Foto: Aarón Blanco Tejedor (Unsplash)
Kirche

Die Kirche darf nicht schweigen!

In welchem Umfang soll sich Kirche in die Politik einmischen? Über diese Frage wird in den Kirchen in Deutschland diskutiert. Eine Erwiderung auf die Kritik an der Öffentlichen Theologie.

Eine Kirche, die „auch mal schweigt“ und sich nicht permanent in alle möglichen politischen Debatten einmischt, wünscht sich Philipp Greifenstein in einem streitbaren Beitrag in der Eule vom 27. März 2019.

Eine Kirche, die nicht nervt und nicht unter den zunehmenden Verdacht gestellt ist, sie würde sich längst zu wichtig nehmen und sich stattdessen um die genuin religiösen Fragen kümmert, scheint ihm zeitgemäßer. Dabei nimmt er insbesondere die Vertreter*innen der Öffentlichen Theologie in den Blick, deren sozialethische Profilierung gerade in der Einmischung und dem Bewusstsein für die politische Dimension des christlichen Glaubens steht.

Kaum ein theologischer Ansatz dürfte im evangelischen Kontext prägender sein. Mit ihren Protagonisten Wolfgang Huber und Heinrich Bedford-Strohm hat die evangelische Sozialethik zwei für ihre Landeskirchen und die EKD prägende und profilierte Akteure. Sie stehen für den öffentlichen Anspruch der evangelischen Kirchen in Deutschland, die je gegenwärtigen Gesellschaftsdiskurse aktiv mitzugestalten. Dieser Anspruch drückt das eigene Selbstverständnis aus, als markante christliche und protestantische Stimmen in Deutschland kulturelles Leben und ethische Debatten mitzugestalten und darin Verantwortung zu übernehmen.

Aber ist dieser Einfluss und das darin ausgedrückte Selbstbewusstsein noch angemessen, wenn die Kirchen immer weiter schrumpfen und mit immer weniger Mitgliedern geringere Gesellschaftsteile repräsentieren? Diese Anfragen verschärfen sich, wo auch Kirchenmitglieder selbst sich durch die offiziellen kirchlichen Positionierungen nicht vertreten fühlen. Da erscheinen homogene, womöglich doktrinär vertretene Positionen als künstliche Nivellierung innerkirchlicher Pluralität.

So erscheint die Kritik zunächst plausibel, die Greifenstein mit Vehemenz an der Öffentlichen Theologie äußert. Sie ist zudem populär, das weiß er. Denn er sieht, dass eine sich einmischende Kirche genau solange als sympathisch gilt, wie deren Positionen mit denen der politischen Akteure übereinstimmen und als Bestätigung erlebt werden. Sind sie abweichend und werden sie gar als Kritik erlebt, steht der Ruf nach einer schweigenden und zurückgezogen-frommen Kirche schnell im Raum.

Volkskirchen konstituieren sich nicht durch Abgrenzung

Dabei baut die Werbung für eine stille Kirche auf grundsätzlichen Fehlannahmen auf. Zunächst übernimmt Greifenstein die gerade bei ambitionierten Humanist*innen beliebte Gegenüberstellung von Kirchen als religiösen Institutionen auf der einen und Gesellschaft und Politik auf der anderen Seite. Wo diese Gegenüberstellung betrieben oder übernommen wird, erfolgt das meist mit dem Ziel, für ein laizistisches Gesellschaftsmodell zu werben.

Die erfolgreichen, spezifisch bundesrepublikanischen Kooperationsmodelle zwischen Staat und Körperschaften öffentlichen Rechts sind dann schnell als Einmischung diskreditiert. Diese Kooperationen auch als wichtigen Bestandteil eines gelingenden gesellschaftlichen Miteinanders zu würdigen, ist dann meist nicht möglich.

Dabei wird schnell übersehen, dass die großen Kirchen nicht deshalb Volkskirchen sind, weil die Zahlen ihrer Mitglieder besonders groß wären. Katholische Diözesen und evangelische Landeskirchen sind deshalb Volkskirchen, weil sie sich nicht in einer abgrenzend-kontrastiven Identität im Gegenüber zum gesellschaftlichen Umfeld konstituieren, sondern die Themen aller Menschen eben auch ihre Themen sind.

Deshalb gibt es keine gesellschaftliche Frage, die nicht theologisch zu bearbeiten und kirchlich zu diskutieren wäre. Sie sind also Volkskirchen aus einer tiefgreifenden Solidarisierung mit der Gesamtgesellschaft. Deshalb verfehlt es den Kern ihres Selbstverständnisses – zu dem die katholische Kirche in Deutschland nach den Kulturkampf-Prägungen des 19. Jahrhunderts erst schrittweise finden musste -, wenn sie als Player im Gegenüber zur Gesellschaft betrachtet wird. Dabei gibt es natürlich konfessionsspezifisch variierende Kulturen der Zurückhaltung, die es etwa katholischen Klerikern verbietet, in staatliche Ämter zu wechseln oder politische Mandate zu übernehmen.

Das Schreien für die Armen gehört zum Christentum, Foto: Aarón Blanco Tejedor (Unsplash)

Wenn Greifenstein für eine Kirche wirbt, die auch mal schweigt, klingt das charmant – allerdings nur auf den ersten Blick. Denn er suggeriert dabei, dass ihre lauten Positionierungen lediglich Teil institutioneller Strategie im Rahmen politischer Kampagnen wären. Die könnte man dann beliebig steigern oder zurückschrauben, ohne dass es irgendwelche Kriterien gäbe, weil sie wie Strategien von Lobbyist*innen konzipiert wären.

Die Chance der Kränkungen

Im 21. Jahrhundert werden gerade auch in Deutschland die im Rahmen von Säkularisierungsprozessen unumgänglichen institutionellen Kränkungen in ihrer vollen Wucht erlebbar. Diese liegen nicht so sehr im Schrumpfen von Mitgliedszahlen oder in der Abnahme institutioneller Bindekraft. Viel gravierender sind die tieferliegenden Kränkungen, die eng mit dem konfessionellen Selbstverständnis verbunden sind:

Evangelische Kirchen, deren Tradition zentral an der Verkündigung des Glaubens im Wort und an einer hochprofessionellen Theologie ausgerichtet ist, muss das unübersehbare Desinteresse an ihrer Predigt, an ihren Denkschriften und Verlautbarungen schmerzen.

Eine katholische Kirche, deren Lehrgebäude und moralischen Verengungen nicht mal mehr unter den treuesten Gläubigen Relevanz zugesprochen bekommen und deren bischöflichen Amtsträgern selbst innerhalb der eigenen Kirchengemeinden offene Missachtung entgegenschlägt, muss es schmerzen, dass diese Säulen ihres Selbstverständnisses keine Plausibilität mehr erzeugen können.

Die Kränkungen sind unterschiedlich, in ihrer Wucht ähneln sie sich aber. Eine naheliegende Reaktion darauf ist der Rückzug, sei er traditionalistisch betrieben oder durch das Hohelied auf die individuelle Privatspiritualität idealisiert. Gibt es Alternativen zu diesen Rückzugsszenarien?

Die große Chance in den knapp skizzierten Kränkungen liegt darin, dass sie eben nicht nur Schmerzen, sondern auch Verunsicherungen erzeugen. Eine Verunsicherung wäre die wohltuende Alternative zum Rückzug und zum geforderten Schweigen. Zu suchen wäre also konfessionsübergreifend nach verunsicherten christlichen Kirchen, die sich nicht davon abhalten lassen, sich einzumischen.

Sie würden dies aber nicht bloß mit dem Endprodukt einer Meinung und einer Position tun, die ohnehin meist die kirchlichen Heterogenitäten überdecken, sondern mit der Suche nach Positionen und mit dem sichtbaren Ringen um Meinungsbildung. Das wäre ein zeitgemäßes Mitgestalten gesellschaftlicher Diskurse jenseits eines unverantwortlichen Schweigens. Es wäre die Chance, den kirchlichen Habitus der Selbstsicherheit zu überwinden und sich wirklich mit denen zu solidarisieren, die in den je aktuellen Debatten tragfähige Antworten suchen.

Der Schrei gehört zum Christentum

Insbesondere in der katholischen Theologie ist aber mit der von Johann Baptist Metz entwickelten Neuen Politischen Theologie auch ein zentrales Kriterium für die gesellschaftlichen Einmischungen entstanden: Es ist die Option für die Armen, aufgrund derer sich Christ*innen und insbesondere kirchliche Amts- und Funktionsträger*innen lautstark zu Wort zu melden haben.

Einfach mal leise sein? Wie wollte man das gegenüber Notleidenden und ihren kirchlichen Anwält*innen ausdrücken?

Gegenüber Peter Kossen, der als Pfarrer in Norddeutschland die Ausbeutung von ausländischen Arbeitnehmer*innen in den Schlachthöfen kritisiert. Gegenüber Lea Ackermann, einer Ordensschwester, die sich seit Jahrzehnten für Zwangsprostituierte einsetzt? Gegenüber der Mannheimer Pastorin Ilka Sobottke, die profiliert die Ungerechtigkeit eines unzureichenden Sozialsystems kritisiert? Gegenüber Franz Meurer, der in Köln eine engagierte Sozialpastoral aufgebaut hat und zugleich ungerechte Strukturen anspricht?

Wer eine stille Kirche fordert, sagt auch solchen Menschen, dass sie vielleicht helfen können, aber bitte nicht den Mund aufmachen sollen. Und so zeigt sich, dass eine solche Forderung vor allem auf eine „friedhöfliche“ Stille abzielt, die dem Christlichen nicht angemessen sein kann – und der Gesellschaft schadet.

Gerade in jüngeren Veröffentlichungen von Ulrich Engel und Ansgar Kreutzer wurde der Ansatz der Politischen Theologie aufgegriffen und weiterentwickelt. Sie stehen dafür ein, mit größerer Weite gegenüber allen Gesellschaftsfragen das christliche Ringen um die jeweiligen „Zeichen der Zeit“ zu betreiben.

Auch in kirchlichen Krisenzeiten mit ihren Skandalbearbeitungen und lähmenden Strukturdebatten in den Diözesen, halten sie die Frage nach den gesellschaftlichen Themen im Bewusstsein von Kirchen und Theologie. Insbesondere diese Weite wird jüngst massiv angefragt und kritisiert. Doch markieren sie im katholischen Kontext, dass christliche Kirchen sich nicht mit ihrer eigenen Binnenstabilisierung begnügen dürfen und sensibel für die Fragen der Gegenwartsgesellschaft bleiben müssen.

Notwendige Weitung zu einer „Geöffneten Theologie“

Wo Neue Politische Theologie und Öffentliche Theologie gemeinsam in den Blick genommen werden, entsteht ein spannendes Projekt – quasi das Anliegen einer Geöffneten Theologie.

Sie wirkt nicht nur in die Gesellschaft, sondern lässt auch auf sich einwirken. Sie positioniert sich nicht nur, sondern ermutigt zur Positionssuche. Sie zeichnet sich also durch eine doppelte Ausrichtung aus: durch das Einmischen in komplexe gesellschaftliche Debatten einerseits, und durch die Frage, welche deutlichen Impulse sich dabei auch an die Kirchen selbst ergeben, andererseits.

Gerade die Durchlässigkeit kirchlicher Identität für Anfragen durch gesellschaftliche Entwicklungen bewahrt sie vor traditionalistischen und fundamentalistischen Rückzugskonzepten, die keinesfalls als marginal zu betrachten sind. So ist die kirchliche Beteiligung an den gesellschaftlichen Debatten auch ein Schutzmechanismus im Innern der Kirchen, der sie vor thematischer und institutioneller Selbstverzwergung bewahrt.

Die großen Kirchen sind nicht deshalb Volkskirche, weil sie Mehrheiten bilden und ein großes Kirchenvolk repräsentieren, sondern weil sie die geistliche und intellektuelle Weite haben, sich für alle im Land lebenden Menschen zuständig zu fühlen und sich mit allen Zeitgenoss*innen, besonders den Bedrängten, zu solidarisieren.

Deshalb ist der Forderung von Philipp Greifenstein nach einer „auch mal schweigenden Kirche“ erst recht entgegenzuhalten: Mischt euch ein, beteiligt euch als Kirchen und schreit notfalls laut, solange ihr eurerseits kritische Anfragen aushaltet und euch immer wieder selbst aus dem Tritt bringen lasst!