„Brüder im Nebel“: Das Gercke-Gutachten im Erzbistum Köln
Die Kanzlei Gercke Wollschläger hat am Donnerstag das langerwartete 2. Gutachten zum sexuellen Missbrauch im Erzbistum Köln vorgestellt. Was steht im Gutachten? Und welche Bischofsstühle wackeln?
Am Donnerstag haben Björn Gercke und Kerstin Stirner von der Kanzlei Gercke Wollschläger ihr Gutachten zu Fällen sexuellen Missbrauchs im Erzbistum Köln vorgelegt. Der Veröffentlichung wurde von vielen Katholik:innen und Beobachter:innen mit gemischten Gefühlen entgegengesehen, nachdem Erzbischof Rainer Maria Woelki ein zunächst bei der Münchener Kanzlei Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW) in Auftrag gegebenes Gutachten nicht veröffentlichte.
Als erste Reaktion auf das Gercke-Gutachten entband Erzbischof Kardinal Rainer Maria Woelki den jetzigen Kölner Weihbischof und ehemaligen Generalvikar Dominikus Schwaderlapp und Offizial Günter Assenmacher „vorläufig von ihren Pflichten“. Schwaderlapp bot am Donnerstag Papst Franziskus auch seinen Rücktritt an. Am späten Donnerstagnachmittag dann hat auch der ehemalige Kölner Generalvikar und jetzige Hamburger Erzbischof Stefan Heße Papst Franziskus seinen Rücktritt angeboten (Video). Sie sind damit die ersten römisch-katholischen Bischöfe in Deutschland, die im Zusammenhang mit dem Missbrauchsskandal ihren Rücktritt einreichen.
Aktualisierung 19.03.2021, 13 Uhr: Wie die dpa berichtet, hat auch der Kölner Weihbischof und ehemalige Personalchef Ansgar Puff um seine Beurlaubung gebeten. Der Bitte ist Erzbischof Woelki nachgekommen:
Strafrechtler Björn Gercke hatte Puff bei der Vorstellung des Gutachtens am Donnerstag zunächst nicht genannt. Das Erzbistum wies am Freitag jedoch darauf hin, dass in dem Gutachten ein ehemaliger Personalchef des Erzbistums aufgeführt werde, der ebenfalls eine Pflichtverletzung begangen habe, nämlich einen Verstoß gegen die Aufklärungspflicht. Dieser damalige Personalchef sei der heutige Weihbischof Puff. Die in dem Gutachten genannte Pflichtverletzung solle jetzt sachgerecht bewertet werden, erläuterte das Erzbistum.
Wo finde ich das Gutachten?
Das sehr umfangreiche Gutachten steht seit 13 Uhr der Öffentlichkeit auf der Website des Erzbistums zur Verfügung. Außerdem steht der Vortrag von Gercke und Stirner als eine Art Kurzfassung des Gutachtens online sowie die Präsentation der GutachterInnen, die einige interessante Grafiken enthält.
Was steht drin?
Das Gutachten umfasst 895 Seiten. Die GutachterInnen erklären ihre Methodik und die allgemein- und kirchenrechtlichen Rahmenbedingungen, die der Bewertung der Akten zugrundeliegen. Sie erklären auch Umfang und Qualität des Aktenbestands („katastrophal“).
Gercke und Stirner wiesen bereits in ihrer Präsentation des Gutachtens mehrfach ausführlich und nachdrücklich darauf hin, dass dieses sich auf den Aktenbestand des Erzbistums bezieht, wie er ihnen zugänglich war. Obwohl sich die aktuellen MitarbeiterInnen des Erzbistums darum bemüht hätten, Lücken zu schließen, sprechen die beiden Strafrechtsanwälte von einer teilweise desolaten Aktenführung in der Vergangenheit. Daraus folgt unmittelbar, so Gercke und Stirner, dass die im Gutachten vorgenommenen Beschuldigungen nur einen Ausschnitt des womöglich vorgefallenen Missbrauchs und der erfolgten Pflichtverletzungen darstellen.
Das Gutachten kategorisiert die Akten in ein Ampel-System. Demnach wurden 108 als Grün, 104 als Gelb und 24 Vorgänge Rot gekenzeichnet. Demnach bedeutet Grün, dass keine Pflichtverletzung erkannt wurde. „Auch Grün bedeutet nicht, dass alles in Ordnung ist“, betonte Stirner, denn Grundlage des Gutachtens sind die häufig mangelhaften Akten. Die Rot gekennzeichneten Fälle sind Grundlage der Untersuchung auf individuelle Fehler von Leitungspersonen, die den größten Umfang der Untersuchung einnimt.
In der ausführlichen Darstellung dieser Aktenvorgänge tauchen auch bereits bekannte und in der Presse ausführlich dargestellte Fälle wie der „Fall O.“ auf. Hier konfrontieren die GutachterInnen die Aktenlage mit den Einlassungen der AkteurInnen, die sie für ihre Untersuchung befragt haben und ziehen zum Teil sehr strenge Urteile. Die restlichen Vorgänge werden von den GutachterInnen in verkürzter Form dargestellt.
Das Gutachten verdankt sich nicht allein dem Aktenstudium, sondern umfasst auch die Stellungnahmen von damals und heute im Erzbistum handelnen AkteurInnen, und zwar sowohl in einem allgemeinen Teil als auch jeweils direkt einzelnen Aktenvorgängen zugeordnet. Die Stellungnahmen zeigen besonders eindrücklich, wie die handelnden Personen bis in die Gegenwart Verantwortung für die fehlerhafte Bearbeitung der Missbrauchs-Fälle abstreiten und auf andere Personen abwälzen wollen.
Geht es da nur um (Kirchen-)Gesetze und Juristerei?
Jein. Das Gutachten wurde von Kardinal Woelki dem Müchnener Gutachten dem Vernehmen nach vorgezogen, weil es sich auf eine juristische Darstellung beschränkt und insbesondere eine theologische oder moralische Bewertung der Vorgänge vermeidet. Das trifft zu.
Allerdings ermöglicht diese Engführung auch, ganz nah an den zur Verfügung stehenden und kirchenintern seit je vorliegenden Erkenntnissen zu bleiben. Das verleiht den im Gutachten erläuterten Fehlern und Pflichtverletzungen besondere Glaubwürdigkeit. Was fehlt, ist die Perspektive der Betroffenen. Ihr Leid liest man zwischen den Zeilen: Etwa wenn Stefan Heße die Bitte eines Betroffenen um Übernahme der Kosten einer Fahrt zur Therapie ablehnt.
Ausführungen zu den systemischen und theologischen Gründen des Missbrauchs in der römisch-katholischen Kirche finden sich im Gutachten nicht, wohl aber eine genaue und durchaus kritische Bewertung des konkreten Leitungshandelns an den zum jeweiligen Zeitpunkt geltenden weltlichen und kirchenrechtlichen Gesetzen und Regelungen.
Wichtige Ergebnisse:
- Im Gutachten ist von 243 Beschuldigten und 386 Betroffenen die Rede. In diese Zahl sind jedoch auch Zölibatsvergehen inkludiert, die nicht an Minderjährigen oder Schutzbefohlenen verübt wurden. Ohne diese Fälle kommen Gercke und seine MitarbeiterInnen auf 202 Beschuldigte und 314 Betroffene im Zeitraum von 1975 bis 2018.
- Das Erzbistum sei bei der Bearbeitung von Missbrauchsvorwürfen erkennbar „überfordert“ gewesen. Es hätten zum Teil „Chaos“ und das Gefühl von „Unzuständigkeit“ vorgeherrscht. Es habe „kein planvolles Handeln und keine Anweisung von oben“ zur Vertuschung gegeben, so Gercke. Man spreche daher auch nicht von „systematischer Vertuschung“ , sehr wohl aber von „systembedingter oder systeminhärenter Vertuschung“. Aus den Akten gingen laut Gercke und Stirner keine Pflichtverletzungen hervor, die im Sinne der ordentlichen, weltlichen Gerichtsbarkeit strafvereitelnd gewirkt haben.
- Insgesamt haben die GutachterInnen 75 Pflichtverletzungen von 8 Personen festgestellt und zugeordnet. Dem ehemaligen Kölner Erzbischof Kardinal Joachim Meisner werden im Gutachten 24 Pflichtverletzungen zugewiesen, davon 6 bei der Aufklärung und 9 Meldepflichtverletzungen. Die GutachterInnen haben keine Pflichtverletzungen Kardinal Woelkis festgestellt.
- Dem früheren Kölner Generalvikar (2004 – 2012) und jetzigen Weihbischof Dominikus Schwaderlapp werden 8 Pflichtverletzungen zur Last gelegt. Dem ehemaligen Kölner Generalvikar und jetzigen Erzbischof von Hamburg Stefan Heße 11. Dem ehemaligen Generalvikar und ehemaligen Kölner Dompropst Norbert Feldhoff 13 Pflichtverletzungen.
- Gercke berichtete im Zusammenhang seiner Schilderungen der mangelhaften Aktenführung im Erzbistum von „Giftakten“ und einem von ihnen noch einmal getrennt geführten Aktenordner des ehemaligen Erzbischofs Kardinal Joachim Meisner, den dieser mit „Brüder im Nebel“ beschriftet habe.
Weiteres:
Die Veröffentlichung des Gercke-Gutachtens hat in der römisch-katholischen Kirche ein veritables Erdbeben ausgelöst. Zum ersten Mal überhaupt haben zwei katholische Bischöfe in Deutschland im Zuge der Aufdeckung von Missbrauchs-Fällen ihren Rücktritt eingereicht.
Der komplizierte Angang inkl. Zurückhaltung des WSW-Gutachtens und der Instrumentalisierung des Betroffenenbeirates durch Kardinal Woelki macht das Verständnis des Gutachtens nicht eben leichter. Es ist eben nicht um luftleeren Raum geschrieben und veröffentlicht worden, sondern selbst Teil der Geschichte und somit weder Anfang noch Ende der Aufarbeitungsbemühungen.
Was wusste Woelki über die Gutachten?
Kardinal Woelki behauptete stets, die Inhalte des ersten Gutachtens aus München nicht zu kennen, sondern sich auf das Urteil von Juristen verlassen zu haben, die ihm von einer Veröffentlichung abrieten. Das war im Frühjahr 2020. Der Erzbischof kündigte damals an, man müsse das Gutachten überarbeiten. Später zog er das Gutachten vor Veröffentlichung und unter Ausnutzung des Betroffenenbeirates ganz zurück und beauftragte Gercke und sein Team mit dem Verfassen eines neuen Gutachtens.
Gercke erläuterte auf der Pressekonferenz zur Vorstellung seines Gutachtens, dass das bisher unter Verschluss gehaltene Gutachten der Münchener Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl (WSW), im Falle der möglichen Pflichtverletzungen Kardinal Woelkis zum gleichen Ergebnis gekommen sei. Und er berichtete davon, eine Mitarbeiterin der Kanzlei WSW habe Kardinal Woelki von seiner persönlichen Entlastung („Sie haben nichts zu befürchten“) ausweislich einer Gesprächsnotiz, die ihm vorliege, bereits im Frühjahr 2020 in Kenntnis gesetzt.
Rücktritt Weihbischof Schwaderlapp:
In einer Stellungnahme bei CNADeutsch erklärte Weihbischof Schwaderlapp am Donnerstag nach der Vorstellung des Gutachtens, er habe Papst Franziskus den Amtsverzicht angeboten. Davon habe er Erzbischof Woelki vor der Veröffentlichung der Studie in Kenntnis gesetzt und um seine Freistellung gebeten:
„Bereits im Vorfeld habe ich Kardinal Woelki über diesen Schritt informiert und ihn gebeten, mich vom heutigen Tag an bis zu einer Entscheidung aus Rom von meinen bischöflichen Aufgaben freizustellen. Dies ist im Rahmen der heutigen Pressekonferenz auch erfolgt.“
Durch die Äußerungen Schwaderlapps entsteht der Eindruck, er habe bereits vor Veröffentlichung der Studie gewusst, was auf ihn zukommt. Anfang des Jahres wurde er von den GutachterInnen einvernommen, wie aus seinen Stellungnahmen hervorgeht, die in das Gutachten aufgenommen wurden. Musste er bereits zu diesem Zeitpunkt davon ausgehen, dass das Gutachten ihn so massiv belasten würde? Warum ist er dann erst am Donnerstag und nicht bereits vor Wochen zurückgetreten?
Weitere Aufarbeitung („Unabhängige Aufarbeitungskommission“):
Der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, Johannes-Wilhelm Rörig, begrüßte die Veröffentlichung des Gutachtens:
„Das auf der Basis der Aktenlage von den Gutachter*innen gezeichnete Aus-maß des Missbrauchs und der Pflichtverletzungen kirchlicher Verantwortungsträger ist erschreckend.“
Im Rahmen seiner Stellungnahme nahm Rörig auch auf die am Mittwoch (!) erfolgte Unterzeichnung der „Gemeinsamen Erklärung“ von UBSKM und DBK durch Erzbischof Woelki Bezug:
„Erst durch die jetzt anstehende unabhängige Aufarbeitung geraten endlich die Betroffenen stärker in den Fokus, die sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit erlitten habe. Hat ein anwaltliches Gutachten eher die Fragen der Pflichtverletzungen und Schuld von Verantwortlichen im Blick, so wird durch die unabhängige Aufarbeitung auch das Leid der Betroffenen betrachtet und auch geklärt, warum Kirchenleute so rigoros und herzlos mit kindlichen Opfern umgegangen sind. […] Wenn sich das mächtige Erzbistum Köln nun an die Spitze der unabhängigen Aufarbeitung setzt und auch die Betroffenen uneingeschränkt unterstützt, würde ich das sehr begrüßen.“
Zum Hintergrund:
Morgen wird der langersehnte 2. Missbrauchsbericht des Erzbistums #Köln veröffentlicht. Gerade eben informiert das Erzbistum, Kardinal #Woelki habe die Gemeinsame Erklärung der DBK mit dem UBSKM unterschrieben. D.h. die Einrichtung einer unabhängigen Aufarbeitungskommission. 1/2
— Philipp Greifenstein (@rockToamna) March 17, 2021
(Dieser Artikel wird fortlaufend aktualisiert.)