Kolumne Die Pallischwester

Die Pallischwester: Unsere Kerze

Auf der Palliativstation brennt für die Verstorbenen ein Licht. Die Kerze ist für Patient:innen, Angehörige und Mitarbeiter:innen Signalgeber und Lebenszeichen zugleich.

Wir haben auf Station eine Kerze stehen. Sie steht immer da, neben einer Madonnenfigur, daneben auch immer Blumen. Immer andere, je nach Saison. An manchen Tagen fällt sie fast gar nicht auf, die Kerze. Dann erfreut man sich eher der Blumen und greift zum Gästebuch, um darin zu lesen oder auch einen Gruß zu hinterlassen.

An anderen Tagen verändert sie, unsere Kerze, die ganze Atmosphäre auf Station: An den Tagen, an denen sie brennt. Wenn die Kerze angezündet ist, legt sich ein Mantel über den Flur und über die Menschen. Ein Mantel der Stille, der Trauer, der Geborgenheit.

Die brennende Kerze

Die Kerze ist ein Spiegel des Lebens auf Station. Sie wird angezündet, wenn ein Patient verstorben ist. Und sie brennt so lange, wie der Mensch noch auf Station ist. Sie ist ein Signalgeber. Wenn wir für eine neue Schicht auf Station kommen, sehen wir direkt, ob jemand gestorben ist, oder nicht. Dann ist sie uns ein Symbol der Trauer, der Erleichterung, der Dankbarkeit. Und sie bereitet uns auf das vor, was kommen wird.

An einem Nachmittag kam ich zum Dienst und ich begegnete den Angehörigen einer Patientin noch bevor ich die brennende Kerze hatte sehen können. Dadurch erfuhr ich durch den Vater, dass seine Tochter gestorben ist. Ich fühlte mich kurz überrumpelt, hatte mich nicht auf die Begegnung mit den Angehörigen vorbereiten können, stand dem Vater gegenüber und musste die Nachricht selbst erstmal verarbeiten, bevor ich ihm die volle Aufmerksamkeit geben konnte.

Da die Kerze auf dem Flur nahe beim Stationszimmer steht, sieht sie auch jede:r und sie fällt auch jede:m auf. Die meisten wissen, was das brennende Licht bedeutet. Manche bleiben kurz andächtig davor stehen, andere schauen weg und versuchen, sie zu übersehen.

Die Kerze ist oft Teil des Gesprächs, wenn es um den Sterbeprozess geht. In vielen Gesprächen dieser Art ist sie sogar der Aufhänger. Wenn jemand nach der Kerze fragt, dann ist er in der Regel auch zu einem Gespräch über Sterben und Tod bereit.

Ein Lebenstanz im Angesicht des Todes

Die Tochter einer sterbenden Patientin traute sich nicht auf Station. Vor allem nicht, wenn die Kerze brannte. Sie dachte, dass sie angezündet wird, wenn ein Patient im Sterben liegt, und ausgepustet, sobald er verstorben ist. Ein schöner Gedanke, nur leider nicht wirklich umsetzbar.

Dennoch konnten wir über dieses Bild herausfinden, was ihre eigentliche Angst vor der Kerze war. Nämlich die Angst, dass ihre Mutter nun doch unmittelbar sterben wird. Mit diesem Wissen konnten wir mit der Tochter in ein Gespräch kommen, ihr ein wenig die Angst nehmen, vor dem was kommen wird. Am Ende war sie bei ihrer Mutter, als diese verstarb und zündete dann selbst die Kerze an.

Das Anzünden der Kerze erfolgt in einer eigenen Konzentration. Man kommt zur Ruhe, ist in Gedanken ganz beim Streichholz und dem Verstorbenen. Wenn die Kerze angezündet wird, bleibt die Luft kurz stehen, hört man selbst kurz auf zu atmen, stirbt man kurz.

Und lebt wieder auf, zusammen mit der Flamme, die wächst, sich entfaltet, flammt und tanzt. Ein Lebenstanz im Angesicht des Todes.


PS: Seit einiger Zeit nun sind auch bei uns keine offenen Flammen mehr erlaubt. Wir haben eine LED-Kerze mit tanzender Flamme. Es ist aber nicht das gleiche. So viel Symbolkraft ist auf einen Schlag von Station verschwunden.