Foto: Contemplating woman (Ben White, Unsplash)
Essay Geistgeleitete Theologie

Dem Heiligen begegnen

Wie aus Theologinnen und Theologen Geistliche werden: Manfred Josuttis‘ „Dem Heiligen begegnen“ als Impuls für eine geistgeleitete Theologie der Gegenwart und Zukunft.

Zwei Blitzlichter aus meinem Universitätsalltag: Im Rahmen des Seminars Seelsorge mit Kindern betrachtete ich mit meinen Studierenden die verschiedenen Seelsorgeansätze der Vergangenheit und der Gegenwart und somit natürlich auch Manfred Josuttis‘ Energetische Seelsorge.

Im Fokus standen dabei besonders seine Aussagen über negative Mächte, die von außen auf den Menschen einwirkten und zunächst beseitigt werden müssten, damit der Mensch dann frei und leer sei, die lebensbejahende Wirkkraft Gottes zu empfangen. Nachdem die Theorie ausführlich erklärt worden war, meldete sich eine Studentin und meinte, dass diese Herangehensweise doch ziemlich antiquiert sei, denn sowas wie böse Mächte passten doch nun wirklich nicht in ein aufgeklärtes und neuzeitliches Weltbild und sie selbst könne an so etwas gar nicht glauben.

Im weiteren Verlauf der Stunde absolvierten wir eine praktische Übung: Aufgabe war es, so spontan und authentisch wie möglich vor der Gruppe auf eine Situation zu reagieren, die für die einzelne Studierende auf einem Kärtchen notiert war. Da stand beispielsweise: „Sie sind durch eine Prüfung gefallen.“ Die Seminargruppe wiederum sollte darauf nonverbal reagieren. Ziel war es, die eigene Wahrnehmung zu schärfen, die Körpersprache usw. zu lesen und zu interpretieren und eine nonverbale Reaktion dazu auszudrücken.

Als ein Student von vorne seine Reaktion auf die Notiz „Sie haben Prüfungsangst“ darstellte, sprang besagte Studentin plötzlich auf und öffnete das Fester. In der sich anschließenden Reflexionsrunde antwortete sie auf mein Nachfragen, warum sie denn in dieser Situation das Fenster geöffnet habe: „Ich hatte das Empfinden, dass „etwas“ unbedingt nach draußen musste.“

Die Studentin hatte demnach offenbar eine Atmosphäre der Angst empfunden, die auf ihren Kommilitonen einwirkte und wollte ihn davon befreien, indem sie das Fenster öffnete, damit diese Atmosphäre verschwinden konnte. Auf ihre ganz eigene Weise hatte sie Josuttis‘ Ansatz in Teilen umgesetzt.

Die zweite Situation ereignete sich in einem Repetitorium zur Praktischen Theologie. In der Seminareinheit behandelten wir gerade den Bereich der Spiritualität, als ein Student, der kurz vor dem Examen stand und wenige Wochen später sein Vikariat beginnen wollte, überrascht äußerte: „Frau Schade, jetzt erzählen Sie mir aber nicht, dass ich als Pfarrer öfter als einmal in der Woche beten muss?!“ In meine überraschte Sprachlosigkeit hinein fragte dann eine weitere Studentin: „Frau Schade, wie betet man denn eigentlich?“

Warum diese beiden Geschichten? Für mich offenbaren sich in beiden Situationen grundlegende Anfragen an die Art und Weise, wie wir als deutsche Theologinnen und Theologen Theologie (be)treiben, wie wir unser wissenschaftliches Streben begründen und wie wir Wissenschaftlichkeit definieren.

Diese Anfragen sind äußerst unbequem, dennoch möchte ich sie gerade unter der programmatischen Zielangabe Josuttis‘, „dem Heiligen begegnen“, stellen:

Ist eine Theologie, die Glaube und Wissenschaftlichkeit derart strikt trennt, wie dies meiner Beobachtung nach an unseren Universitäten immer wieder geschieht – Glaube und Spiritualität sind für das Privatleben, wissenschaftliche, echte Theologie für die Uni – noch zeitgemäß? Zeigen nicht gerade die Anfragen der Studierenden, dass beides im universitären Alltag gleichrangig nebeneinander stehen sollte?

In wieweit ist unsere Theologie eigentlich noch eine Theo-Logie? Oder wird zwar von und über Gott geredet, aber das Fundament, auf dem das fußt, ist Gott-entleert? Und besteht dieses Fundament nicht eigentlich darin, dass ich den kenne, von dem ich rede? Dass ich versuche, ihn zu ergründen, ihn zu verstehen, mit ihm Beziehung zu leben?

Sollte nicht eigentlich alle Theologie und alles Streben nach Wissenschaftlichkeit aus der Begegnung mit dem heiligen Gott heraus entstehen, statt dass die Wissenschaft an sich zum eigenen Gott wird?

Dem Heiligen begegnen

Dem Heiligen begegnen! Dieses Zitat entstammt Josuttis‘ poimenischem Werk „Segenskräfte“, welches die Seelsorge als ein Kampfgeschehen und das Leben des einzelnen Menschen als, so Josuttis, „Kampfplatz des gigantischen Ringens zwischen Gott und Satan“, also zwischen negativen und positiven Wirkmächten, versteht.

In und aus der Begegnung mit dem heiligen Gott heraus kommt es dann zu einer geistgewirkten Konversion: einem Prozess der Umwandlung vom alten zu einem neuen Menschen und weiter zur Heiligung. Heiligung wiederum geschehe dort, so Josuttis, wo Menschen von der Macht des Heiligen ergriffen, umgestoßen und zu einem neuen Leben bevollmächtigt würden.

„Das Heilige ist eine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit beeinflusst machtvoll und segensreich menschliches Leben durch harte Krisen hindurch. Der Weg von der alten in die neue Existenz ist ein Transitus durchs Sterben ins Leben, der im Raum zeitlichen Daseins nie beendet sein wird.“

Die Seelsorgerin und der Seelsorge wiederum sei lediglich das ausführende Organ Gottes, und werde nun damit herausgefordert, innerlich von sich selbst ganz entleert, aber vom Geist Gottes erfüllt, auf die Vollmacht und das wirkmächtige Handeln Gottes zu vertrauen. Um ein solches pneumatisches Handeln in der seelsorglichen Interaktion zu ermöglichen, müssten, so Josuttis, aus Theologen Geistliche werden. Er schreibt:

„Damit ist kein Standesprivileg gemeint, sondern die elementare Lebensform christlicher Existenz, die sich dann bildet, wenn Menschen vom Geist Gottes erfaßt und gestaltet werden.“

Und weiter:

„Wer als Theolog/in in der Seelsorge arbeiten will, braucht ein wissenschaftliches Fundament und eine persönliche Lebenswelt, in denen religiöse Erfahrung und existentielle Anfechtung, kirchliche Praxis und spirituelle Übung miteinander vereint sind.“

Dies könne nur durch geistliches Training und Übung in Fasten, Beten, Segnen u.ä. erworben werden. Außerdem gehöre dazu, dass der Leib immer wieder von negativen Kräften gereinigt werde, um dann mit der heilvollen Kraft des Evangeliums gefüllt werden zu können.

Soweit zur Theorie. Wie passt das nun zu den eingangs gewählten Beispielen und den daraus resultierenden Rückfragen? Meines Erachtens legt Josuttis hier weit mehr vor als einen poimenischen Ansatz. Seine Aufforderung: „Aus Theologen müssen Geistliche werden“, ist für mich nicht nur auf die Seelsorge zu beziehen, sondern auf unser Dasein und unser Handeln als Theologinnen und Theologen an sich.

Wenn der Mensch ein Machtfeld ist, dann ist er es nicht nur in der Seelsorge, sondern in allen Bereichen seines Lebens. Dann erlebt er negative Machteinflüsse auch an den Universitäten und auch in allem wissenschaftlichen Streben. Die Frage ist lediglich: Wird es erkannt, wird es wahrgenommen?

Dem Heiligen zu begegnen, ist dann nicht nur eine Aufforderung für die Seelsorge, weil dadurch eventuell Heilung möglich werden kann, sondern ein Anspruch gerade an uns als Theologinnen und Theologen, nämlich nicht nur über Gott zu reden, sondern ihn auch persönlich zu suchen und mit ihm in Beziehung zu treten. Warum ich das für notwendig halte?

Meines Erachtens kann darin der Schlüssel zu einer erneuerten Art und Weise des theologischen Forschens liegen, die zu einer geistgeleiteten Theologie führt.

Eine geistgeleitete Theologie

Was bedeutet geistgeleitete Theologie und wie kann sie aussehen? Ich verstehe darunter folgendes:

Eine geistgeleitete Theologie macht sich von dem Reden und Wirken Gottes abhängig. Sie weiß sich zurückgeworfen auf den EINEN, ohne den Theologie zu treiben sinnlos ist: Gott selbst. Sie ruht daher in dem Wissen, dass sie nur Mittel zum Zweck ist, ein Werkzeug aus der Hand des Schöpfers, mit welchem das Geschöpf, der Theologe, arbeiten darf.

Eine geistgeleitete Theologie erträgt es, dass nicht Menschen für ihre Brillanz und ihre Konzepte im Mittelpunkt stehen. Sie kreuzigt den persönlichen Geltungswunsch und das persönliche Geltungsbedürfnis, weil sie anerkennt: „Ohne dich können wir nichts tun.“

Eine geistgeleitete Theologie führt die Theologin und den Theologen in die Gegenwart des Heiligen, in die persönliche Beziehung zu Christus und ist gleichzeitig deren Basis, denn alles wissenschaftliche Tun und Handeln fußt und wurzelt, ja entsteht aus dieser Zeit der gelebten persönlichen Frömmigkeit und Spiritualität. Hier werden aus Theologen Geistliche.

Eine geistgeleitete Theologie geschieht in der von Josuttis beschriebenen geistgewirkten Konvergenz: vom alten Menschen zum neuen Menschen – vom in Kreuz und Auferstehung geheiligten zum heilig lebenden Menschen.

Eine geistgeleitete Theologie hebt die Anfragen der wissenschaftlichen Forschung an den Glauben und an den Wahrheitsgehalt der biblischen Überlieferungen nicht auf, sondern erträgt sie und bringt sie nicht nur im wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch in der persönlichen Beziehung zu Gott zur Sprache. Geistgeleitete Theologie vereint Wissenschaftlichkeit und Spiritualität.

Eine geistgeleitete Theologie ist eine Theologie der Gegenwart, denn sie fragt danach, welche Konzepte jetzt gerade notwendig sind, um Nöten der Kirche zu begegnen. Aber sie ist auch eine Theologie der Zukunft, denn sie hat ein Ziel vor Augen, dem sie folgt: Reich Gottes zu leben und zu bauen, zu jeder Zeit, in und unter allen Umständen, Gefahren, Anfechtungen und Nöten.

Eine geistgeleitete Theologie ist eine missionale Theologie, denn sie bleibt nicht bei sich selbst stehen, sondern weist über sich selbst hinaus, indem sie auch kirchenferne Menschen in die Gegenwart des Heiligen führen will und diesbezüglich nach Wegen fragt und nach Methoden sucht.

Ein Wegweiser für das Theologie-Treiben

Nicht zuletzt wird eine geistgeleitete Theologie von Theologinnen und Theologen betrieben, die sich bewusst sind, dass Christus selbst durch den Heiligen Geist in ihnen lebt und durch sie wirken und handeln will, zur Ehre Gottes.

Dem Heiligen begegnen, ist in meinen Augen weit mehr als ein Anspruch an einzelne, vielmehr ein Wegweiser für einen anderen Weg des Theologie-Treibens. Zugegeben, das eigene Person-Sein, das private Ich kann aus einer geistgeleiteten Theologie nicht herausgehalten werden. Jede Art wissenschaftlicher Arbeit hat Einfluß auf den Menschen, der sie tut, auf seinen Charakter, sein Denken und Tun. Auch das Leben und Arbeiten in der Gegenwart des Heiligen bleibt für uns als Theologinnen und Theologen nicht ohne Folgen.

Wir werden verändert werden, weil die Begegnung mit dem Heiligen verändert. Auf diesem Weg gelangt man zu dem, was Theologie eigentlich ist: Die Lehre von und über Gott, die sich aus ihm selbst und aus der Begegnung mit ihm heraus entwickelt.


Dieser Text wurde von Miriam Schade als Rede unter dem Titel „Dem Heiligen begegnen. Manfred Josuttis‘ Impulse und Herausforderungen für die aktuelle Praktische Theologie“ auf der Akademischen Gedenkfeier für Manfred Josuttis am 26. April 2019 in Göttingen gehalten.