Foto: Grégory Legeais (Flickr), CC BY 2.0

Der Bericht – Teil 2: Gymnasium

Im zweiten Teil unserer Artikelreihe zum Untersuchungsbericht über den Missbrauch bei den Domspatzen stehen das Gymnasium, der Chor und das Internat in Regensburg im Fokus.

Am 18. Juli 2017 haben die unabhängigen Ermittler Ulrich Weber und Johannes Baumeister ihren Untersuchungsbericht zu Gewaltausübungen bei den Regensburger Domspatzen vorgelegt (Download des gesamten Berichts). Der Missbrauch bei den Domspatzen wurde seitdem kontrovers diskutiert, häufig offensichtlich ohne weitere Kenntnis der im Bericht zusammengefassten Ergebnisse.

Ich habe in den letzten Tagen den Untersuchungsbericht gelesen. In einem ersten Artikel habe ich mich mit dem Missbrauch an der Vorschule der Domspatzen auseinandergesetzt. In diesem Artikel geht es nun um den Missbrauch von Schülern des Domgymnasiums in Regensburg.

Vorbemerkungen

Wie auch an der Vorschule lassen sich drei Bereiche trennen, in denen die Schüler ihren Alltag verleben: Schule, Chor und musikalische Ausbildung und Internat. In allen Bereichen kam es zu Gewaltausübungen gegenüber den Schülern. Es wurde festgestellt, dass es im Internat, gefolgt von Chor & musikalischer Ausbildung, deutlich häufiger zu Gewaltausübungen kam als in der Schule.

An der Schule wurden die Jungen nur selten mit Gewalt konfrontiert, umso weniger, desto später im Untersuchungszeitraum. Hier machten sich vor allem Fortschritte in der Pädagogik und Lehrerausbildung und ganz allgemein eine höhere Fluktuation in der Lehrerschaft positiv bemerkbar.

Anders als im Falle der Vorschule wurden zwei der sexuellen Gewalt Beschuldigte, beide Direktoren des Internats, strafrechtlich verfolgt und 1959 bzw. 1969 zu Haftstrafen verurteilt; teils für Vorfälle, die in keinem äußeren Zusammenhang mit ihrer Tätigkeit für die Domspatzen standen.

Aus diesen öffentlich bekannten Fällen ergibt sich, dass alle Verantwortungsträger um die Möglichkeit des sexuellen Missbrauchs bei den Domspatzen wussten und daher für Warnzeichen und insbesondere Meldungen der Schüler hätten sensibilisiert sein müssen.

Wie auch im ersten Teil der Artikelreihe sollen in diesem Artikel nicht die Täter oder Stimmen Dritter im Fokus stehen, sondern die Berichte der Betroffenen.

(Im Verlauf des Artikels zitiere ich aus Schilderungen der Betroffenen. Diese Schilderungen sind durch einen Klick zuschaltbar. Sie enthalten teils drastische Darstellungen psychischer und körperlicher Gewalt.)

Weniger Gewalt?

Die Betroffenen berichten fast einhellig davon, dass mit dem Wechsel auf das Gymnasium die allgegenwärtige Gewaltherrschaft ein Ende nahm. Jene, die nicht vorher schon Chor und Vorschule verlassen hatten, berichten von ihrer Erleichterung ob der kindgerechteren und im Regelfall gewaltärmeren Umstände in Regensburg.

+ Betroffenenberichte: Vergleich Vorschule und Gymnasium

Die unabhängigen Ermittler stellen fest, dass es in Regensburg signifikant seltener und zu weniger schweren Gewaltausübungen gegenüber den Schülern gekommen ist. Ältere Schüler wurden in der Schule nicht und sonst nur selten Opfer körperlicher Gewalt. Auch nahm die Gewaltausübung in den 1980er-Jahren nochmals ab, nachdem auch in Bayern ein Züchtigungsverbot eingeführt wurde.

Ein totalitäres Gewaltregime, wie es dem Bericht nach in der Vorschule unter Leitung von Direktor M. bestand, gab es am Gymnasium, im Chor und im Internat in Regensburg nicht.

Ein besonderes Augenmerk muss auf den sexuellen Missbrauch durch Erzieher und Lehrer gelegt werden. Schon deshalb, weil sich Beschuldigte über Jahre „die Klinke in die Hand gaben“. Offensichtlich wurden von Seiten der Leitung und des Bistums trotz bereits bekannter Vorfälle keine zusätzlichen Sicherheitsvorkehrungen getroffen.

Opfer und Täter

Anders als in ihrer Schilderung der Gewaltausübungen an der Vorschule, die sich vor allem am Alltag der Schüler und damit an den nie enden wollenden Anlässen für Gewalt orientierte, konzentrieren sich die unabhängigen Ermittler bei der Darstellung der Gewalt am Gymnasium auf einzelne Täter und hier im Besonderen auf jene Beschuldigten.

In wie weit die für Knabenchöre übliche hierarchische Struktur Gewaltausübungen begünstigt hat, wird wohl erst eine weitere Untersuchung zeigen können, die auch die zahlreichen, von denen Betroffene berichteten, Fälle von Gewaltausübungen unter den Schülern umfasst. Der Untersuchungsbericht bezieht sich auf Gewaltausübung gegenüber Schutzbefohlenen und nimmt daher nur am Rande Bezug auf diese Problematik. In diese weiterführende Untersuchung werden sicherlich auch die Auswirkungen der gewalttätigen Erziehung an der Vorschule für die weitere Schülerbiographie einfließen müssen.

Unisono berichten die Betroffenen vom sehr hohen Druck, der ihnen durch die musikalische Leitung zugemutet wurde. Die Aufmerksamkeit der Domkapellmeister war ganz der Qualität des Chores gewidmet. Als Kinder und Jugendliche fühlten sich die Betroffenen nicht respektiert und in ihren Bedürfnissen nicht wahrgenommen.

+ Betroffenenberichte: Wahrnehmung Gymnasialzeit

Wie schon an der Vorschule werden die soziale Kälte, der Mangel an Nähe und Zuwendung und die hohe psychische Belastung durch schulischen und musikalischen Leistungsdruck von den Betroffenen als ursächlich für ihre Leiderfahrungen benannt.

+ Betroffenenberichte: Psychische Gewalt

Sexueller Missbrauch

Unter diesen Umständen hatten es Erzieher und Lehrer leicht, sich unter dem Vorwand der Zuneigung Möglichkeiten für sexuellen Missbrauch zu schaffen. Besonders sticht hier der Fall des Präfekten J. heraus, der in seiner vergleichsweise kurzen Zeit am Gymnasium von 1970 bis 1972 einen „Jüngerkreis“, die sogenannte „J.-Clique“ um sich versammelte. Ihm allein werden im Bericht 33 hochplausible Fälle sexueller Gewalt zur Last gelegt.

Er lud die Schüler in seine Räume ein, bot ihnen Alkohol an und schaute mit ihnen Pornos. Bei solchen „Partys“ und durch persönliche Zuwendung näherte er sich den Schülern. Dass seine Opfer unaufgeklärt und auf der Suche nach Nähe und Zuneigung waren, bereitete J. den Boden für seinen Missbrauch. Üblicherweise musste er keine Gewalt anwenden und die Loyalität der Jungen schützte sein Handeln.

 

Am Fall des Präfekten J. werden die Auswirkungen der schamhaften Erziehung bei den Domspatzen deutlich. Mehrere Betroffene berichten von einer sexualisierten Stimmung unter den Schülern, in der es regelmäßig zu sexuellen Kontakten unter den Schülern kam. J. sei einer der wenigen Erwachsenen gewesen, der mit den Schülern überhaupt über Sexualität sprach.

+ Betroffenenberichte: Präfekt J.

Bei den drei weiteren im Bericht gesondert aufgeführten Beschuldigten sexueller Gewalt handelt es sich um Direktoren des Internats, darunter die beiden oben erwähnten Beschuldigten, die strafrechtlich verfolgt wurden. Alle drei waren, wie die Haupttäter an der Vorschule, als Soldaten im 2. Weltkrieg und in Kriegsgefangenschaft. Es ist bei ihnen von einer erheblichen Traumatisierung in der eigenen Kindheit und durch das Kriegserleben auszugehen.

Ihnen werden unterschiedlich viele und schwere Fälle von sexueller Gewalt zugerechnet. Allen ist gemein, dass sie unter Ausnutzung ihrer Privilegien als Leiter des Internats und offenbar ohne Kontrolle oder Einschreiten der Chorleitung handeln konnten.

Körperliche Gewalt

Dass Ausmaß sexueller Gewalt, der die Schüler über Jahre ausgeliefert waren, ohne dass Verantwortliche angezeigt, angeklagt und verurteilt wurden, ist erschreckend. Darüber hinaus kam es auch in Regensburg zu physischer Gewalt, die in ihrem Ausmaß verboten und strafbar war.

Anders als bei der Vorschule ist hier das Bild, das sich durch die Schilderungen der Betroffenen ergibt, jedoch weiter ausdifferenziert. Manche Schüler berichten, es sei zu keinen Gewaltanwendungen gekommen, andere schildern teils heftige Gewaltausübungen.

Der Bericht orientiert sich hier wieder nach Täterbiographien. Anders als beim Gewaltregime an der Vorschule waren auch erheblich weniger Beschuldigte involviert oder in die Vertuschung der Taten verstrickt. Trotzdem gab es Beschuldigte, die zum Teil über Jahre ihre Tätigkeit bei den Domspatzen ungestört fortsetzen konnten, obwohl davon ausgegangen werden muss, dass ihr gefährliches und strafbares Verhalten ihren Vorgesetzten und anderen Verantwortungsträgern in Schule, Chor und Bistum bekannt gewesen ist.

Die unabhängigen Ermittler berichten von 14 Hauptbeschuldigten physischer Gewalt, von denen die meisten zwischen 1960 und 1975 bei den Domspatzen beschäftigt waren. Drei Hauptbeschuldigte physischer Gewalt waren noch nach 1980 tätig: Präfekt K. bis 2012, Musiklehrer N. bis 1989 und Domkapellmeister R. bis 1994. R. ist im Bericht ein eigenes Kapitel gewidmet, ich komme später dazu.

Exemplarisch sollen hier die Beschuldigtenberichte zu Präfekt K. stehen. Im Besonderen als Nachweis dafür, dass es sich bei der angewandten Gewalt nicht um zeittypische Erziehung oder in irgendeiner Form lässliche Formen von Gewalt handelte.

Trotzdem äußern sich die Betroffenen durchaus differenziert, was nicht nur die unabhängigen Ermittler zu der Einschätzung geführt hat, ihre Berichte als hochplausibel einzuschätzen. Sie zeigen uns einen Präfekten, der aus mangelnder charakterlicher und fachlicher Eignung Gewalt anwendet.

+ Betroffenenberichte: Präfekt K.

Domkapellmeister R.

In einem eigenen Kapitel widmen sich die Ermittler den zahlreichen Aussagen von Betroffenen und Zeugen zum Handeln des Domkapellmeisters R.. Dies ergibt sich durch seine lange Wirkungszeit als Domkapellmeister von 1964 bis 1994. In seine Amtszeit fallen zahlreiche drastische Fälle körperlicher und sexueller Gewaltausübung. R. brachte keinen einzigen Fall zur Anzeige. Gegenüber den Ermittlern gab er an, nicht oder nur gerüchteweise von sexuellen Übergriffen gewusst zu haben.

Die Ermittler zeichneten aber auch viele Fälle persönlicher Gewaltausübung R.s auf, die ihnen von den Betroffenen geschildert wurden. Es wird deutlich, dass auch R.s Gewaltausübungen zur jeweiligen Tatzeit häufig strafbar waren und nicht im Rahmen zeittypischer Erziehungsmethoden lagen.

Nach ersten Enthüllungen 2010 durch den Spiegel beharrte R. darauf, Gewalt nur in geringem Ausmaß ausgeübt zu haben und sich nach Einführung des Züchtigungsverbots (s.o.) erleichtert und striktissime an die neuen Regeln gehalten zu haben.

Den Berichten der Betroffenen zufolge stimmt beides nicht.

R. ist den Betroffenen als Choleriker und vom Ehrgeiz angetriebener Musikverrückter in Erinnerung, der dem Erfolg des Chores alles unterordnete. Gewaltausbrüche und Wuttiraden geschahen häufig. Nicht unterschätzt werden darf die psychische Gewalt, die R. gegenüber den Schülern ausübte.

+ Betroffenenberichte: Domkapellmeister R.

Vorläufige Einordnung

Die Abnahme körperlicher Gewaltanwendungen im Vergleich zur Vorschule kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch am Gymnasium, im Chor, während der musikalischen Ausbildung und im Internat der Domspatzen in Regensburg unverhältnismäßige, zum Tatzeitpunkt strafbare körperliche Gewalt gegen Teile der Schülerschaft ausgeübt wurde.

Dass diese von den Betroffenen häufig als weniger traumatisierend erinnert wird, kann die Verantwortlichen nicht entlasten. Wenn sich regelmäßig ereignende körperliche, soziale und psychische Gewalt von den Betroffenen als Fortschritt gegenüber ihrer Situation an der Vorschule erinnert wird, dann ist damit vor allem eine Aussage über das von Direktor M. und Komplizen errichtete totalitäre Gewaltsystem an der Vorschule der Domspatzen getroffen.

Wegen Regelübertretungen und Schlechtleistungen wurden die Gymnasiasten seltener Opfer von Prügel und drakonischer sozialer Gewalt. Welche Rollen die Gewalt unter den Schülern, eine entgleiste Hierarchie und die pädogische und musikalische Ausrichtung des Chores gespielt haben, werden wohl weitere Studien zu erhellen versuchen.

Die Rolle mehrerer Beschuldigter im Gesamtsystem Domspatzen und ihre Verantwortung für die Nicht-Aufklärung und Vertuschung der Taten, den Schutz von Tätern und Institution, und die Verhöhnung der Opfer ist Thema des dritten Beitrags der Artikelreihe. An dieser Stelle genügt der Hinweis, dass ausnahmslos alle jener Beschuldigten auch selbst strafbare Gewalt gegen Schüler ausgeübt haben.

Bis auf die beiden oben erwähnten ehemaligen Internats-Direktoren hat sich kein weiterer Beschuldigter vor Gericht für seine Taten verantworten müssen. Die Gewalttaten, auch der vielfache sexuelle Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen, sind verjährt, zahlreiche Beschuldigte verstorben.