Locher und #ChurchToo: Alpenglühen
Es rappelt ganz ordentlich im Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK). Die Beratungen zur Verfassungsänderung wurden von Misstönen um die Wiederwahl Gottfried Lochers zum Ratspräsidenten begleitet.
Nach 160 Jahren Geschichte soll der Bund der reformierten Kantonalkirchen noch in diesem Jahr in eine „Bundeskirche“ aufgehen, die evangelisch reformierte Kirche Schweiz (EKS). Am vergangenen Sonntag entschieden die Delegierten, wer als Ratspräsident den Übergang maßgeblich gestalten soll. Der bisherige Amtsinhaber Gottfried Locher wurde mit 43 von 67 Stimmen wiedergewählt, auf die Herausforderin Rita Famos entfielen 24 Stimmen.
Reformen, die an die Grundüberzeugungen reformierten Kirchenverständnisses rühren, ein verkorkster Wahlkampf um das höchste Kirchenamt und die Bestätigung einer Personalie, mit der sich viele nicht anfreunden wollen. Es ist angerichtet.
Kirche im Umbruch
Ein gründlicher Blick zu den Reformierten in die Schweiz lohnt auch deshalb, weil der 2 Millionen Gläubige zählende Kirchenbund den gleichen Herausforderungen ausgesetzt ist wie die Evangelische Kirche in Deutschland. Dort wie hier wird die eigene schwindende Bedeutung beklagt. In der Schweiz sogar ein bisschen heftiger noch als in Deutschland, wo sich unter die Klagelieder immer wieder auch hoffnungsvolle Töne mischen.
Wie können die Reformierten relevant bleiben, eine gesellschaftliche Rolle von Format ausfüllen, gleichzeitig ihrer eigenen Tradition und dem Evangelium treu bleiben? Es sind große Fragen, die die Reformierten umtreiben.
Eine Antwort haben die Kantonalkirchen (vergleichbar mit den evangelischen Landeskirchen in Deutschland) schon gegeben: Aus einem Kirchenbund soll eine Kirche werden, mit einem Rat und einer Synode und eine_r Präsident_in, die dezidiert ein geistliches Leitungsamt ausfüllen soll. Davon versprechen sich die Reformierten schlankere Strukturen und vor allem eine erhöhte Sichtbarkeit in der Gesellschaft, gerade gegenüber anderen Akteuren in Ökumene, Politik und Zivilgesellschaft.
Hart diskutiert wird, wie die praktische Gestaltung eines solchen geistlichen Leitungsamtes ausschauen kann. Lässt die reformierte Tradition mit ihrer starken Betonung des demokratischen Prinzips eine voranschreitende Amtsausübung überhaupt zu oder wird die neue EKS so nicht den anderen christlichen Kirchen, insbesondere der röm.-kath. Kirche, zu ähnlich? Kehrt durch die Hintertür wieder ein, was seit Reformationszeiten bekämpft wurde? Muss sich der oder die Präsidentin vor wichtigen öffentlichen Äußerungen mit dem Rat oder gar der Synode einigen? Verpufft so nicht die Möglichkeit, zügig und stringent gesellschaftliche Entwicklungen aus reformierter Perspektive einzuordnen?
Trotz Beteuerungen von allen Seiten geht es nicht nur um theologische Sachfragen, sondern auch um den Mann, der am Wochenende als Ratspräsident der SEK wiedergewählt wurde und als erster EKS-Präsident das neue Amt entscheidend prägen wird: Gottfried Locher.
Ratspräsident im Kostüm?
Außenstehenden erscheint der Ratspräsident als gutaussehender und charismatischer Anführer, der zugleich fromm und konkret sprechen kann. Die Zeitungen der Schweiz loben seinen Mut, auch „politisch Unkorrektes“ zum Besten zu geben. Der aktuelle Reformprozess geht maßgeblich auf seine Initiative zurück.
Bereits vor ein paar Jahren ließ sich Locher für ein Buchprojekt als „reformierter Bischof“ charakterisieren. Mit Vorliebe tritt Locher mit „Riesenkreuz und Priesterkragen“ auf. Das haben die obrigkeitskritischen schweizer Reformierten nicht vergessen. Die rechtspopulistische Weltwoche stellt bewundernd fest: „Locher will die Reformierten katholischer machen, um sie vor Mitgliederschwund, Substanzverlust und Untergang zu retten.“ Einen Platz in den Medien des Landes hat sich Locher mit kontroversen Stellungnahmen jedenfalls gesichert.
So provozierte er mit Äußerungen zur Notwendigkeit der Prostitution („Befriedigte Männer sind friedlichere Männer, darum sage ich, wir sollten den Prostituierten dankbar sein.“), als auch mit einer recht oberflächlichen Islam-Kritik („Die Religion hat im Schwimmunterricht nichts verloren, alle müssen ihn besuchen. Ich möchte keine Schattengesellschaft, in welcher unsere Grundwerte nicht gelten sollen.“). Man fragt sich, ob die von Locher geforderte „Beinfreiheit“ für das neue geistliche Leitungsamt für solche Stellungnahmen genutzt werden muss.
Die einzige und kurzfristige Gegenkandidatin bei der Wahl zur Ratspräsidentschaft am Wochenende, Rita Famos, führt denn auch das gestiegene öffentliche Interesse an der Kirchenleitung auf Locher persönlich zurück: „Das hängt wohl viel mehr damit zusammen, dass viele Menschen seit längerer Zeit ein latentes Unbehagen gegenüber der Person Gottfried Locher und seinem Amtsverständnis äussern. Dass diese Kritik irgendwann auch von den Medien wahrgenommen wird, ist doch klar.“
Über Stilfragen hinaus geht der Vorwurf der sexuellen Belästigung, den eine Pfarrerin der SEK gegen „einen hohen Schweizer reformierten Kirchenvertreter“ im letzten Herbst erhoben hatte. Das Portal kath.ch erklärte, Locher wäre der Kirchenvertreter gewesen, der sich im „kollegialen Gespräch“ folgender Äußerungen nicht enthalten konnte: „Er sagte, dass Männer nunmal eine aktiv-aggressive Sexualität in sich tragen würden und Frauen eine passive. Deshalb müssten Männer manchmal über Frauen herfallen, um sich sexuell ausleben zu können.“
Verpasste Auseinandersetzung
Man stelle sich einmal vor, was Ratsvorsitzend_innen der EKD medial und intern vermittelt würde, gerieten sie durch solche Skandale unentwegt in die Schlagzeilen. Dass der umstrittene Locher am letzten Wochenende tatsächlich um seine Wiederwahl fürchten musste, war trotzdem eine Überraschung. Locher und seinen Unterstützern gelang es immer wieder, die gegen ihn vorgebrachten Anwürfe abzumoderieren. Schlussendlich wären die Kritikerinnen eben aufgeregte Feministinnen, die ein persönliches Problem mit ihm hätten.
Dass es lange Zeit tatsächlich vor allem engangierte Theologinnen gewesen waren, die in der Öffentlichkeit Kritik an Locher übten, spielte den Locher-Verteidigern gut in die Hände. Erst zuletzt meldeten sich auch Kirchenmänner, wie Michel Müller (Zürich), mit klaren Forderungen zu Wort. Gelegentlich wurde gar von einer Verschwörung gegen Locher geraunt.
Rita Famos, die sich zwar rechtzeitig, aber doch zu spät zur Gegenkandidatur entschied, trat diesem Vorwurf entgegen: „Dass sich aber die Kritiker als Gruppe organisiert haben sollen, das ist mir nie zu Ohren gekommen.“ Und auf dem Feministinnen-Ticket wollte sie auch nicht fahren: „Bei meiner Kandidatur geht es nicht primär um Frau oder Mann, sondern um das reformierte Verständnis von Leitung und Amt, auch theologisch.“
Ihre zu kurze Kampagne um die Ratspräsidentschaft wurde dann – ob aus Überforderung oder böser Absicht? – von kantonalen Kirchenräten torpediert. Es hagelte gleich mehrere Absagen für Vorstellungsrunden, auch eine öffentliche Diskussion mit dem Amtsinhaber fand nicht statt. Vanessa Buff (@Vanessa_Buff), stellvertretende Redaktionsleiterin bref – Das Magazin der Reformierten, erklärte auf ref.ch ihr Unbehagen ob dieser Wahlkampfmanöver: „Mit diesem Verhalten haben die Kantonalkirchen nicht nur das reformierte Credo des Selberdenkens und die hochgelobte Streitkultur verraten. Sie haben auch ihre demokratische Pflicht verletzt.“
Auch hier lohnt sich ein Vergleich mit den Evangelen in Deutschland: bref und ref.ch erscheinen als Flaggschiffe der Reformierten Medien unter Kontrolle der Kantonalkirchen (s. Richtigstellung am Artikelende), wie auch die Evangelen hierzulande über das Gemeinschaftswerk der evangelischen Publizistik (GEP) eigene Medien unterhalten. Buffs deftige Kritik am „Beigeschmack“ der Wahl ist in ihrer Schärfe nicht zu unterschätzen. Es ist ungefähr so, als ob Chrismon und evangelisch.de der EKD-Synode die demokratische Haltung absprächen.
Fortgeschrittene Gärung
Es gärt schon lange unter den Reformierten in der Schweiz, manche Front hat sich verhärtet und eine alle Beteiligten zufriedenstellende Lösung ist nicht in Sicht. Die wenig überzeugend entgegenkommenden Äußerungen Lochers und seine schlussendliche Wiederwahl werden wohl kaum zu einem Burgfrieden im Land der Eidgenossen führen.
Engagierte Pfarrer_innen versichern sich schon jetzt ihrer gegenseitigen Solidarität: „Darum müssen jetzt als kritische, basisorientierte Mitglieder, der reformierten Kirchen ein neues Forum schaffen.“ Welche Formen dieses Engagement annehmen wird – „ein Thinktank, eine Gesprächsrunde, ein Basisparlament“ – ist unklar; auch, ob es sich um eine offene Mitgestaltung der Reformen handeln soll oder um Opposition gegen sie und Präsident Locher. Ob Kirchenbund oder Bundeskirche, die schweizerischen Reformierten bleiben streitbar.
Richtigstellung:
bref und ref.ch berichten gemäß ihrer Publizistischen Grundsätze nach journalistischen Maßstäben (wie im Übrigen auch evangelisch.de & Chrismon, auf die sich der Vergleich bezieht). Die Reformierten Medien werden durch die Kantonalkirchen mitfinanziert, sie arbeiten nach einem klaren Leistungsaufrag, „dazu gehören auch die Berichterstattung über kontroverse Themen und deren Kommentierung“. Die Formulierung, sie stünden darum „unter Kontrolle der Kantonalkirchen“ ist missverständlich. Wir bitten diesen Fehler zu entschuldigen.