Hilfe verweigern, weil Krankheiten Strafen Gottes sein können. Zuletzt – und damit ist diese Argumentation für Luther endgültig als unbiblisch entlarvt – dürfte man nicht mehr das Vaterunser beten, heißt es darin doch: „Und erlöse uns vom Übel.“
Um es deutlich zu sagen: Luther argumentiert nicht prinzipiell dagegen, Unheil als Strafe Gottes zu sehen – er folgt hierin biblisch bezeugten Deutungen und ist zugleich ganz Kind seiner Zeit. Doch auch damit ist die unhintergehbare Spannung von Widerstand und Ergebung nicht aufgelöst.
Die Freiheit eines Christenmenschen
Zweitens weigert sich Luther, eine einfache Antwort auf die gestellte Frage als „die christliche“ auszugeben. Er stellt zu Beginn klar, dass er seine Meinung „mit aller Demut dem Verstand aller frommen Christen unterwerfen“ möchte – jede und jeder müsse sich letztlich selbst ein Urteil bilden. Luthers eigener Ratschlag ist ein zweigeteilter.
Zum einen spricht er alle als Einzelpersonen an – und darin spiegelt sich sein Verständnis christlicher Freiheit: Der Christenmensch ist ein freier Herr und niemandem Untertan – nämlich in Fragen des Glaubens, des Gewissens, des Seelenheils. Und zugleich ist der Christenmensch ein dienstbarer Knecht und jedermann untertan – nämlich insofern er in der Liebe an seine Nächsten und dessen Not verwiesen ist. Das heißt für Luther konkret: Wer von seiner Familie, seinen Nachbarn o.ä. gebraucht wird, der sollte nicht „fliehen“.
Zum anderen unterscheidet er zwischen Privatpersonen und denen mit öffentlichen Ämtern, ohne die das gesellschaftliche Leben nicht funktioniert. Letztere sollten ebenfalls bleiben. Man könnte fast modern formulieren: Diejenigen in systemrelevanten Berufen sollen ihr Gemeinwesen nicht im Stich lassen. Dazu gehören für Luther im Übrigen selbstverständlich auch Pfarrer!
Zwar hatten Pfarrer in der städtischen Gesellschaft des 16. Jahrhunderts tatsächlich auch eine andere Rolle als heute, aber dennoch hat die Empfehlung auch einen theologischen Grund: Die Gläubigen brauchen nicht nur eine leibliche Versorgung (wozu auch die medizinische Versorgung gehört), sondern auch eine geistliche Versorgung – gerade in Krisenzeiten. Wir können uns glücklich schätzen für die digitalen Möglichkeiten, die uns heute auch dafür zur Verfügung stehen!
Ars moriendi: Die Kunst des Sterbens
Drittens bietet Luther am Ende seiner Schrift „einen kurzen Unterricht, wie man sich auch der Seelen halben schicken und halten soll in solchen Zeiten des großen Sterbens“. Die Vorbereitung auf das Sterben, die Ars moriendi (wörtlich: Sterbekunst), war zu Luthers Zeiten ein genuiner Bestandteil christlicher Frömmigkeit. Entsprechende Traktate und Bilder, durch die man sich im Leben bereits den möglichen Tod vor Augen führte, hatten eine hohe Verbreitung.
Dies war freilich auch dem geschuldet, dass es eine viel höhere Sterberate bei Säuglingen, Kindern und Erwachsenen jüngeren Alters gab, als dies heute der Fall ist. Dank des medizinischen Fortschritts kann vieles von dem, was damals tödlich endete, heute behandelt werden – welch ein Segen! Doch die Corona-Krise führt uns vor Augen, dass wir unserem Leben keine letzte Sicherheit geben können. Den Tod nicht zu verdrängen, sondern sich mit ihm auseinanderzusetzen, auch wenn das Leben gedeiht, wäre wohl eine Aufgabe, die wir heute wieder lernen müssten.
Selbstverständlich wünscht sich niemand den Tod herbei. Uns Menschen ist – wie Luther es ausdrückte – von Gott eingepflanzt, vor dem Sterben zu fliehen. Und doch sind Christinnen und Christen gewiss, dass mit dem Tod nicht alles aus ist, dass der Tod – gern wurde er in Mittelalter und Früher Neuzeit als Person dargestellt – seinen letzten Schrecken verloren hat. Weder sollen Leiden und Sterben verdrängt werden, noch dürfen sie das ganze Leben überschatten. Die christliche Hoffnung führt darüber hinaus – das kann uns in dieser außergewöhnlichen Passions- und Osterzeit neu bewusst werden.
Zum Weiterlesen:
Arnold Angenendt: Geschichte der Religiosität im Mittelalter, Darmstadt 42009.
Klaus Bergdolt: Der Schwarze Tod in Europa. Die Große Pest und das Ende des Mittelalters, München 42017.
Bernd Fuhrmann: Hinter festen Mauern. Europas Städte im Mittelalter, Darmstadt 2014.
Johannes Grabmayer: Europa im späten Mittelalter 1250-1500. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2004.
Bea Lundt: Europas Aufbruch in die Neuzeit 1500-1800. Eine Kultur- und Mentalitätsgeschichte, Darmstadt 2009.
Georg Schmidt: Die Reiter der Apokalypse. Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, München 22018.