Bild: Combined arms in action (Wikipedia), Public Domain

Der Panzer und der Brief: Pazifismus und Politik bei Paul Ricœur

Der 2. Weltkrieg machte den Pazifisten Paul Ricœur zu einem friedfertigen Philosophen. Was wir von ihm für die gegenwärtigen Debatten lernen können.

„One has to be careful not to project onto the past what is known to have occurred later, as if, in those days, people had before them two alternatives, with full knowledge of their consequences. We have to admit that certain choices were made in a kind of fog.“ (Paul Ricœur: „Critique and Conviction: Conversations with François Azouvi and Marc de Launay„)

Dietrich Bonhoeffer war der berühmteste Pazifist, den Hitler zu einem Gesinnungswandel anstiftete. Bonhoeffer, das ist bekannt, zog den Schluss, dass der Pazifismus fast immer der richtige Weg ist und doch in einigen wenigen Situationen eine Flucht aus der Verantwortung für schwere Entscheidungen bedeuten kann.

Paul Ricœur machte eine ähnliche Entwicklung durch. Lang bevor er als behutsamer und friedfertiger Philosoph Berühmtheit erlangte, war Ricœur ein militanter Pazifist und Marxist, der in französischen Sozialistenmagazinen revolutionäre Abhandlungen verfasste.

In den 1930er-Jahren verlangten er und sein Umfeld, dass Frankreich abrüsten müsse und an keinerlei Kriegshandlungen teilnehmen dürfe. Wir sollten aus dem Ersten Weltkrieg gelernt haben, sagten sie: der Widerstreit der Nationen ist nicht mehr als der Streit der gelangweilten Bourgeoisie, die „ihre eigene Arbeiterklasse“ ausnutzt.

Dann marschierte Hitler-Deutschland in Frankreich ein, und Frankreich fiel fast ohne Widerstand. Ricœur sah sich als mitverantwortlich:

„I still keep the memory of the unbearable images of the flight of the armies in the North. … I could not help but say to myself, “So here is what I have brought about through political mistakes, through passivity, for not having understood that, in the face of Hitlerism, France should not have been disarmed.”“

Trotz „starker pazifistischer Neigungen“ sah sich Ricœur zum Militärdienst verpflichtet. Sein Biograph hält fest, dass „er ein guter Soldat war, der sogar eine Brücke mit einem deutschen Panzer darauf in die Luft sprengte. Ihm wurde das Croix de Guerre mit drei Palmzweigen verliehen, aber er hat es nie getragen und nie darüber gesprochen.“

Seine Laufbahn als Soldat hielt nicht lange an. Sein Regiment geriet 1940 in Kriegsgefangenschaft. Am Ende des Krieges wurde er aus dem Kriegsgefangenenlager befreit und kehrte zu seiner Frau zurück, er begegnete seiner fünf Jahre alten Tochter das erste Mal.

Im Alter von 27 Jahren machte Ricœur die Erfahrung, dass eine intelligente, wohlmeinende, rechtschaffende Person sich trotzdem vollständig und katastrophal irren kann. Eine Lehre, die er für den Rest seines Lebens mit sich trug. Es sollte über 50 Jahre dauern, bis er wieder ausführlich über Politik schreiben würde, ein ganz anderes Buch, als er es vor dem Krieg geschrieben hätte.

Ich denke, die Lehren, die Ricœur aus seinen Erlebnissen zog, beeinflussten seine ganze Haltung und seinen Schreibstil. Die meisten Philosophen des 20. Jahrhunderts sind für ihre saloppe Absage an Denker bekannt, die lange vor ihnen wirkten. Alles von Platon bis Descartes wird über einen Kamm geschert, als „Metaphysik“ oder „Logozentrismus“ verunglimpft und links liegen gelassen.

Im Zentrum steht allein die Entwicklung einer eigenen, einzigartigen Perspektive. Ricœurs Haltung steht dem diametral entgegen. In allen seinen Schriften befragt er zuerst Philosophen früherer Zeiten, und begrenzt seine Folgerungen auf das Ausmaß seiner Untersuchungen.

Ich denke, der Fall Frankreichs hat Ricœur diese Lehren erteilt:

Über die letzten Monate meiner Ricœur-Lektüre wurde ich durch diese drei Lehren herausgefordert. Ich habe mich für das Theologiestudium entschieden, weil ich die Wahrheit verkünden und gegen schädliche und zerstörerische Ideen kämpfen will. Aber ich werde schnell ungeduldig mit Menschen, von denen ich denke, dass sie ganz klar falsch liegen, und dann schreibe ich in einer Weise, die weitere Spaltungen und Konflikte hervor ruft.

Ich nehme einen Standpunkt zu einem kontroversen Thema ein, ohne das ganze Bild zu kennen, oder höre nicht mehr hin, wenn ich denke, die Antwort gefunden zu haben. Ich will mich daran erinnern, meine theologischen Überzeugungen immer als nur provisorisch zu sehen, weil da noch so viel ist, das ich nicht weiß.

Ich bin zu der Überzeugung gelangt, dass Zuhören überzeugender ist als Sprechen. Die Leute werden uns nicht zuhören, bis sie glauben können, dass wir sie auf einer tieferen Ebene verstanden haben, ihre Bedenken einen Nachhall finden und wir ihnen das Beste wünschen. Ihnen zu erklären, warum sie falsch liegen, wird außer dem nichts weiter bewirken.

Heute ist die politische Landschaft im Westen hässlich und zersplittert. Sowohl im Vereinigten Königreich als auch in den Vereinigten Staaten hören sich politische Gegner nicht mehr zu und sind allein damit beschäftigt, Karikaturen zu zerstören, die sie sich voneinander machen. Das gegenseitige Verspotten wird niemanden überzeugen und verschärft nur die Trennung.

Große Gegensätze werden nur durch immense Geduld, Angreifbarkeit und anhaltende Debatten gelöst werden, in denen sich alle Beteiligten als gemeinsam nach der Wahrheit Suchende wahrnehmen.