Brasilien: Wahlkampf in Gottes Namen

Am Sonntag wird in Brasilien gewählt: Der rechtsradikale Christ Jair Bolsonaro kämpft um seine Wiederwahl. Besonders evangelikale Christ:innen werden im Wahlkampf umworben.

Mehr als zwölf Millionen Menschen folgen dem Pastor Deive Leonardo auf Instagram. Er teilt dort musikalisch untermalte Predigten, Bilder und Videos von seinen Shows mit tausenden Menschen. Der Pastor gehört zur Assembleia de Deus (Versammlung Gottes), einer der größten evangelikalen Pfingstkirchen in Brasilien und ist der „Religions-Influencer“ mit der größten Reichweite im Land.

Weil viele der evangelikalen Kirchen in den vergangenen Jahren stark auf neue Medien gesetzt und Menschen durchs Internet erreicht haben, sind viele ihrer Vertreterinnen und Vertreter inzwischen zu wahren Social-Media-Stars aufgestiegen und haben einen enormen gesellschaftlichen Einfluss.

Auf dem Profil von Pastor Deive Leonardo geht es hauptsächlich um spirituelle Inhalte. Andere evangelikale Social-Media-Größen nutzen ihre Reichweite anders – beispielsweise um politisch Einfluss auf den aktuellen Wahlkampf zu nehmen. Ein Beispiel dafür ist Patrícia Bonissoni, sie ist bekannt als Pastora Patrícia, Priesterin in der 7ª Igreja do Evangelho Quadrangular (Foursquare Church), und unterstützt auf all ihren Profilen die Kandidatur des aktuellen Präsidenten Jair Bolsonaro.

Brasilien wählt am 2. Oktober einen neuen Präsidenten und gleichzeitig auch Parlament und Senat. Sollte keiner der Präsidentschaftskandidaten im ersten Wahlgang eine absolute Mehrheit erreichen, finden am 30. Oktober Stichwahlen statt. Die aussichtsreichsten Kandidaten für das Präsidentschaftsamt sind der aktuelle, rechtsextreme Präsident Jair Bolsonaro und der ehemalige Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva von der Arbeiterpartei PT.

Lula führt in allen aktuellen Umfragen, aber der gesamte Wahlkampf ist sehr polarisiert und aufgeladen. Die einzelnen Gruppen von Wählerinnen und Wählern sind stark umkämpft – auch die Evangelikalen.

Evangelikale Christen als politischer Faktor

Mehr als 30 Prozent der Brasilianer und Brasilianerinnen gehören einer evangelikalen Glaubensgemeinschaft an, Tendenz steigend. Die meisten evangelikalen Kirchen im Land sind sogenannte Pfingstkirchen, in denen der Heilige Geist eine besonders große Rolle spielt. Während traditionell politisch vor allem die katholische Kirche eine große Rolle spielte, sind die evangelikalen Glaubensgemeinschaften seit Anfang der 2000er Jahre auch aktiv dabei, ihren gesellschaftlichen Einfluss auszubauen. Durchaus mit Erfolg: Mehr als 100 Abgeordnete und rund 15 Senatoren und Senatorinnen zählen sich zu den Evangelikalen, zusammen haben sie rund 20 Prozent der Stimmen im Parlament.

Bolsonaro zählt die Evangelikalen zu seinen Unterstützern. 2018 war er mit dem Wahlslogan „Brasilien über allem, Gott über allen“ angetreten und rund 70 Prozent der Evangelikalen haben für ihn abgestimmt. Die Wahlvorhersagen für dieses Jahr sind hingegen nicht eindeutig: Während die meisten evangelikalen Männer noch immer für Bolsonaro stimmen wollen, teilen sich die weiblichen Anhängerinnen der evangelikalen Kirchen in den Prognosen recht ebenmäßig zwischen ihm und Lula auf.

Umkämpfte Wählerinnenschaft

Pastora Patrícia will genau diese Wählergruppe erreichen: Evangelikale Frauen. Mit ihrem blondierten Haar, eng sitzenden bunten Hosenanzügen und dem immer akkuraten Make-up würde man sie im ersten Moment wahrscheinlich eher für eine Unternehmerin als für eine Pastorin halten. Sie nutzt ihre Internetpräsenz zwar noch immer zum Teilen von spirituellen Sprüchen, aber der Fokus liegt in den letzten Wochen klar wo anders – auf dem Wahlkampf.

Sie selbst würde gerne Bundesabgeordnete werden und tritt für die Partei Partido Republicano da Ordem Social (Republikanische Partei der sozialen Ordnung, kurz PROS) an. Die PROS gehört zum sogenannten Centrão, einem eher konservativen und opportunistischen Parteienverbund, der in den vergangenen Jahrzehnten an vielen Regierungen aber auch an vielen Korruptionsskandalen beteiligt war. Pastora Patrícia und ein großer Teil des Centrãos unterstützen in diesem Jahr eine neue Regierung von Jair Bolsonaro.

Ihre Themen sind der Schutz von Kindern, Familien, Frauen und der christlichen Werte. Genau die Themen, mit denen man laut Expertin Jaqueline Moraes Teixeira evangelikale Wählerinnen erreichen kann. Teixeira ist Anthropologin, forscht seit mehr als zehn Jahren zu Evangelikalen und deren politischen Einfluss und ist Professorin an der Universität Brasília.

Es gibt aber noch engere Verbindungen zwischen Evangelikalen und dem brasilianischen Präsidenten: „Ehre, Kraft und Macht für König Jesus“ – das steht im Instagram-Profil von Michelle Bolsonaro, der aktuellen und dritten Ehefrau des Präsidenten. Sie teilt Videos von Gospel-Songs zwischen Kampagnen-Clips und erklärt den Wählerinnen, wie sich ihr Mann als Präsident für Frauen einsetzt. „Michelle Bolsonaro wird bewusst eingesetzt, um Frauen als Wählerinnen anzusprechen“, meint Teixeira. Sie solle Vertrauen schaffen und Brücken bauen. Wie gut das gelingt, ist unklar.

Um die wachsende Gruppe an evangelikalen Brasilianerinnen und Brasilianern zu verstehen, sei es auch wichtig auf deren demografische Zusammensetzung zu schauen, meint Teixeira. Rund 60 Prozent von ihnen sind Frauen, die meisten von ihnen leben von einem Haushaltseinkommen bis zu 1500 Reais (rund 300 Euro) und sind Schwarz. „Das ist eigentlich ein unpolitisches Publikum“, erklärt Teixeira. Wichtiger als die politische Ausrichtung sei für viele der Menschen, inwiefern sie finanziell von öffentlicher Politik profitieren können. In der Vergangenheit hatte darum auch schon die Mehrheit der evangelikalen Wählerschaft für Lula und dessen Parteinachfolgerin Dilma Rousseff gestimmt.

Evangelikale Pfingstkirchen als Lückenfüller

Evangelikale Kirchen sind in Brasilien oft da, wo der Staat nicht hinkommt. In abgeschlagenen, peripheren Vierteln von Großstädten, auf dem Land im infrastrukturschwachen Nordosten und auch in indigenen Gemeinden im Amazonasregenwald. In oft schmucklosen Räumen mit weißen Plastikstühlen finden dann mehrmals die Woche lebendige Gottesdienste statt. Aber all diese Kirchen bieten viel mehr als nur eine geistige Heimat.

„Viele Kirchen erfüllen dort Aufgaben, die der Staat nicht erfüllt“, sagt Teixeira. Kirchen können sich in Brasilien als zivilgesellschaftliche Organisationen eintragen lassen und haben dann einen ähnlichen rechtlichen Status wie in Deutschland Vereine. Als solche können sie dann beispielsweise Schulen bauen oder die Asphaltierung von Straßen veranlassen. Gerade in armen Regionen bekommen sie dadurch viel Zuspruch.

Und die Armut in Brasilien hat in den vergangenen Jahren enorm zu genommen: Rund 33 Millionen Brasilianerinnen und Brasilianer leiden aktuell Hunger, mehr als die Hälfte der Gesamtbevölkerung ist von sogenannter Ernährungsunsicherheit betroffen und muss in Bezug auf die eigene Ernährung Abstriche machen. Das war schon mal anders, durch intelligente Sozialpolitik verschwand Brasilien 2015 vorübergehend von der UN-Hungerkarte. Jetzt ist der Hunger wieder zurück in Lateinamerikas größtem Land – und wählt mit. In der Tendenz eher gegen Bolsonaro.

„Viele evangelikale Frauen sind von der Regierung Bolsonaro enttäuscht“, sagt Anthropologin Teixeira. Sie hätten nicht das Gefühl, dass versprochene Maßnahmen zum Schutz von Frauen und Familie umgesetzt worden seien. In einer ihrer Untersuchungen hätten sie außerdem die finanziell prekäre Situation und den Umgang des Präsidenten mit der Pandemie beklagt (wir berichteten). Zwar hat die aktuelle Regierung versucht, soziale Härten mit dem Sozialprogramm „Auxílio Brasil“ abzufedern, trotzdem geht es vielen Menschen deutlich schlechter als vor vier Jahren.

Die Evangelikalen entscheiden die Wahlen

Wie wichtig die Evangelikalen als Wählergruppe sind, zeigt sich auch an Lulas Kampagne: Auch er wirbt um ihre Unterstützung. Er inszenierte sich wiederholt mit dem evangelikalen Pastor Paulo Marcelo Schallenberger. Außerdem machte er Geraldo Alckim zum Kandidaten für das Amt des Vize-Präsidenten. Alckim ist ein konservativer Katholik, unterhält aber auch gute Beziehungen zu den Evangelikalen.

All das kommt nicht von ungefähr: „Das evangelikale Publikum entscheidet die Wahlen“, ist Jaqueline Teixeira überzeugt. Wenn die Mehrheit der Evangelikalen für Lula stimme, dann gewinne der unter Umständen schon im ersten Wahlgang.