Der Kreuzzügler des Herrn
Gestern ist Billy Graham verstorben. Die Evangelikalen haben heute mehr als je von ihm zu lernen. Zum Tode von „Amerikas Pastor“
Billy Graham wird fehlen, ja, seine Stimme fehlt jenseits des Atlantik schon seit geraumer Zeit. Sein Tod ist Anlass genug, auf das evangelikale Amerika zu schauen, das seine Karriere hervor brachte und das er prägte wie kein Zweiter.
Man muss kein Fan von Bekehrungsveranstaltungen im Stile Grahams „Kreuzzüge“ (crusade) sein, um zu respektieren, welchen Platz er im Leben vieler Christen eingenommen hat. Hundertausende Menschen haben durch seine Fernsehsendungen, Livepredigten und Radioprogramme neu oder wieder zum Glauben gefunden.
Liberale kritisierten seine Verengung auf die persönliche Bekehrung und Heilsgewissheit, die politische und gesellschaftliche Fragen außer Acht ließ. „Bekehre dich und nimm den Herrn Jesus als deinen Retter an“, darin verwirklichte sich für Graham das Reich Gottes. Immer ging es darum „nach vorne zu kommen“.
Mehr Billy Graham wagen
Gerade für konservative Evangelikale stellen sich heute Fragen, die im Blick auf Leben und Wirken Billy Grahams beantwortet werden können. Ja, meint man es gut mit den Evangelikalen, muss man ihnen geradezu wünschen, mehr Billy Graham zu wagen.
Das betrifft in den USA vor allem die Frage des grassierenden Rassismus und die mangelnde Haltung prominenter Evangelikalenprediger zur Alt-Right-Bewegung. Nicht zuletzt Grahams Sohn Franklin legitimiert immer wieder die abstrusen Äußerungen Donald Trumps.
Das evangelikal-konservative Establishment hat sich in sklavenhafter Weise an Trump gebunden, so wichtig war ihnen die Umsetzung einer „konservativen“ Agenda. Zum Teil hat Trump auch geliefert, was er den Evangelikalen versprochen hat, z.B. einen konservativen Richter in den obersten Gerichtshof zu senden.
Das deckt allerdings nicht die gravierenden Widersprüche zwischen evangelikaler Lehre und dem Gebaren des Präsidenten zu. Einen mehrfachen Ehebrecher, Egomanen und Rassisten zum Bannerträger der eigenen Überzeugungen zu machen, das wäre Billy Graham nicht in den Sinn gekommen. Billy Graham war kein Kulturkämpfer, wie sie seit fast zwei Jahrzehnten die evangelikale Szene beherrschen, sondern ein Kreuzzügler im Namen des Herrn.
Prominente Evangelikale segnen Rassismus ab
Schon Anfang der 1950er-Jahre bestand Graham darauf, dass Schwarze und Weiße auf seinen Veranstaltungen nicht voneinander getrennt werden. Später unterstützte er die Bürgerrechtsbewegung, auch wenn er es im Alter als ein Versäumnis wahrnahm, nicht mit Martin Luther King marschiert zu sein, so lud er ihn doch auf seine medial hervorragend platzierten Veranstaltungen ein. Vor Gott gab es bei ihm kein Schwarz und kein Weiß, alle Menschen stehen gemeinsam unter dem Kreuz.
Diese klare Haltung nahm Graham entgegen der Überzeugung der Mehrheit seines Publikums ein. Heute prostituieren sich evangelikale Prediger auf dem Altar der Macht zugunsten eines Präsidenten, der in Wort und Tat christliche Werte mit Füßen tritt.
Noch schlimmer: Konservative Evangelikale machen sich mit Revisionisten gemein, die die Geschichte des Südens der USA gerne umschreiben wollen, als sei es beim der Abspaltung des Südens nicht vor allem um die Sklavenfrage gegangen. Sie treten für Kriegsverbrecher und Verräter ein. Sie legitimieren mit ihren Gebeten rassistische Übergriffe und nicht zuletzt die allgegenwärtige Waffengewalt.
Sicher, einige ihrer Überzeugungen – z.B. zur Sexualmoral – wurden auch von Billy Graham geteilt. Er jedoch entsagte sich recht großzügig öffentlicher politischer Stellungnahmen, weil er sich gewahr war, sein Publikum damit zu spalten. Einzig die Kernbotschaft „Bekehre dich zu Jesus“ sollte seine Verkündigung bestimmen. Zumindest an dieser Zurückhaltung dürfte sich die aktuelle Generation der Evangelikalenführer (oder zumindest sein eigener Sohn!) ein Beispiel nehmen.
Der Starprediger im Dienst der Gemeinden
Natürlich hat Grahams wirken ihm selbst komfortablen Wohlstand beschert, auch seine Organisation ist über die Jahrzehnte hinweg gewachsen. Die Nutzung moderner Medien hat nicht nur Millionen mit seiner Predigt in Berührung gebracht, sondern auch seine eigene Bedeutung gemehrt.
Unmäßig bereichert aber hat sich Graham nicht, seine Organisation legte sich frühzeitig einen strikten Ethikkodex auf, der u.a. vorsah, die Finanzen jederzeit einsehbar zu halten. Von welcher Megachurch und welchem Missionswerk der zahllosen evangelikalen Glücksritter-Prediger lässt sich Vergleichbares sagen?
Vielleicht stand der charismatische Redner Graham nicht unter dem gleichen Zwang wie seine minderbegabten Epigonen, sich selbst darzustellen und den eigenen Reichtum und Ruhm zu mehren?
Den Dienst unter den Kreuzen, zu denen er das Publikum seiner „Kreuzzüge“ rief, versahen Gemeindeglieder aus den jeweiligen Gastorten. So wurde an die Entscheidung zur Bekehrung gleich die Begegnung mit Christen vor Ort geknüpft. Für dieses und anderes Zusammenwirken wählte Graham nicht ausschließlich Gemeinden aus, die auf seiner Linie waren.
In den späteren Jahren seines Wirkens wurde er für seine Offenheit gegenüber den Mainline-Kirchen und vor allem dem Katholizismus von den eigenen Leuten – konservativen Evangelikalen aus dem Süden – harrsch kritisiert. Die Evangelikalen heute können sich von einer solchen Ökumene der Evangelisation eine Scheibe abschneiden.
Es geht nämlich mitnichten darum, sich selbst aus dem kleiner werdenden Kuchen der Kirchenpeople ein einträgliches Stück herauszuschnitzen und dieses eifersüchtig gegen andere zu verteidigen, und sei es nur um den eigenen gehobenen Lebenswandel zu finanzieren.
Solche Bunkermentalität beantworten viele junge Evangelikale dies- und jenseits des Atlantiks inzwischen mit einem Exodus biblisches Ausmaßes. Sie haben ein Gespür dafür, dass es statt um die Gute Nachricht allzu häufig um Machtinteressen, politische Programme und den schnöden Mammon geht.
Relativ skandalfrei
Auch Grahams Wirken ist nicht frei von Fehltritten und Skandalen. Ein Beispiel sind seine antisemitischen Bemerkungen in einem auf Tonband aufgezeichneten Gespräch mit dem damaligen Präsidenten Nixon. Als diese Jahrzehnte später bekannt wurden, beeilte er sich, sich zu entschuldigen.
Überhaupt hat ihn die Nähe zur Macht – er galt es Hausgeistlicher gleich mehrerer Präsidenten – wohl nicht korrumpiert, aber doch in manchem Fall zum Schweigen gebracht. War es wirklich nötig, an Nixon auch nach Watergate treulich festzuhalten? Musste er den Abend vor Beginn des 2. Golfkrieges wirklich mit George H. W. Bush im Weißen Haus verbringen?
Immerhin ließe sich aus seiner verschwiegenen politischen „Hausgeistlichkeit“ lernen, dass diese Beratungstätigkeit sich nicht an Parteilinien orientieren muss. Seine Gebete galten Republikanern wie Demokraten im Amt, im Tausch liehen ihm von Dwight D. Eisenhower an bis zu Barack Obama die Präsidenten (zumindest gelegentlich) ihr Ohr.
Nach Ende dieses langen und erfüllten Lebens bleibt aber, dass von Billy Graham keine einzige der skandalträchtigen Verfehlungen bekannt ist, für die evangelikale Stars, zumal in den USA, heute fast schon synonym stehen. Kein Sexskandal, kein ruchbar gewordener Ehebruch, kein Missbrauchsvorwurf, keine Steuerhinterziehung. All das wohnt dem konservativen Evangelikalismus in den USA inne wie ein sich parasitär ernährender Bandwurm.
Das Editorial Board des Charlotte Observer hielt in seinem Nachruf zurecht fest, dass Graham getreu seines eigenen Anspruchs ein christliches Leben geführt habe. In Zeiten, in denen Anspruch und Wirklichkeit, medial vermitteltes Image und beschämende Realität so häufig auseinanderfallen, dient das Leben und Wirken Billy Grahams seinen vielen Nachfolgern als gutes Beispiel.
Weiterlesen:
- Der umfangreiche Nachruf von Laurie Goodstein in der New York Times (englisch): Pastor Filled Stadiums and Counseled Presidents
- Nachruf des Charlotte Observer (englisch): A man who preached – and lived – a Christian life