„Die Betroffenen nicht allein lassen“

Mit einem Gastbeitrag in der FAZ haben Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie die Debatte um den assistierten Suizid in der Evangelischen Kirche neu belebt. Warum ist die Diskussion gerade jetzt wichtig?

Eule: Die Frage der Selbstbestimmung am Lebensende ist ja keine abstrakte Frage, sondern stellt sich den Patient:innen, Angehörigen und Mitarbeiter:innen der Diakonie in der Praxis. Worin besteht die seelsorgliche Herausforderung, wenn ein:e Patient:in den Wunsch nach einem assistierten Suizid formuliert?

Karle: Nehmen wir einmal an, ein Bewohner eines Pflegeheims hat diesen Wunsch, dann ist das erst einmal eine große Herausforderung für die Angehörigen, die Seelsorgenden, die Ärzt:innen und Pflegenden. Gemeinsam wird dann eruiert, wie der Mensch zu diesem Wunsch kommt. Äußert er den Wunsch aufgrund einer großen Erschöpfung bzw. eines großen Leidens oder spielen andere Faktoren eine Rolle? Ist er nicht ausreichend informiert über die Möglichkeiten der palliativen Versorgung? Vor allem: Ist es wirklich seine Entscheidung?

Um die Selbstbestimmung in einer solch prekären Entscheidung so gut es geht sicherzustellen, bedarf es eines Schutzkonzeptes. Äußert jemand den Wunsch nach Suizidhilfe, weil er oder sie sich unter Druck gesetzt fühlt? Das ist in jedem Einzelfall sorgfältig zu prüfen. Es darf nicht sein, dass Menschen das Gefühl bekommen, sie sollten ihrem Leben besser ein Ende setzen, um anderen Menschen nicht zur Last zu fallen.

Eule: Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass der Staat es dem Einzelnen nicht unmöglich machen darf, beim Suizid Hilfe in Anspruch zu nehmen. Deshalb hat das Gericht das Verbot der „geschäftsmäßigen“ Suizidbeihilfe für nichtig erklärt. In ihrem FAZ-Gastbeitrag machen Sie den Vorschlag, die Diakonie solle beim assistierten Suizid beraten und begleiten.

Karle: Zunächst einmal möchte ich klarstellen, dass das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 dem Gesetzgeber nahelegt, ein Schutzkonzept zu entwickeln, um einen Missbrauch des assistierten Suizids im Sinn des Anything goes zu verhindern. Da ist bislang nichts passiert. Wir haben deshalb derzeit eine unsichere Lage. Es gab bislang auch keine Diskussion darüber, wie man ein sinnvolles Verfahren entwickeln könnte.

In dieser Situation hat Ulrich Lilie als Diakonie-Präsident gesagt, dass wir als Kirche und Diakonie in der Pflicht sind, uns darüber Gedanken zu machen, wie wir mit der veränderten Lage konkret umgehen können. Die Diakonie kann dabei besonders hohe Ansprüche formulieren – mit einer ausführlichen medizinischen Beratung mit Hinweisen auf die palliative Versorgung und andere Möglichkeiten wie Therapieabbruch oder terminale Sedierung und mit einer starken Seelsorge.

Eule: Warum ist die Seelsorge neben der medizinischen Beratung so wichtig?

Karle: Die Seelsorge nimmt nicht nur den Suizidwilligen, sondern auch die Angehörigen in den Blick. Bei Menschen, die einen assistierten Suizid wünschen, ist der Kontakt mit den Angehörigen oft schwer geworden. Weil die Kinder oder auch die Ehefrau oder der Ehemann bzw. Lebenspartner sich schwer mit dieser Entscheidung tun und gleichzeitig das Gefühl haben, sie müssten sie akzeptieren. Das kann dazu führen, dass sich eine Sprachlosigkeit ausbreitet, dass Ohnmachts- und sogar Wutgefühle sich entwickeln.

Die Kompetenz der Seelsorger:innen besteht dann nicht zuletzt darin, den Suizidwilligen aus der Isolation herauszuführen und zu einer Vermittlung zwischen Suizidwilligen und Angehörigen beizutragen. Das führt manchmal dazu, dass die Entscheidung noch einmal revidiert wird.

Der Streit um den assistierten Suizid

In der Evangelischen Kirche und Diakonie wird heftig darüber gestritten, wie in Zukunft mit der Möglichkeit des assistierten Suizids umgegangen werden soll. Isolde Karle hat diese Debatte mit einem Beitrag in der FAZ angestoßen, den sie zusammen mit Reiner Anselm und Ulrich Lilie, dem Präsidenten der Diakonie Deutschland, verfasst hat. Mehr dazu in den „Links am Tag des Herrn“ vom 17. Januar. Den kompletten Artikel von Isolde Karle, Reiner Anselm und Ulrich Lilie hat das Magazin zeitzeichen zur Verfügung gestellt.

Eule: Das Verfassungsgericht hat die Selbstbestimmung am Lebensende ganz stark gemacht. Es wird intensiv darüber gestritten, ob das aus der Perspektive protestantischer Theologie angemessen ist.

Karle: Darüber, was Selbstbestimmung ist und ob und inwiefern es sie überhaupt geben kann, wird im Moment eine erhitzte Diskussion geführt. Kurz soviel: Die Neuzeit hat das sich selbst setzende Ich in den Mittelpunkt gestellt. Daran gibt es Kritik aus Theologie und Kirche, die deutlich machen will, dass wir so selbstbestimmt letztlich nicht sind.

Das lässt sich tatsächlich auch soziologisch zeigen. Wir sind immer schon zutiefst auf andere bezogen und stark kulturell geprägt. Wir können uns selbst deshalb gar nicht denken, ohne auf kulturelle Muster zurückzugreifen und auf andere Menschen Bezug zu nehmen. Autonomie bedeutet deshalb nicht Autarkie. Selbstbestimmung ist immer relativ.

Eule: Der EKD-Ratsvorsitzende, Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm, hat auf ihren FAZ-Beitrag bezugnehmend davon gesprochen, dass „Suizid immer etwas Tragisches, immer eine Niederlage“ ist.

Karle: Jeder assistierte Suizid hat etwas Tragisches, dem stimme ich zu, aber auch das ganz normale Sterben ist oft tragisch. Tragik ist kein besonderes Distinktionsmerkmal des Suizids. Die Rede von einer „Niederlage“ ist nah dran an der Qualifizierung des Suizids als Sünde. Das ist genau das Denken, das die Kirchengeschichte dominiert hat. Damit ging und geht eine Stigmatisierung von Suizidwilligen einher, die ich für problematisch halte.

Ein assistierter Suizid, bei dem ein Mensch sagt, ich kann definitiv nicht mehr, es ist genug, ich lege das Geschenk des Lebens zurück in die Hände Gottes, sollte respektiert werden, auch wenn man sich als seelsorgliche Begleitperson die Entscheidung anders wünschen würde. Wir dürfen nicht vergessen, dass das „natürliche Sterben“ heute oft auch ziemlich unnatürlich ist, weil die Medizin durch ihren immensen Fortschritt das Leben immer mehr zu verlängern weiß.

Eule: Wenn man ernst nimmt, dass es bei der Entscheidung für einen assistierten Suizid immer um ein Beziehungsgeschehen geht, worin Sie und ihre Kritiker:innen übereinstimmen, dann impliziert die Rede von einer „Niederlage“ doch auch ein Versagen von Angehörigen oder Ärzt:innen und Pflegenden?

Karle: Ich sehe dahinter den Wunsch, der auch in vielen Diskussionsbeiträgen zu erkennen ist: „Hätten wir nur die bestmögliche palliative Versorgung, würde sich niemand mehr einen Suizid wünschen!“ Das halte ich für nicht realistisch, auch wenn ich sehr dafür eintrete, die palliative Versorgung weiter zu verbessern.

Wir müssen respektieren, dass Menschen auch unter guten palliativen Bedingungen und mit der besten Aufklärung in eine Situation kommen können, in der sie nicht mehr weiterleben wollen – , weil sie wissen, was noch auf sie zukommt in der letzten Wegstrecke ihrer Krankheit und weil sie diesen Weg nicht gehen wollen. Ich wüsste nicht, woher wir das Recht nehmen könnten, besser zu wissen, was für die betroffene Person gut ist, als diese selbst.

Eule: Worin besteht dabei ein evangelischer Beitrag?

Karle: Friedrich Schleiermacher hat gesagt, das größte Anliegen der Seelsorge ist es, die Freiheit des Gegenübers zu erhöhen. Menschen brauchen Seelsorge, weil diese Freiheit eingeschränkt ist, und es ist die Aufgabe der Seelsorger:in alles dafür zu tun, damit das Gegenüber wieder selbstverantwortlich sein Leben gestalten kann. Das ist das Ziel evangelischer Seelsorge. Der zweite Aspekt ist Trost. Für Martin Luther ist dieser Gesichtspunkt zentral: Der Trost im Leben und im Sterben. Das sind für mich die beiden zentralen Orientierungspunkte seelsorglicher Begleitung: Trost und die Förderung von Freiheit.

Eule: Kann man aus einer solchen Position den assistierten Suizid bejahen?

Karle: Ich vermute, niemand möchte den assistierten Suizid als eine normale Option. Es sind aber Grenzfälle denkbar, in denen im Bewusstsein um den Vorrang des Lebens ein „Ja“ zu einer willentlichen Beendigung des Lebens gesprochen werden kann.

Eule: Mir fällt die Parallele Ihres Vorschlags einer Beratung zur bestehenden Regelung im Schwangerschaftskonflikt auf. Da gibt es eine gesetzliche Beratungspflicht. Könnten Sie sich das als Lösung vorstellen?

Karle: Ich weiß nicht, ob das juristisch möglich ist, weil die Beratungspflicht im Schwangerschaftskonflikt sich ja auf die Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs nach § 218 Strafgesetzbuch bezieht, während der Suizid kein Straftatbestand ist. Deshalb bin ich nicht sicher, ob man das als allgemeine gesetzliche Regelung wird einführen können.

Was hier gangbare Wege für die Diakonie sind, da bin ich noch nicht am Ende mit Nachdenken, da muss nicht zuletzt auch das Gespräch mit den in der Diakonie Arbeitenden gesucht werden. Vielleicht wäre es sinnvoll, wenn die Diakonie „nur“ berät und seelsorglich begleitet und selbst keinen assistierten Suizid in ihren Einrichtungen zulässt. Doch wäre das für die Betroffenen eine schwierige Situation. Sie würden dann aus der Einrichtung entlassen. Man würde die Betroffenen in dieser bedrängenden Situation allein lassen und sie müssten sich an eine Sterbehilfeorganisation wenden. Insofern ist auch diese Lösung sehr ambivalent.

Eule: Das kategorische „Nein“ von Kirchenleitungen und Theolog:innen kommt fast nie ohne die Andeutung einer verschwiegenen Ausnahme aus. Da müssten dann Menschen „Schuld auf sich nehmen“ und doch Suizidbeihilfe leisten. Es erscheint mir verlogen, die Verantwortung einfach an Einzelne zu delegieren. Ich höre von Diakonie-Praktiker:innen vor allem, dass man sich eine ordentliche Regelung – so oder so – wünscht, um nicht mehr in rechtlichen Grauzonen handeln zu müssen.

Karle: Deshalb haben wir ja auch gesagt, dass wir aus dem kategorischen „Nein“ und damit dem Nicht-Wahrnehmen-Wollen der aktuellen Situation herauskommen müssen, um das Problem, das auf dem Tisch liegt, bearbeiten und ein sinnvolles Verfahren entwickeln zu können. Wir müssen eine Lösung finden. Es muss ja nicht unbedingt diejenige sein, die wir vorschlagen. Aber es braucht ein kohärentes Konzept, das klarstellt, wie die Diakonie in Zukunft konstruktiv mit dieser neuen Rechtsentwicklung umgehen kann.

Eule: Es gibt auch den Vorwurf an Sie, dass die Diskussion zur Unzeit geführt wird. Bloß weil etwas gesetzlich möglich würde, müsse sich die Kirche dazu nicht positiv verhalten. Sind sie zu sehr damit befasst, dem Verfassungsgericht hinterher zu springen als das Eigene des evangelischen Profils deutlich zu machen?

Karle: Diesen Vorwurf kann ich nicht nachvollziehen. Das Urteil des Verfassungsgerichts ist da und der Gesetzgeber muss sich dazu verhalten. Es wäre sehr gut, wenn die Kirchen in dieser Diskussion mitdenken und sie mitgestalten. Dazu wollten wir anregen.

Eule: Ausgerechnet jetzt während der Corona-Pandemie?

Karle: So ein Thema kommt immer zur Unzeit, ist immer unangenehm. Die Diskussion muss geführt werden. Seit einem Jahr hat sich diesbezüglich nichts getan. Ich kann für unsere Gruppe sagen, dass jede und jeder auf seine Weise in dieser Zeit versucht hat, diese Diskussion innerhalb kirchlicher Gremien und Blätter zu führen. Das war ohne Erfolg. Deshalb wandten wir uns an die Öffentlichkeit, um eine breite Debatte anzustoßen.

(Das Gespräch führte Philipp Greifenstein.)