Bild: Montage (Kanye West: Cosmopolitan UK, Wikimedia Commons, CC BY 3.0; Demonstration der Israelite Church of God in Jesus Christ, Werbematerial)
Politik

Black Hebrew Israelites: Erwähltes Volk oder antisemitische Sekte?

Die Bewegung der Black Hebrew Israelites bekommt durch Prominente wie Kanye West mediale Aufmerksamkeit. Schnell werden warnende Antisemitismus-Rufe laut. Doch ganz so einfach ist es nicht.

Anfang Dezember geistert ein Video durch die Sozialen Medien. Gefilmt vor dem Barclays Center in New York ist darin eine Gruppe Schwarzer Männer zu sehen. Einer von ihnen hält ein Mikrofon in der Hand. In dieses tönt er: „We support Hitler!” Und weiter: „Hitler knew who the real Jews was. He wasn’t oppressing my people. […] The real Jews are back on the streets.” Der Filmer, laut eigener Aussage halb-jüdisch, dreht im Laufe des Videos sein Handy kurz um. Er schaut fassungslos in die Kamera.

Gepostet wurde dieser Clip im Zusammenhang mit Ye. Vormals Kanye West. Der Musiker hat sich jüngst in der rechtsradikalen Verschwörungsshow „Info Wars” als Hitler-Fan geoutet. Weil er seit Jahren immer häufiger durch rechte Äußerungen Schlagzeilen macht, ist dieses Statement vielleicht keine Überraschung. Seiner Hitler-Sympathie zum Trotz schrieb der Rapper aber auf Instagram, er könne kein Antisemit sein. Denn: „Black people are actually Jew”.

Ye macht am 11. Dezember schließlich deutlich, woher diese Aussage rührt. Er lässt sich von der Bewegung der sogenannten Black Hebrew Israelites (BHI) inspirieren. Im Gespräch mit einem Vertreter der „Israelite School of Universal Practical Knowledge“ bekräftigt Ye, dass Schwarze Menschen angeblich die wahren Juden sind: „We are the Jew, and they are Jew-ish […].“

BHI: Ein Spiegel des Leids der Afro-Amerikaner:innen

Die Bewegung der BHI ist keine neue Erscheinung. Die US-amerikanische Bewegung war zu Beginn nicht jüdisch, ihr Fundament liegt im Christentum. Gegründet wurde der erste bekannte Zweig der BHI 1892 von dem Baptisten William Saunders Crowdy in Oklahoma. Er behauptete, mehrere Visionen gehabt zu haben, in denen ihm offenbart worden sei, dass afrikanischen Sklav:innen von den zehn verlorenen Stämmen Israels abstammten.

Fast zeitgleich sprach auch der Seemann F.S. Cherry in Tennessee von ähnlichen, aber deutlich radikaleren Visionen. Wie Crowdy wurde Cherry als Sklave geboren. Beide erlebten später die Sklavenbefreiung, sahen nach dem Bürgerkrieg die zahlreichen Lynchmorde an Schwarzen Menschen und lebten unter der brutalen Realität der Jim Crow-Gesetze.

Cherry zufolge soll ihn Gott beauftragt haben, eine Kirche zu gründen. Weiterhin soll er ihm offenbart haben, dass die wahren Nachfahren der biblischen Hebräaer:innen die Afro-Amerikaner:innen sind. Auch Gott, Jesus sowie Adam und Eva sollen schwarz gewesen sein. Cherry stützte diese Behauptung auf eine Erzählung im Alten Testament: Elischas habgieriger Diener Gehasi wurde von dem Propheten mit einem Hautausschlag “so weiß wie Schnee” verflucht (2. Könige 5,27). Genug Beweis für Cherry: Weiße Menschen müssen die Nachfahren Gehasis sein. Er gründete 1886 den ältesten bekannten Zweig der BIH, die Church of the Living God. Und predigte dort, dass weiße Jüd:innen mittels Betrug ihre „wahre” Identität verschleiern.

Für den Anthropologen Merrill Singer ist die Gründung der BHI nichts Ungewöhnliches. Er schreibt in dem Artikel „Symbolic Identity Formation in an African American Religious Sect – The Black Hebrew Israelites“ von einem ähnlichen Kern verschiedener Schwarzer US-Bewegungen Ende des 19. Jahrhunderts. Deren Vertreter:innen empfahlen, sich zur Überwindung von Notzeiten die biblischen Israeliten als Vorbild zu nehmen.

Singer sieht in der Gründung der BIH-Bewegung eine Form der Projektion. Die Afro-Amerikaner:innen sahen ihr Leid in dem Leben der Israelit:innen des AT gespiegelt. Besonders die Geschichten von der Sklaverei im alten Ägypten dienten als Sinnbild der eigenen Unterdrückung. Rassismus und täglichen Angriffen ausgesetzt, haben die BHI-Anhänger:innen mit diesem selbstentwickelten Mythos eine neue Identität angenommen, erklärt Singer. Diese war frei von Versagensgefühlen oder Selbstvorwürfen – und ist sinnstiftend.

Eine diverse religiöse Bewegung

Heute ist die Bewegung der BHI in viele Sekten und Gruppierungen mit verschiedenen Namen zersplittert, von denen die meisten in den USA zu finden sind. Ihrem Selbstverständnis nach begreifen sich die Anhänger:innen als Diaspora-Gemeinschaft. Einer repräsentativen Studie eines evangelikalen US-Forschungsunternehmens zufolge zählten sich 2019 vier Prozent aller befragten Afro-Amerikaner:innen zu den BHI.

Ihnen allen liegt der Glaube zugrunde, dass (einige, wenn nicht sogar alle) Afro-Amerikaner:innen von den alttestamententlichen Israelit:innen abstammen. Die sollen dem Mythos zufolge nach Westafrika gewandert sein, von wo aus sie von den europäischen Sklavenhändlern nach Amerika entführt worden seien. Die BHI sehen diese Entführung als die Erfüllung eines biblischen Fluches. Denn jene Israelit:innen sollen das göttliche Gesetz vergessen haben, wodurch eine Wiederholung der ägyptischen Sklaverei auslöst wurde (Deut. 28, 68). In der Bewegung existiert jedoch ein Heilsversprechen: Die Rückkehr zum göttlichen Gesetz und zur “wahren” Identität verheißen Rettung aus der amerikanischen Unterdrückung.

Die Bewegung der BHI ist also keine homogene Religionsgemeinschaft, sondern eine Bewegung, die sich auf eine imaginierte Herkunft bezieht. Dabei sind die Anhänger:innen nicht mit Schwarzen Jüd:innen zu verwechseln. Unter den verschiedenen Gruppierungen der BHI sind unterschiedliche Glaubensformen zu finden, meistens basieren diese auf dem Christentum. In einigen Gruppen haben Mitglieder aber auch jüdische Rituale wie die Beschneidung adaptiert, allerdings handelt es sich dabei zumeist um christliche Interpretationen der Riten.

Auch muslimische Zweige sind bei den Black Hebrew Israelites zu finden. Die vielen Gruppierungen sind in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr mit anderen afro-amerikanischen Emanzipations-Bewegungen verwoben worden. Dazu gehören die Bürgerrechtsbewegungen der 1960er Jahre oder der Panafrikanismus und die mit ihm verbundenen Rastafari. Viele Köpfe der zumeist patriarchalisch geprägten BHI-Bewegung stammen aus und sind Teil der Arbeiterklasse. BHI-Vertreter:innen behaupten auch heute noch, an einer Stelle des Neuen Testaments einen vermeintlichen Beweis für Jesu Ethnie vorzufinden: In der Offenbarung des Johannes heißt es, Jesus habe Haare wie „(weiße) Wolle” und “Füße gleich Golderz, wie im Ofen durch Feuer gehärtet”.

Die bekannteste, nicht US-amerikanische Gruppe lebt in Israel. Die etwa 100 Mitglieder sind dem ehemaligen Stahlarbeiter Ben Carter Ende der 1960er Jahre von Chicago zuerst nach Liberia und dann in die Wüste Negev gefolgt, wo sie sich schließlich niederließen. Auch Carter soll laut eigenen Angaben eine Vision gehabt haben. Der Erzengel Gabriel habe ihn aufgefordert, die afrikanischen Israelit:innen ins Gelobte Land zu bringen. Bis heute wohnen seine noch lebenden Anhänger:innen und deren Nachkommen im Land und feiern dort jedes Jahr ihren “zweiten” Exodus aus den USA. Das passiert allerdings teilweise ohne Staatsbürgerschaft, weil die israelische Regierung den vermeintlich jüdischen Status der Mitglieder nicht anerkennt.

Die Juden als „satanische“ Bedrohung?

Doch unter all diesen unterschiedlichen BHI-Gruppierungen tummeln sich auch radikale Gruppierungen, die mit Begriffen wie „Sekte” oder „Kult” beschrieben werden. Ganz im Sinne des Urvaters Cherry finden sich bei ihnen separatistische und Black Supremacy-Standpunkte. Die Anti-Defamation League berichtet zudem davon, dass manche BHI-Anführer homo- und transphobe Erzählungen verbreiten. So werde die LGBTQ-Gemeinschaft unter anderem als „dämonisch” bezeichnet.

Diese radikalen Positionen mehrerer BIH-Gruppen führen unter Wissenschaftler:innen zu Vergleichen mit anderen US-Bewegungen, deren Anhänger:innen sich als von Gott auserwählt empfinden. Zum einen ist da die Nation of Islam unter Louis Farrakhan, der ebenfalls mit Antisemitismus und Separatismus aufwartet. Zum anderen vergleicht der Anthropologe Henry Goldschmidt die BHI mit der rechtsextremen Christian Identity-Bewegung. Beide integrieren rassenantisemitische Vorstellungen in ihren theologischen Überbau. Beide begreifen sich als wahre Israelit:innen aus dem AT und sehen sich einer weltweiten jüdischen Verschwörung ausgeliefert, die es zu bekämpfen gilt. Und beide sehen Jüd:innen als „satanische“ Bedrohung.

Einen vorläufigen, traurigen Höhepunkt des radikalen Teils der BHI-Bewegung gab es 2019: In New Jersey verübten zwei Anhänger einen antisemitischen Anschlag in einem koscheren Supermarkt, vier Menschen wurden getötet. Kein Wunder also, dass das jüngst verbreitete „We support Hitler”-Video aus New York für Beunruhigung sorgt.

Die Bewegung, so komplex wie sie ist, bleibt weiterhin anziehend. Mehrere bekannte Schwarze Männer der Entertainment-Branche haben sich als Sympathisanten oder Anhänger geoutet. Dazu gehören neben Ye der Entertainer Nick Cannon oder die Rapper Kodak Black und Kendrick Lamar. Der Basketballer Kyrie Irving hatte zuletzt einen mittlerweile gelöschten Tweet gepostet, in dem er auf den antisemitischen BHI-Film „Hebrew to Negroes: Wake Up Black America“ verwies. Und auch der vermeintlich geläuterte, deutsche Sänger Xavier Naidoo schrieb im November 2020 an die Mitglieder des Zentralrates der Juden gerichtet, sie sollten sich schämen, „unsere Identität anzunehmen”. Es sind reiche Männer, die sich von Gott auserwählt fühlen.

Wenn aber die Black Hebrew Israelites den Platz der Jüd:innen beanspruchen, führt dies zu einer grundlegenden Frage: Ist allein die Behauptung, ein „wahrer” Israelit zu sein, antisemitisch? Auch der Journalist Sam Kestenbaum, der seit Jahren über die BHI schreibt, hat sich diese Frage gestellt. Er lässt die Antwort offen. Ye übrigens wurde wegen seiner Äußerungen von der Organisation StopAntisemitism zum „Antisemiten des Jahres” gewählt.