Landesbischöfin Ilse Junkermann, Foto: EKM

Das Abschiedsinterview

Am Samstag wird Ilse Junkermann nach zehn Jahren Amtszeit als Landesbischöfin der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) verabschiedet. Im Gespräch mit der Eule zieht sie Bilanz.

Eule: Frau Junkermann, kennen Sie den Begriff „lame duck“? Fühlen Sie sich als lahme Ente?

Junkermann: Na, zum Teil schon. Seit der Entscheidung des Landeskirchenrats meine Amtszeit nicht zu verlängern, habe ich überlegt: Was ist in diesen anderthalb Jahren jetzt noch dran und wo nehme ich mich zurück? Es ist auch eine Entlastung, Verantwortung Stück für Stück abzugeben und nicht aus dem vollen Lauf zu stoppen, sondern bei manchem zu schauen, dass es ein gutes – vorläufiges – Ende gibt, eine gute Übergabe. Das kostet auch Kraft.

Eule: Was sind denn Dinge, wo Sie sich zurückgenommen haben?

Junkermann: Ein Beispiel sind die Workshops, die ich 2017 und 2019 mit den neuen Ordinierten gemacht habe. Was sind Erfahrungen, die junge Pfarrerinnen und Pfarrer für Innovation mitbringen? Auf welche Widerstände stoßen sie? Welche strukturelle Unterstützung im System benötigen sie? Das habe ich noch richtig gemacht, aber doch schon darauf geachtet, dass es nicht an meiner Person hängt, sondern sich eine Gruppe bildet, die sich darum kümmert. Von Anfang an habe ich das mit Kirchenrat Thomas Schlegel gemeinsam gemacht, der für die Erprobungsräume zuständig ist – damit es eine Vernetzung gibt.

Eule: Die Erprobungsräume sind ja bemerkenswert. Gibt es schon erste Erfahrungen, wo man sagen kann: Aha, das lohnt sich?

Junkermann: Die Erprobungsräume sind, wenn ich zurückblicke, Folge eines ganz wichtigen Impulses von mir, als ich in meinem Synodenbericht 2012 sinngemäß sagte: ‚Wir können nicht einfach so weiter machen! Wir sind am Ende mit unseren bisherigen Ideen, wie wir mit den Gemeindegliederzahlen und Finanzmitteln umgehen. Viele Haupt- und Ehrenamtliche sind am Ende, weil sie versuchen, das immer Gleiche weiterzumachen nur auf größerer Fläche, zum Teil mit gestückelten Dienstaufträgen wie bei den Gemeindepädagoginnen und Kirchenmusikerinnen.

Eule: So düster sieht es aber auch in der EKM nicht überall aus.

Junkermann: Natürlich! In Südthüringen zum Beispiel gibt es noch volkskirchliche Strukturen, da braucht man nichts Neues anfangen. Da ist es gut, das bisher Bestehende zu bewahren. Das Stichwort „Vom Rückbau zum Umbau“ war ein wesentlicher Punkt meines Bischofsberichts von 2012. Da bin ich sehr froh, dass sich die Grundrichtungung dahingehend geändert hat.

Das wichtige bei den Erprobungsräumen ist ja, dass Räume für das Ausprobieren geöffnet werden, denn es gibt kein Modell mehr, von dem man sagen kann: „Jetzt macht ihr das so und dann funktionierts.“ Zu den Erprobungsräumen gehört ausdrücklich die Fehlerfreundlichkeit. Auch wenn es nicht funktioniert, kann man etwas dabei lernen. Diese innovationsfreundliche Atmosphäre hat sich in den letzten Jahren ausgebreitet. Auch die Einsicht und die damit verbundene Entlastung, dass wir nicht immer so weiter machen müssen wie bisher.

Eule: Die EKM gibt es nun schon seit zehn Jahren. Sind die ehemalige Kirchenprovinz Sachsen (KPS) und die Thüringische Landeskirche zusammengewachsen? Gibt es große Mentalitätsunterschiede?

Junkermann: Ich hoffe sehr, dass die Mentalitätsunterschiede bleiben! Davon lebt eine Kirche wie jede Gemeinschaft, dass die Menschen nicht uniform werden. Das ist ein Kennzeichen der Diktatur und des Totalitarismus, dass alles einheitlich wird. Die Freiheit hat viel mit der Freude an der Vielfalt zu tun. Bei uns gibt es sehr viel mehr unterschiedliche Identitäten, als sich auf die beiden ehemaligen Landeskirchen zu beziehen. Es gab schon immer einen großen Unterschied zwischen den Gemeinden auf dem Land und in der Stadt, aber auch zwischen Altmark und Mansfelder Land. Die Brandenburger ticken wirklich ganz anders als die Menschen in Leuna.

Uns verbindet der gemeinsame Auftrag in dieser großen Region. Uns verbindet gemeinsame Geschichte, insbesondere die gemeinsame Geschichte in der DDR. Gemeinsame Bedrückungen, auf die unterschiedlich reagiert wurde. Die Verbindung innerhalb ders östlichen Gliedkirchen ist nach wie vor sehr eng. Wir sind im regelmäßigen Austausch im Blick auf die Diktaturfolgen, die uns sehr deutlich unterscheiden von den westlichen Gliedkirchen.

Eule: Gibt es noch ein Gegeneinander oder ist daraus in den letzten Jahren ein Miteinander geworden?

Junkermann: Es verbindet uns ja auch die freie Entscheidung zusammenzugehen. Wichtig ist die Erinnerung an das gegenseitige Versprechen, Erfahrungen und Ressourcen zu teilen, und damit zu ermöglichen, dass die Gemeinden vor Ort nicht so viel kürzen und leiden müssen, sondern dass die landeskirchliche Ebene überproportional einspart. Das ist auch gelungen. Im Rahmen der Fusion war die Kürzungsvorgabe auf landeskirchlicher Ebene – 34 % und das ist innerhalb von fünf Jahren auch erbracht worden. Das nimmt mir immer noch die Luft, was da geleistet wurde, aber auch welche Härten da zum Teil zu verkraften waren.

Ein Unterschied liegt darin, dass die Kirchenkreise der ehemaligen Kirchenprovinz viel höhere Rücklagen haben, weil sie schon früh sehr stark gekürzt haben und das Geld in die Rücklage getan haben. Die Thüringer haben gesagt: Solange wir das Geld haben, wollen wir auch die kleinteiligen Strukturen erhalten. Ganz grob gesagt: Die ehemalige KPS hat mehr Geld, aber die Thüringer Gemeinden haben fast doppelt so viele Gemeindeglieder. Uns verbindet eben auch ein gemeinsamer Haushalt. Gerade da merke ich, wenn wir auf landeskirchlicher Ebene zusammenkommen, dass die Diskussions- und mögliche Konfliktlinien nicht mehr entlang der alten Kirchengrenzen verlaufen.

Eule: Die EKM ist die Landeskirche mit den meisten Kirchengebäuden. Die Diskussion darüber, was die Kirche sich in Zukunft noch leisten kann, ist in vollem Gang, zuletzt angestachelt durch die Projektion 2060. War es ein Irrweg, alles zu erhalten und hübsch zu machen?

Junkermann: Zwanzig Prozent der Kirchen auf dem Gebiet der EKD stehen bei uns, aber nur ca. fünf Prozent der Gemeindeglieder leben hier. Es ist also ganz deutlich: Da haben wir einen großen Schatz! Auch, weil Kirchen jenseits der Kirchenmitgliedschaft Identität stiften. Die Kirche ist für viele Menschen in kleinen Orten der letzte verbliebene Identifikationsort.  Es haben sich sehr viele Kirchbauvereine gegründet, die Kirchen weiternutzen und pflegen. Das zeigt, dass es sich lohnt sie zu erhalten, weil Menschen sich mit ihnen identifizieren, wenn auch nicht vom Glauben, sondern von der Geschichte her.

Das ist, finde ich, auch sehr erklärlich: Zwei Diktaturen haben gezeigt, wie dominant neue Werte sein können und wie massiv und schnell sie einbrechen können. Die Frage, die die Menschen bewegt, ist: Auf was ist denn Verlass? Und dafür stehen die Kirchengebäude schon wegen ihres Alters.

Eule: Wenn jeder sein Scherflein bekommt, bleibt am Ende wenig übrig, um in eine andere Richtung aufzubrechen.

Junkermann: Bei der Entscheidung, wohin wir gehen wollen, ist Geld die am wenigsten wichtige Ressource. Die Kirche lebt von anderem als von Geld. Wenn ich an unsere Partnerkirche in Tansania denke, die sind so arm an Geld, und das ist eine Kirche, die unglaublich wächst, an Gemeindegliederzahlen, aber auch wenn ich mir die Gottesdienste dort anschaue, die Chöre. In einer Gemeinde drei, vier, fünf Chöre! Da hängt ganz wenig am Geld.

Eule: Woran liegt es denn, dass es bei uns nicht so ist?

Junkermann: Vielleicht ja an der Geldfixierung? Und sicher auch daran, dass wir von der Staatskirche herkommen. Das ist zwar schon hundert Jahre her, aber kirchengeschichtlich muss man sagen: Es sind erst hundert Jahre. Wenn man die ersten hundert Jahre anschaut, die jetzt zu Ende gegangen sind, dann haben wir viele Suchbewegungen erlebt, was eigentlich Evangelische Kirche ausmacht, wenn sie nicht mehr Staatskirche ist.

Da hat die Bekennende Kirche eine große Rolle gespielt, an die die Kirchen in der DDR sehr stark angeknüpft haben. Die Einsichten aus der Barmer Theologischen Erklärung umzusetzen ist in den 1970er- und 1980er-Jahren in den Kirchenämtern der DDR-Kirchen gut gelungen. Diese Entwicklung hat mit der sogenannten „politischen Wende“ einen abrupten Abbruch gefunden, weil durch die Wiedervereinigung auch die Kirchen davon betroffen waren, einen Beitritt zu organisieren, statt gemeinsam nach einem neuen Weg zu suchen.

Eule: Hätte man sich mehr Zeit nehmen sollen zu schauen, was auch die Westkirchen von denen im Osten lernen können?

Junkermann: Ja, unbedingt. Das gilt für alle Fragen der Wiedervereinigung. Das zeigt sich ja jetzt dreißig Jahre danach an manchem Wahlergebnis. Man hätte es aber auch an der Kirchenmitgliedschaft sehen können, dass die Gesellschaften unterschiedlich geprägt sind. Es gibt vieles, das uns verbindet und es ist vieles auch toll gelaufen. Bei einem so großen Vorhaben kann gar nicht alles gelingen. Die Frage ist, wann man sich Defizite eingesteht, und darüber nachdenkt, wie man an diesen Punkten noch etwas ändern kann.

Deshalb freue ich mich sehr auf meine neue Forschungsstelle, weil es genau darum geht, die Schätze aus dieser Zeit über „Kirche in der Minderheit“ zu heben. Inwiefern sind sie für unsere heutige Diskussion relevant? Da gibt es ganz entscheidende Dinge, die uns gar nicht bewusst sind. Erst einmal muss man diese kennenlernen! Darauf freue ich mich sehr! Und ich freue mich, dass die EKD, die VLKD und die UEK gemeinsam die Sachkosten für diese Forschungsstelle tragen und damit signalisieren, dass auch ihnen diese Erfahrungen wichtig sind.

Landesbischöfin Ilse Junkermann, Foto: EKM

Eule: Sie waren die vierte Frau, die in ein leitendes geistliches Amt einer Landeskirche gewählt wurde. Dieses Jahr sind es seit 1992 insgesamt acht Frauen geworden. Wenn Sie aus dem Amt scheiden, sind es wieder nur drei Frauen, die zur gleichen Zeit ein solches Amt innehaben. Das sind 3 von 20 leitenden Geistlichen der evangelischen Landeskirchen.

Junkermann: Das ist natürlich zu wenig. Über 50 % der Kirchenmitglieder sind Frauen, im Ehrenamt sind es über 80 %. Am Ende ist das aber ein typisch männlicher Blick, nur auf die zu schauen, die ganz oben in der Hierarchie stehen, also Landesbischöfinnen sind. Man kann das bischöfliche Amt auch geschwisterlich auslegen und da gehören dann alle dazu, die im bischöflichen Amt sind, also auch die Regionalbischöfinnen. Dann sieht es schon mal anders aus.

Eule: Braucht es denn in der Kirche eine Frauenquote? Zum Beispiel die Verpflichtung, immer auch eine Frau als Kandidatin für ein Wahlamt aufzustellen?

Junkermann: Seit fünf oder sechs Jahren gibt es so etwas ja schon unausgesprochen. Aber Frauen werden eben nicht gewählt. Warum werden Frauen nicht gewählt? In den Augen mancher können Frauen nicht bestehen, weil sie eben keine Männer sind!

Wenn eine Frau sich wie ein Mann verhält und sagt, wo es langgehen soll, dann wird gesagt: „Das ist eine herrische Frau, das passt ja gar nicht!“  Wenn sie streitbar ist, heißt es, die ist zickig, die nimmt die anderen nicht mit. Wenn sie versucht, alle mitzunehmen, wird gesagt: „Die ist aber schwach!“ Gleichzeitig wird vom Leitungsamt auch erwartet, Vorschläge zu machen und die Richtung zu weisen. Das macht es wirklich schwer.

Deshalb ist es nötig zu lernen, dass wir eine Gemeinschaft von Verschiedenen sind, in der das Geschlecht vielleicht eine Rolle, aber nicht die entscheidende spielt. Der männliche Blick ist ein Grund für viele Frauen zu sagen: „Das tue ich mir nicht an!“ Meine These ist, dass von der Frauenordination bisher vor allem die Männer profitiert haben, weil sie dadurch vom typisch männlichen Rollenbild befreit worden sind. Viele Frauen spüren hingegen weiterhin den Druck, dem Idealbild eines (männlichen) Pfarrers zu entsprechen.

Eule: Man kann natürlich auch einfach nur Frauen aufstellen, wie es in der Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck zur Bischöfinnenwahl gerade gemacht wurde. Dann ist ja klar, dass auch eine Frau gewählt wird.

Junkermann: Ich war mir gar nicht sicher, dass es zu einer Wahl kommt. Ich habe als Personaldezernentin in Württemberg – das ist jetzt nur etwa zwölf Jahre her – erstmals eine Dekanswahl mit zwei Kandidatinnen erlebt. Die haben nicht gewählt, weil sie beleidigt waren, dass sie „nur“ zwei Frauen als Kandidatinnen bekommen haben. Ich bin mir nicht sicher, ob so etwas heute nicht auch noch passieren kann. Untersuchungen zeigen: Es gibt einen sozialen Mechanismus, wenn Frauen in den Beruf kommen, wird das als Zeichen dafür gesehen, dass die soziale Bedeutsamkeit dieses Berufes sinkt. Da kann die Wahl einer Frau auch am eigenen Status kratzen.

Eule: Der schwierige Umgang der evangelischen Kirchen mit ihren Bischöfinnen ist ja eine fassbare Realität, für die man nicht in wissenschaftliche Untersuchungen schauen muss. Denken Sie, wenn Sie ein Mann wären, wäre Ihnen die Möglichkeit eingeräumt worden, Ihr Amt bis zum Eintritt in den Ruhestand auszuüben?

Junkermann: Das ist keine Frage für mich, denn ich bin ja kein Mann. Und über Irreales denke ich nicht nach.

Eule: Sie haben ja gerade das komplexe Erwartungsbild an Frauen in Spitzenämtern angesprochen: Was findet man bei einem Mann akzeptabel, was man bei einer Frau als schwierig empfindet? Spielt das in Ihrem Fall eine Rolle?

Junkermann: Da müssten Sie diejenigen fragen, die darüber entschieden haben, welche Gesichtspunkte am Ende gewichtet wurden. Ich bin mir sicher, dass es ganz unterschiedliche Aspekte gab. Sicher auch die Frage, wie manche mich im Amt wahrgenommen haben oder welche Schwierigkeiten sie mit Seiten von mir hatten, die sie vielleicht bei einem Mann anders gewichtet hätten.

Ich erlebe meine Kirche aber nicht so, als ob sie dominant durch irgendwelche Brillen guckt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es auch daran gelegen haben könnte, dass mir manches nicht so deutlich zurückgemeldet wurde, wie es gemeint war, dass mehr über mich geredet wurde als mit mir. Das macht auch die Distanz, die das Amt schafft.

Eule: Hat es am Ende auch eine Rolle gespielt, dass Sie nicht von hier sind? Die meisten Bischöfe und Kirchenleitenden kennen sich ja, weil man aus der gleichen Region bzw. Landeskirche kommt, und weil es ja immer die gleiche Kohorte ist: Mitte fünfzig, männlich. Da kann man dreißig Jahre zurückspulen und die saßen alle mal am gleichen Küchentisch. Das war ja bei Ihnen anders, sie waren nicht Fleisch vom Fleische dieser Kirche und hatten auch keine eigene Hausmacht.

Junkermann: Es war ja ein Beschluss beim Zusammengehen der beiden Kirchen, dass der erste Bischof nicht aus einer der beiden alten Kirchen kommt, damit die EKM wirklich zusammenwachsen kann. Ich fand das ganz, ganz oft eine mutige und weise Entscheidung der EKM. Das macht ihre Stärke aus. Auch meine Stärke übrigens, denn es ist ja nicht leicht, fast ohne Verbindungen, ohne Netzwerke sich zuzutrauen hier heimisch zu werden. Aber es war auch eine große Freiheit für mich, von so etwas unbelastet zu sein: Niemanden besonders verpflichtet zu sein, sondern allen gleichermaßen.

Eule: Dass Sie eine Frau aus dem Westen sind, hat Ihnen keine Probleme bereitet?

Junkermann: In den letzten Jahren ist ja erst die Frage stärker aufgetaucht hier im Osten: Warum sind Spitzenpositionen alle von Wessis besetzt? Diese Diskussion gibt es auch in den Kirchen. Eine Zeitung hat ja ein Zitat direkt aus dem Landeskirchenrat gebracht: „Nach einer Frau aus dem Westen brauchen wir jetzt einen Mann aus dem Osten!“ Das ist ein O-Ton eines einzelnen Mitglieds des Landeskirchenrats. An der Resonanz auf den Wahlvorschlag mit den drei ostdeutschen Bewerbern hat man schon gesehen, wie sehr dies wahrgenommen wurde.

Eule: Es ist ja die Aufgabe einer Bischöfin aus dem Evangelium heraus ein Wort in die Gesellschaft, in die aktuelle Zeit hinein zu geben. Das haben sie nach meiner Wahrnehmung getan, gerade in der Frage des Rechtsextremismus. Hat das was genützt?

Junkermann: Natürlich hat es genutzt, dabei habe ich ja einen Auftrag aus unserer Verfassung wahrgenommen, in der ganz klar festgehalten ist, dass wir uns gegen alle Menschenfeindlichkeit wehren und dafür eintreten, dass jeder unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Glauben die gleiche Würde hat.

Es hat viele örtliche Initiativen gegen Rechtsradikale gestärkt und ermutigt, dass da eine sich wagt, mit ihrem Gesicht dafür zu stehen und damit auch Unmut zu erregen, bis hin zu massiven Morddrohungen. In meinem persönlichen Leben bedroht zu werden, war für mich grenzwertig, zeigt aber nurmehr, wie nötig das Engagement ist! Viele Menschen in der EKM und auch darüber hinaus, fragen mich: Wer sagt jetzt noch ein klares Wort?

Eule: Verfehlt ein Bischof heute sein Amt, wenn er das nicht macht? Wenn er zwar die Bibel liest, aber dann nicht sagt: „Bis hier hin und nicht weiter“?

Junkermann: Ich kenne unter meinen Amtsbrüdern und -Schwestern niemanden, der das Amt so eingeschränkt wahrnehmen würde. Der öffentliche Auftrag ist Konsens unter uns, und darüber bin auch sehr froh. Wie sich das jeweils konkret ausgestaltet, wie es gelingt in der Sorge für das Ganze auch Profil zu zeigen, das ist immer auch eine Frage der Persönlichkeit, der eigenen Frömmigkeit und auch der Prägung der jeweiligen Kirche.

Eule: Das ist eine hübsche Kirchenfloskel: Die „Sorge für das Ganze“ und dann auch noch „Profil zeigen“. Sehr evangelisch! Es gibt AfD-Wählerinnen auch in der Kirche. Ist die Zeit gekommen, zu entscheiden, was vor geht? Die Einheit der Kirche nach dem Motto: Die sollen bloß nicht austreten! Oder in dieser Situation, in der demokratische Institutionen erodieren, fest zu stehen und zu sagen: Diesmal sind wir nicht dabei!

Junkermann: Das Evangelium geht im Zweifelsfall vor. Dieses Evangelium wird von Menschen in Frage gestellt, die die Menschwürde relativieren. Das haben wir in unserer Geschichte übrigens nicht erst im Nationalsozialismus erlebt. Dass die Rassekonstruktionen von der Kirche übernommen wurden, das hatten wir schon während des Kolonialismus. Da haben wir ein schweres Erbe und auch sehr viel Schuld in unserer Vergangenheit. Deshalb ist es ganz außerordentlich wichtig, hier sehr eindeutig zu sein.

Ja, natürlich werden wir Kirchenmitglieder verlieren, wenn sie einen solchen rassistischen Anspruch haben. Die Bibel ist nicht rassistisch, sie sieht Israel als ersterwähltes Volk, das stellen die Christen der Urgemeinde ja überhaupt nicht in Frage. In diesem ersterwählten Volk erwählt Gott alle Völker. Israel hat auch eine besondere Last zu tragen, diesem Gott zu trauen und nicht der eigenen Macht. Damit haben sie sich ja lange auseinandergesetzt, wenn wir die Propheten lesen! Und damit sind die Völker auch heute noch befasst: Wer will der Größte sein? Der Größte ist der Geringste, und den erwählt Gott. Es ist unsere Aufgabe, diese Lehre in die Welt zu tragen, und nicht eine Natur zu konstruieren, in der die Dominanz des Stärkeren gilt.

Eule: In diesem Jahr erinnern wir an die Entstehung des Eisenacher „Entjudungsinstituts“ vor 80 Jahren. Die Mitarbeiter des Instituts haben nach dem Nationalsozialismus wieder Unterschlupf in der Kirche gefunden. Wie sollten wir heute mit diesen Kontinuitäten umgehen?

Junkermann: Bei der Einweihung des neuen Mahnmals in Eisenach am 6. Mai waren Vertreter von fünf von sieben Landeskirchen anwesend, die für die elf früheren Kirchen stehen, die das Institut gründeten. Die Hälfte aller theologischen Wissenschaftler aus allen Fakultäten Europas war involviert, das beschränkt sich nicht nur auf Thüringen oder Sachsen. Man hat mit Walter Grundmann exemplarisch einen Vertreter identifiziert, aber es muss stärker darum gehen, in wie weit die gesamte Theologie bis heute davon betroffen ist. Eine wichtige Linie ist z.B. das „Theologische Wörterbuch zum Neuen Testament“ von Gerhard Kittel. Er hat in Tübingen gelehrt und seine Schriften sind nach wie vor gerühmt.

Eule: Haben Sie das bemerkt, als Sie in Tübingen studiert haben?

Junkermann: In Tübingen war ich ab dem zweiten Semester wissenschaftliche Hilfskraft bei Klaus Scholder. Damals hat Leonore Siegele-Wenschkewitz die Kittel-Geschichte aufgearbeitet, aber auch die Geschichte des damaligen Stifts-Ephorus. Das hat so eine Abwehr aus der Fakultät gegeben, dass damit letztendlich ihre wissenschaftliche Karriere beendet war. Ihrem Engagement, das Thema „salonfähig“ zu machen, haben wir viel zu verdanken! Damals – noch Ende der 1970er-Jahre – galt das als Nestbeschmutzung.

Eule: Gedenken und Aufstehen gegen Antisemitismus sind wichtig. Das nimmt manchmal aber auch seltsame Formen an: Wo ist die Grenze zwischen Solidarität und Kultureller Aneignung? Wenn Täternachfahren Kippa tragen, frage ich mich, ob unsere Aufklärung damit Schritt halten kann. Die der evangelischen Kirche bestimmt nicht.

Junkermann: Das ist die Aufgabe, die sich uns stellt. Wie können wir die Heilige Schrift israelfreundlich lesen und nicht durch die antijudaistische Brille, die schon mit der Lösung von der Synagoge aufgesetzt wurde? Wie können wir z.B. Paulus als gelehrten Rabbiner verstehen? Im Angesicht der Shoah muss gesagt werden, dass der europäische Antisemitismus auch etwas mit unserer Theologie zu tun hat.

Ich meine damit keine Angleichung, so als ob wir jetzt jüdische Theologie machen könnten. Oder so tun, als ob wir Juden wären, indem wir Kippa tragen. Die Frage ist: Wie können wir die Schrift aus ihrer Einheit heraus verstehen? Da gibt es wirklich tolle theologische Ansätze! Auch breit vermittelt über das „Studium in Israel“ und die „Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext“. Ich habe die den Regionalbischöfinnen und Regionalbischöfen immer zum 1. Advent geschenkt.

Eule: Soll man Naziglocken einschmelzen oder doch weiterläuten lassen?

Junkermann: Das ist die Entscheidung der Gemeinden und die kann ihnen niemand abnehmen.

Eule: Und was ist Ihre Meinung?

Junkermann: Ich bin froh, dass alle Kirchgemeinden meinem Wunsch entsprochen haben, die Glocken schweigen zu lassen bis sie sich entschieden haben. Der Widmungszweck ist eben nicht aufgehoben. Jetzt wo man um die Widmungen weiß, geht das Läuten gar nicht mehr, weil die Glocken auch zum Widmungszweck läuten.

Was ich nicht für möglich halte, ist die betreffenden Sprüche oder Symbole einfach abzuflexen. Es gibt da eine Glocke, wo das – man weiß nicht von wem und auch nicht wann – gemacht wurde. Da wurde das Hitlerbild entfernt, und man sieht die Stelle natürlich weiterhin.

Das Denkmalamt sagt, ihr könnt sie nicht einfach einschmelzen, das sind Zeitdokumente. Also, was macht man damit? Entweder stilllegen und darauf öffentlich hinweisen. Oder man holt sie ganz herunter und macht daraus einen Mahnort. Aber wie gelingt es, keine Wallfahrtstätten für Rechtsextreme zu schaffen? Ich bin froh, dass der Ministerpräsident von Thüringen bekräftigt hat, dass auch der Freistaat Thüringen die Gemeinden mit Mitteln für Neugüsse unterstützen würde.

Eule: Das ist jetzt wieder sehr evangelisch abgewogen. Ich wünschte mir einfach, dass wieder mal etwas eingeschmolzen wird. Denkmalschutz hin oder her: Das öffentliche Zeichen aus diesen Glocken etwas Neues zu machen, das wäre etwas anderes als das hübsch protestantisch mit Gedenktafeln zu lösen.

Junkermann: Ich hätte auch versucht, die Glocken einzuschmelzen.

Eule: Frau Junkermann, Sie waren zehn Jahre lang Bischöfin. War das eine erfolgreiche Zeit für Sie?

Junkermann: Woran wollen Sie das messen?

Eule: Das können Sie sich aussuchen.

Junkermann: Ich sehe mir mal an, woran ich mitwirken konnte. Da wäre das Zusammenwachsen der EKM. Wenn die Erwartung war, es kommt jemand von außen und hilft uns mehr nach vorne als nach hinten zu schauen, dann würde ich sagen: Ja, das ist gelungen.

Ich habe dann schon nach fünf Jahren gesehen, dass es andere Dynamiken gibt, andere Fragestellungen: Dass uns nicht bange wird, sondern wir uns fragen, wie wir mit unseren Mitteln, mit dem, was uns Gott schenkt und geschenkt hat, das Evangelium bezeugen. Ich meine, wir müssen unsere Kirche geschwisterlich teilen, auch mit denen, die nicht Geschwister in Christo sind, aber doch Geschwister in der Schöpfung und von Gott genauso geliebt – ob sie nun getauft sind oder nicht.

Diese Öffnung hin zum Auftrag und die Öffnung hin zur Zuversicht, dazu habe ich einen wichtigen Beitrag eingebracht. Es erfüllt mich auch selbst mit großer Freude und hat auch meinen Glauben sehr gestärkt in der kritischen Situation, in der die Kirche ja wirklich ist, immer wieder zu schauen: Gott hat unsere Geschichte in der Auferstehung geöffnet! Diese Grundbewegung Gottes mit seinen Menschen gilt es aufzunehmen und von dort her Kraft zu erfahren.