Kultur

Anleitung ein anderer zu werden

Ist der neue Roman von Édouard Louis eine Anleitung zur Veränderung? Marie-Christin Janssen über ein Buch, das Lust auf unverhoffte Begegnungen macht.

In diesem Jahr wurde ich noch gar nicht gefragt, ob ich Vorsätze für das nächste Jahr habe. Ich bin mir aber sicher, dass sich das in den nächsten Wochen rasant ändern wird. Wie jedes Jahr werde ich mir mit meinen Freund:innen Gedanken darüber machen, was wir 2023 anders machen könnten. Die Zahnseide regelmäßig benutzen. Jede Woche ein Buch lesen. Ein bisschen Musikgeschichte lernen.

Vermutlich werden wir von unseren Plänen in der zweiten Januarhälfte ablassen.

Von einer kompletten Veränderung, von durchgezogenen Veränderungsprozessen weiß Édouard Louis‘ „Anleitung ein anderer zu werden“ zu erzählen. Hier finde ich zwar keine abzuarbeitende Checkliste, aber doch eine persönliche, energiegeladene Perspektive darauf, wie Veränderung möglich ist. Und wo sie an ihre Grenzen stößt.

Édouard Louis kommt aus der französischen Schule des Autofiktionalen. Einer Erzählweise, bei der die Autor:innenperson im Text als sie selbst auftritt, aber in einer als fiktional gekennzeichneten Umgebung bzw. in einer Realität, die sich vom eigentlichen Erleben des:der Autor:in durch fiktionale Elemente unterscheidet. Louis‘ Vorbilder sind dabei z.B. Didier Eribon und die diesjährige Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux.

„Anleitung ein anderer zu werden“ ist der fünfte Roman des 1992 im französischen Hallencourt geborenen Autors, der mittlerweile in 35 Sprachen übersetzt wird. Seit seinem Debütroman „Das Ende von Eddy“ (2014, dt. 2015) beschäftigen ihn die Themen Armut, Klassenunterschiede, (sexuelle) Gewalt, Prostitution und Homosexualität bzw. Homophobie – kurz: Die Fremdheitsgefühle und Suchbewegungen, die sich in einem jungen Menschen einstellen, der seiner Herkunftswelt entflieht, entfliehen will, der einen Klassenwechsel vollzieht.

„Ich träumte davon, auf der Straße erkannt zu werden, träumte davon, unsichtbar zu sein, träumte davon, zu verschwinden, träumte davon, eines Morgens als Frau aufzuwachen, träumte davon, reich zu werden, träumte davon, noch einmal ganz von vorne anzufangen.“

Der Anfang der Geschichte

In seinem neuen Roman sucht Louis den Zugang zu seinem Erlebten, zu seinen Veränderungsbedürfnissen, über zwei Schlüsselpersonen in seinem Leben: Elena und Didier. Die Begegnungen mit diesen zwei Personen und die von ihnen in Gang gesetzten Wandlungen gliedern das Buch in zwei Teile. Als Leserin begleite ich eine sich fast ausschließlich chronologisch aufbauende Entwicklung.

Eine zweite Ebene eröffnet der Text durch die Anrede eines „Du“: Es ist der Vater, dem all dies erzählt wird. Der Vater, der noch immer in der „alten“ Welt in Hallencourt lebt. Den eine ziemliche Wucht an Wut trifft, weil er sich nicht aus dieser Welt emanzipiert hat und die neue Lebensweise des Sohnes in Frage stellt. Der Text spiegelt aber auch ein Ringen mit dieser Wut wider: Den Wunsch nach Versöhnung. Den Wunsch danach, sich gegenseitig sein zu lassen.

Wer aber sind nun die zwei Schlüsselpersonen im Leben des Édouard? Elena und Édouard (oder Eddy, wie er damals noch heißt) lernen sich auf dem Gymnasium in Amiens kennen, das Eddy als erste Person in seiner Familie besuchen kann. Elena kommt aus einer Welt, die gegensätzlicher nicht sein könnte: reich, gebildet und anerkannt. Eddy ist beeindruckt von dieser Elena und ihrer Lebensweise – er möchte dazugehören, will mit ihr über Bücher und Musik und Theater reden. Eddy beginnt, bei Elenas Familie zu leben, verändert dort seinen Kleidungsstil, seine Art zu essen und lernt, seine Homosexualität zu akzeptieren. Elenas Mutter ist es dann auch, die Eddy empfiehlt, sich in Édouard umzubenennen – das klinge eleganter. Und Elena ist es, die Édouard mit zu einer Lesung nimmt, die sein Leben verändern wird: eine Lesung mit Didier Eribon.

Dass der zweite Teil des Romans ebenso wie der erste nur mit dem Vornamen überschrieben ist, lässt bereits darauf schließen, dass sich eine innige Verbindung zwischen den beiden Männern entwickelt. Durch viel Pauken und Schreiben gelingt es Édouard schließlich, seinem großen Vorbild Didier auf Augenhöhe zu begegnen.

Interessant ist, dass der Schreibstil von Édouard Louis sich stark von dem seines Vorbilds unterscheidet. Während Didier Eribons Stil geprägt ist von der intellektuellen Welt, in die er sich hinein verändert hat, von einer analytischen Nüchternheit, besticht Louis in seinem Schreiben mit einer schonungslos ehrlichen und dadurch nahegehenden Schilderung der emotionalen Ebene des Klassenwechsels. Diesen Aspekt seiner Sprache unterstreicht zusätzlich auch die Übersetzung von Sonja Finck.

„Muss ich dir den Anfang der Geschichte noch einmal erzählen? Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehnte, was ich war, und ich empfand es als Ungerechtigkeit.“

Wie können wir uns verändern?

Finden meine Freund:innen und ich in diesem Buch also wirklich eine Methode, wie wir uns verändern können?

Folgen wir dem Buch, so sind es vor allem unverhoffte Begegnungen mit Menschen und ihren Lebensweisen – sie stoßen auf das innere Fremdheitsgefühl einer Person und eröffnen diesem ungeahnte Perspektiven. Beeindruckend ist Eddys Eifer, der durch diese Begegnungen entfacht wird, der Eifer, mit dem er seinem Körper die neue Lebensweise antrainiert. Ein ebenfalls wichtiger Veränderungsmotor ist für Édouard Louis das Theater: Bereits in seiner Heimatstadt hat er im Schultheater verschiedene Rollen gespielt und wurde für sein Talent gelobt. Das Aufzeigen von anderen Wirklichkeiten, das Spielen und das Wechseln in andere Rollen bleiben bis heute für Édouard Louis nicht nur in seinem Schreiben bedeutend, mittlerweile spielt er auch selbst in Inszenierungen seiner Texte (z.B. an der Berliner Schaubühne in der Regie von Thomas Ostermeier).

So fühle ich mich nach der Lektüre des Buchs vor allem darin bestärkt, mit Leidenschaft das zu machen, was ich liebe, und auf unverhoffte Begegnungen zu hoffen. Es ist keine Anleitung, die mir hier vorgelegt wird, sondern eine Lebenshaltung. Beruhigenderweise kommt auch Louis mit dieser Haltung an seine Grenzen:

„Ich glaube, ich schreibe, weil ich manchmal alles bereue, wie ich manchmal bereue, mich von der Vergangenheit abgekehrt zu haben, weil ich mir manchmal nicht sicher bin, ob meine Bemühungen zu irgendetwas nutze waren. Manchmal denke ich, dass meine Flucht vergeblich gewesen ist, dass ich um ein Glück gekämpft habe, das ich nie gefunden habe.“

Es entsteht ein facettenreiches, mitreißendes Zeugnis über den Umgang mit dem Bedürfnis nach Veränderung, über die Grenzen und Verletzungen, die in Zusammenhang mit diesen Prozessen entstehen.

Wer sich vor dem Kauf des Buches von Louis‘ Sprache und der Erzählweise überzeugen möchte, kann am Münchener Volkstheater oder am Theater Freiburg noch vor Weihnachten Adaptionen seiner früheren Romane sehen, und nach Weihnachten auch wieder am Hamburger Schauspielhaus.


Édouard Louis
Anleitung ein anderer zu werden
Übersetzung: Sonja Finck
Aufbau
272 Seiten
24 € (Hardcover) & 17,99 (E-Book)