Ihr gutes Recht, unsere Pflicht

Russische Kriegsdienstverweigerer versuchen ihr Land zu verlassen. Deutschland sollte ihnen Asyl gewähren und sich für ihre Rechte einsetzen. Ein Kommentar.

Präsident Wladimir Putin hat eine „Teilmobilmachung“ befohlen, um an noch mehr Kanonenfutter für seinen Ukraine-Feldzug zu kommen. Obwohl die russischen Streitkräfte bereits in Gefängnissen rekrutieren, fehlen ihnen seit Beginn des Angriffs auf die ganze Ukraine im Februar beständig Soldaten. Deshalb wurden entgegen der Versprechungen der Regierung auch Wehrdienstleistende in der Ukraine eingesetzt.

Mit der „Teilmobilmachung“ ist das Eingeständnis verbunden, dass es sich bei der „Spezialoperation“ in der Ukraine um einen richtigen Krieg handelt. Zum zweiten Mal, nachdem es direkt nach Kriegsbeginn bereits Proteste gegeben hatte, regt sich nun deutliches Missfallen in der russischen Bevölkerung. Die russische Armee will nun besonders auf jene Männer zurückgreifen, die bereits Dienst in der Armee geleistet haben, also im besten Falle kampferprobt sind.

Schon jetzt ist allerdings auch klar, dass es vor allem Mitglieder von ethnischen Minderheiten, Bewohner der Peripherie und wirtschaftlich Schwache erwischen wird. Denn eine Einberufung der privilegierten Schichten will die russische Regierung mit Blick auf ihre Akzeptanz in der Bevölkerung möglichst vermeiden.

Erste Berichte aus Anrainerstaaten Russlands zeigen vor allem junge Männer, die unter dem Eindruck der „Teilmobilmachung“ ausreisen wollen, um sich dem Kriegsdienst zu entziehen. Die baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen – allesamt ehemalige Sowjetrepubliken und heute Mitglieder der Europäischen Union – verkünden bereits, dass sie Kriegsdienstverweiger nicht aufnehmen wollen. Doch Deutschland und die Europäische Union sollten diesen Männern Asyl gewähren.

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung genießt in Deutschland Verfassungsrang. Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes beschreibt die Kriegsdienstverweigerung als ein Grundrecht im Rahmen der Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit. Auch wenn in Deutschland die Wehrpflicht seit 2011 ausgesetzt ist, gibt es weiterhin eine kleine Zahl von Kriegsdienstverweigerern, darunter aktive Soldaten der Bundeswehr. Sie erhalten kompetente Beratung z.B. bei den entsprechenden Fachstellen im Raum der evangelischen Kirchen.

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Geschichte, die verpflichtet

Seit 1987 ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht von den Vereinten Nationen anerkannt, ein Kriegsdienstverweigerungsgrundrecht ist in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgehalten. Nur wenige Staaten wie die Türkei, Aserbaidschan oder Nordkorea verschaffen diesem Grundrecht heute überhaupt keine Durchsetzung. Gleichwohl gelten Wehrdienst- und Kriegsdienstverweigerer in den allermeisten Ländern weiterhin als „vaterlandslose Gesellen“, „Feiglinge“ oder „Verräter“.

Über 20 000 Deserteure, sog. „Fahnenflüchtige“, wurden während des 2. Weltkrieges von der deutschen Militärjustiz zum Tode verurteilt. Viele dieser verbrecherischen Urteile wurden vollzogen. Ingesamt entzogen sich wohl 100 000 Soldaten ihrer Pflichten im deutschen Vernichtungskrieg. Es hat bis in die 1980er Jahre gedauert, bis in Deutschland – singulär in der Geschichte – grundsätzlich anders über Kriegsdienstverweigerer und ihre Geschichte während des Nationalsozialismus gedacht, geschrieben und gesprochen wurde. Heute gelten manche von ihnen als Teil des deutschen Widerstands gegen das NS-Regime. Allesamt wurden sie – ohne Rücksicht auf ihre jeweiligen Gründe, sich dem Soldatendienst zu entziehen – vom Deutschen Bundestag 2009 rehabilitiert.

Die Aufarbeitung der Geschichte der Kriegsdienstverweigerer im 2. Weltkrieg zog sich über fast 65 Jahre hin. In dieser Zeit haben wir nicht nur immer mehr über die Beweggründe und Mechanismen der Kriegsdienstverweigerung gelernt, sondern gesellschaftliche Wertschätzung für die Nöte von Soldaten ausgebildet. Das Vorurteil, man hole sich mit russischen Kriegsdienstverweigerern eine „fünfte Kolonne Moskaus“ ins Land hat vor diesem Hintergrund keinen Bestand.

Die Gewalt kann nicht stärker sein als das Recht

„’s ist Krieg! ’s ist Krieg! O Gottes Engel wehre, Und rede Du darein! ’s ist leider Krieg – und ich begehre, Nicht schuld daran zu sein!“ – Um diese Verse aus dem „Kriegslied“ von Matthias Claudius herum konzipierte die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, bei ihrer Rede auf der großen Anti-Kriegs-Demonstration in Berlin zu Beginn des Ukraine-Krieges ihre Ausführungen. Wer sich dem Soldatendienst entzieht, begeht keinen Verrat und ist kein Feigling, sondern verwirklicht sein gutes Recht. Das gilt im Übrigen auch für viele Ukrainer, die seit Beginn des Krieges ihr Land verlassen haben.

„In der Welt, in der wir leben, muss das Recht über die Gewalt siegen und kann nicht die Gewalt stärker sein als das Recht“, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz am Mittwoch in seiner ersten öffentlichen Reaktion auf die russische „Teilmobilmachung“ am Rande der Generalversammlung der Vereinten Nationen. „Das Recht“ muss hier auch das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung umfassen.

Dafür muss sich die Bundesregierung aus historischer und moralischer Verantwortung mit Tat und Wort einsetzen: Indem sie Kriegsdienstverweigerern Asyl gewährt und ermöglicht, z.B. durch Einreisemöglichkeiten aus den unmittelbaren Anrainerstaaten. Und indem sie bei den eigenen Verbündeten in der Europäischen Union dafür wirbt, Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht zu leben. Die Kirchen sollten die Bundesregierung an diese Verantwortung erinnern.