Die "tätowierte Pastorin" Nadia Bolz-Weber, Foto: Rolf Krüger
Kultur

Der allererste Segen war der Sex

„So etwas sagt mir im Yogakurs keiner.“ Nadia Bolz-Webers Plädoyer für eine sexuelle Reformation „Unverschämt schamlos“ ist vor wenigen Tagen auf Deutsch erschienen.

Vor 14 Jahren fuhr ich mit meinen Mitkonfirmand*innnen ein Wochenende aufs Land. In ein Haus mit Reetdach mitten im Wald. Zwei Nächte, nur wir pubertierenden Jugendlichen, unser Pastor und zwei Diakon*innen. Wir waren unter uns und hatten nur ein Thema: Sex.

Und zwar nicht als privates Thema unter uns Konfirmand*innen, es war das offizielle Thema dieser Wochenendfreizeit. Die Kirche hat mit mir über Sex gesprochen. Ja, wir haben über Sex geredet und ja, es war furchtbar peinlich. Und wir haben über Selbstbestimmung gesprochen. Wir haben geübt Kondome über Holzpenisse zu ziehen und ausgetauscht, wie es sich anfühlt verliebt zu sein.

Die Kirche hat auch mit der jugendlichen Cecilia über Sex gesprochen. Ganz anders als mit mir. Sie hat sie überzeugt einen Eid abzulegen und einen Ring an den Finger zu stecken, zu schwören, dass sie keinen Sex vor der Ehe haben wird. Die Kirche hat Cecilia überzeugt, dass Sex etwas Schmutziges ist. Und nur in der Ehe von Gott gewollt. Und damit hat die Kirche Cecilias Persönlichkeit erheblich manipuliert und ihr freies Leben gestört.

Cecilias Geschichte ist Teil des neuen Buches „Unverschämt schamlos“ der amerikanischen Pastorin Nadia Bolz-Weber, das im September im Brendow Verlag auf Deutsch erschienen ist. Durch die Berichte von Mitgliedern ihrer selbstgegründeten Gemeinde in Denver, dem House for all Sinners and Saints, hat sie die verschiedenen Auswirkungen einer prüden Sexualmoral der Kirche auf die Biographie der Personen gesammelt.

Und natürlich nicht nur das: Wer schon eins der vorherigen Bücher der „tätowierten Pastorin“ gelesen hat, weiß, dass sie laut und deutlich ihre Meinung darlegt, Veränderungen vorschlägt und anmahnt. Sie fordert, wie es schon im Titel des Buches steht: eine sexuelle Reformation.

Ein Buch für die verletzten Kinder der Kirche

Und so schreibt die Autorin zu Beginn ihres Buches, für wen es geschrieben ist. Zusammengefasst: Für Menschen, denen die Meinungen der Kirche über Sexualität, ein freies Ausleben ihrer Persönlichkeit verwehrt hat. Sie zählt zwei Seiten lang auf, in welchen Formen dies geschehen sein kann und so musste ich leider gleich auf den ersten Seiten feststellen: Dieses Buch ist anscheinend nicht für mich geschrieben.

Denn ich kann mich glücklich schätzen in einer Kirche aufgewachsen zu sein, die mir kein eingeengtes Bild von Sexualität vermittelt hat. Jedenfalls nicht so, wie es die vielen Beispiele im Buch erzählen.

Ich gebe zu, dass es mich durch dieses Gefühl, dass ich eigentlich nicht die Zielgruppe des Buches bin, ein paar Seiten gekostet hat, bis ich wieder dabei war. Die manchmal etwas weithergeholten Analogien von Nadia Bolz-Weber trugen ebenfalls dazu bei. Wie auch die Tatsache, dass die deutsche Übersetzung des amerikanischen Englisch manchmal etwas gewöhnungsbedürftig klingt: „Den Scheiß gibt’s umsonst“ oder am Ende eines Satzes ein „…verstehst du?“ klingen im Englischen einfach authentischer.

Doch an diese Sprache kann man sich gewöhnen und die berührenden Lebensgeschichten haben mich schnell wieder in das Buch hineingenommen.

Jedes Kapitel beginnt mit einem Zitat, auf das die Darstellung einer Lebens- und auch immer Leidensgeschichte folgt. Daran anknüpfend entfaltet Nadia Bolz-Weber ihre theologische Argumentation gegen die der prüden Ansichten vieler amerikanischer Theolog*innen. Zwischen den Kapiteln findet sich eine biblische Nacherzählung der Schöpfungsgeschichte sowie Texte oder Bilder, die in den Kapiteln behandelt wurden.

Besonders erschreckend ist dabei zum Beispiel der Test „Wie weiblich bin ich?“, den die Autorin selber als Jugendliche in ihrer Gemeinde ausfüllen musste und ihr attestiert wurde, dass sie mehr männlich wirke und dringend daran arbeiten müsse.

Mutige autobiographische Bekenntnisse

Überhaupt sind die autobiographischen Schilderungen der Pastorin das, was mich am meisten berührt hat. Von der Erfahrung sich nach einem Kuss des Pastorensohns benutzt zu fühlen, über den Schock einen Mann in der Öffentlichkeit masturbieren zu sehen bis zu der bewegenden Erzählung und Begründung der Abtreibung, die sie mit 24 Jahren erlebt hat.

Besonders die daran anschließende Erzählung wie sie auf einer theologischen Tagung diese Abtreibung öffentlich aussprach und die daraus entstehende Gemeinschaft von Frauen, die sich am Abend gegenseitig offenbarten, ist das, was ich so an der Autorin bewundere. Wie sie ihre Gemeinde und die Gemeinschaft darstellt. Wie sie sich allen Menschen annimmt und damit eine unglaublich dichte Emotionalität und Spiritualität der Menschen erweckt oder ans Licht bringt.

Und wer jetzt denkt, dass dieses Buch „nur“ ein biographischer Bericht ist, täuscht sich. Im Laufe der Kapitel nimmt sich die Autorin Kernbegriffe der Theologie vor: Heiligkeit, Sünde, Segen, Dämon, Verlangen u.a. Auf eine wunderbar Art und Weise frei von allen theologischen Eitelkeiten führt sie die Begriffe auf ihren Ursprung zurück. Dabei ist ihr besonders die Heiligkeit wichtig, die nichts mit sexueller Reinheit zu tun habe, sondern: „Heiligkeit existiert in solchen Momenten, in denen wir gelöst sind von unserem Ego und dennoch fest verbunden mit unserem Selbst und etwas anderen.“

Die Geburt eines Babys ist heilig und eben die Verbindung zweier Menschen, die eine Einheit werden – explizit sexuell oder emotional. Mit dieser und anderen (Re-)Interpretationen scheinbarer theologischer Normen, will sie ihre Leser*innen ermutigen Scham zu überwinden.

Scham, die laut Bolz-Weber dann entsteht, wenn Emotionen nicht ausgesprochen und versteckt werden. Weil man meint, falsche Emotionen zu haben. Falsch, weil Kirche und Kultur einem immer erzählt haben, dass diese Emotionen falsch sind. In diesem Zusammenhang führt sie die berühmten männlichen Vertreter der Kirchengeschichte wie Augustin oder den sich selbst kastrierenden Origines an.

Dabei habe ich nie das Gefühl, dass Nadia Bolz-Weber meint, die richtige Meinung gepachtet zu haben oder besser als alle anderen zu sein. Immer wieder schreibt sie, wie sie versuchen will nach dem Motto des doppelten Liebesgebots zu leben – so schwer es auch ist. Ihr Antrieb ist bei allem ihr Glaube.

So ist sie, trotz der strengen Sexualethik, die ihr in ihrer Gemeinde als Jugendliche vermittelt wurde, dankbar, dass sie in einer Gemeinde war und den Glauben kennenlernen durfte. Die Botschaft der Sündenvergebung, das Versprechen geliebt und angenommen zu sein ist das, worauf es ihr ankommt: „So etwas sagt mir im Yogakurs keiner. Und ich brauche es, dass mir das gesagt wird. (Yoga brauche ich auch, aber das ist eine andere Geschichte.)“

Plädoyer für die (sexuelle) Reformation

Und so ist ihr 255 Seiten langes Plädoyer für eine sexuelle Reformation in der Kirche meiner Meinung nach auch ein Plädoyer für eine generelle Reformation der Kirche. Eine (Rück-)Besinnung auf den Kerngedanken der christlichen Gemeinschaft: Eine Gemeinschaft, die nach dem Doppelgebot der Liebe leben will, Anteilnahme zeigt und alle Sünder und Heilige gleichwertig aufnimmt.

Letztendlich ist das Buch damit dann doch auch für mich geschrieben. Und für alle, die nicht in einer kirchlichen Kultur, die derart prüde und streng mit Sexualität umgeht, wie Nadia Bolz-Weber es erlebt hat. Denn auch ich lebe in einer Kirche und Kultur, die auch noch immer in zu engen Grenzen denkt und handelt.

Die zu oft noch nicht verstanden hat, dass wir alle ohne Ausnahme geschaffen sind nach Gottes Ebenbild und darum angenommen und geliebt werden sollen, so wie wir sind: Schamhaft, sündhaft, heilig. Der zu oft der Mut fehlt. Der Mut, den Nadia Bolz-Weber hat. Offen und ehrlich über wirklich alles zu reden und zu schreiben.


„Unverschämt schamlos“ – Nadia Bolz-Weber

Warum verletzt die Kirche mehr Menschen mit dem Thema Sexualität, als ihnen weiterzuhelfen und in der heutigen Zeit Hilfe zu geben? In ihrem neuen Buch wirbt Nadia Bolz-Weber für eine Kirchenkultur, in der man ganz offen über die schönste Nebensache der Welt spricht.

Brendow, Taschenbuch, 16 €, zur Verlagswebsite