Die Kirche und die Politik: Eine Problemanzeige
Klimaschutz, Migration und Tempolimit – die Kirche hat zu allem etwas zu sagen. Unter dem Schlagwort der „Öffentlichen Theologie“ mischt sie sich in die Politik ein. Wie weit sollte sie dabei gehen?
In der Kirche läuft quer zu den je aktuellen Diskussionen eine Debatte darum, wie weit sie in politischen Angelegenheiten tätig werden soll. Unter dem Schlagwort der „Öffentlichen Theologie“ hat sich die Kirche in den vergangenen Jahrzehnten zu allen möglichen politischen und gesellschaftlichen Fragen verhalten und öffentlich geäußert.
Ein erfreuliches Ergebnis dieses Prozesses ist die hohe Deutungskompetenz, die sich die Kirche in vielen Fragen erworben hat, weil sie sich zuständig erklärt. Andererseits erscheint die öffentliche Kommunikation der eigenen Position gelegentlich reflexhaft.
Ein enges Netz politischer Kompetenz
Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD), die evangelischen Landeskirchen und ihre Zusammenschlüsse VELKD und UEK, haben in den Jahren seit dem 2. Weltkrieg ein beeindruckend vielfältiges und umfangreiches Netz von kirchlichen Arbeitsstellen und berufenen Sprecher*innen gesponnen, die sich mit der Beobachtung und Beinflussung von Politik beschäftigen. Hinzu kommen passionierte wissenschaftliche Theolog*innen, die sich in Debatten einschalten.
Dieses Netzwerk ermöglicht der evangelischen Kirche nah an den Fragen der Zeit zu sein. Die Arbeitsstellen fungieren zuforderst als Sensoren in die Gesellschaft hinein. Gleichwohl lohnt sich eine kritische Überprüfung, ob gerade diese Sensoren heute noch angemessen sind: Wo ist Kirche nicht auch blind für neue Entwicklungen? Diese Frage wird umso dringlicher, weil sie sich nicht allein als Empfänger für Signale aus Politik und Gesellschaft versteht, sondern als selbstbewusster Sender auftritt.
Es gibt Hardcore-Gegner einer politischen Einmischung der Kirche. Sie habe sich aus allen Fragen des politischen Alltags herauszuhalten, die sie nicht unmittelbar selbst betreffen. Befürworter*innen einer solchen Position finden sich aus unterschiedlichen weltanschaulichen oder pragmatischen Gründen von ganz Links bis ganz Rechts im politischen Spektrum der Bundesrepublik. Die Nähe zur Kirche wird gesucht, wenn man sich ihres Wohlwollens sicher ist. Kritische Interventionen der Kirche werden zügig als übergriffig diffamiert, wie z.B. in der Flüchtlingsfrage.
Es gibt auch Hardcore-Befürworter einer Kirche, die sich als natürliches Korrektiv staatlichen Handelns und des politischen Geschäfts versteht. Hier kennt das christliche Sendungsbewusstsein gelegentlich keine Grenzen, weshalb man Vertreter*innen dieser Überzeugung bei den Radikalen innerhalb der Kirche findet – sowohl bei reaktionären Evangelikalen als auch bei ökologisch-friedensbewegten Linken.
Im Übrigen wird eine komplementäre Einwirkung des Staates auf die Religion abgelehnt. „Öffentliche Theologie“ kann auch in der Verteidigung von Diskriminierung bestehen, die staatlicher Gesetzgebung zuwiderläuft. Sie ist ein im doppelten Sinne emanzipatorisches Projekt und verpflichtet nicht zu einer bestimmten – gar liberalen – politischen Richtungswahl.
Was wird gewünscht?
Fragt man die Kirchenmitglieder beider großen Konfessionen in Deutschland, was oder wen sie von ihrer Kirche in der Öffentlichkeit wahrnehmen, werden regelmäßig zwei Ebenen der Institution genannt: Die lokale Organisation von Kirchgemeinde, Parochie, Stadtgemeinde. Und die synchron zum Nationalstaat aufgestellte „Führung“ der Kirche, also die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) mit ihrem Vorsitzenden Kardinal Reinhard Marx und die EKD mit dem Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm.
Jenseits der Extremmeinungen zur Frage der politischen Präsenz der Kirchen, scheint es unter den Kirchenmitgliedern eine generelle Wertschätzung dafür zu geben, sich als Kirche zu wichtigen gesellschaftspolitischen Fragen äußern zu können. Dabei verlieren die historisch gewachsenen innerkirchlichen Binnenstrukturen von Bistümern und Landeskirchen immer weiter an Bedeutung. Ebenso die konfessionelle Trennung der Kirche im Land.
Daraus ergeben sich mehrere Herausforderungen:
Auch mal schweigen
Die Kirchen dürfen die Möglichkeit öffentlichen Einspruchs nicht als Mandat dafür missverstehen, zu jeder möglichen Frage das Wort zu ergreifen. Ihnen werden Interventionen von Seiten des Staates und – noch wichtiger – von Seiten ihrer Mitglieder unter der Bedingung verantwortlicher Gestaltung zugestanden.
Wo genau die Grenze zu ziehen ist, ergibt sich aus dem innerkirchlichen Diskurs. Hier stehen die evangelischen Kirchen in Deutschland vor einem Wendepunkt, weil sie ihre Interventionsmöglichkeit arg ausgereizt haben. Soweit, dass auch generelle Befürworter*innen der politischen Einmischung durch die Kirche einzelnen politischen Kampagnen inzwischen kritisch begegnen. Gelegentlich darf auch gefragt werden, ob die Kirche ihre eigene Kampagnenfähigkeit nicht auch überschätzt.
Am Beispiel: Die Bewahrung der Schöpfung ist ein Kernanliegen der Christen. Sie erwarten durchaus, dass ihre Kirchen sich dementsprechend öffentlich positionieren, Kirchenglockenläuten als Solidaritätsgeste mit den #FridaysforFuture-Demonstrant*innen einbegriffen. Aber muss die Kirche eine Petition für ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen initiieren? Hat sie das mit den Fahrern ihres Spitzenpersonals koordiniert? Muss sie in der Passionszeit zum Verzicht auf das Auto aufrufen? Hat sie dazu einmal bei den Landpfarrer*innen nachgehorcht, die ohne Auto ihren Dienst nicht erfüllen können?
Solche politischen Interventionen erscheinen darum nicht zu Unrecht als Kopfgeburten einer schreibtischaffinen Theolog*innenkaste innerhalb der evangelischen Kirchen, die mittels Handreichungen und Appellen das „einfache“ (Kirchen-)Volk pädagogisiert. Dabei wird nahezu ausschließlich auf der Einbahnstraße kommunziert, im besten Falle ewige Überzeugungen, die wie das Manna vom Himmel von den dankbaren Kirchenmitgliedern empfangen werden sollen. Es ist diese Haltung, die der Kirche hochverbundenen Menschen zunehmend auf den Wecker geht.
Die Gefahr der Nationalkirche
Die Sichtbarkeit der nationalen Ebene kann leicht dazu führen von ihrer Bedeutung in der Öffentlichkeit auf innerkirchliche Macht zu schließen. Dabei sind die beiden großen Konfessionen in Deutschland nicht als Nationalkirchen organisiert, noch sollten sie es nach ihrem eigenen Selbstverständnis sein. Die Macht in den 22 röm.-kath. Bistümern des Landes liegt beim Ortsbischof, der dem Papst mehr gehorchen muss als nationalen Leitlinien. Der Streit innerhalb der DBK um den richtigen Reformkurs als Reaktion auf die Missbrauchskrise verdeutlicht das ganz anschaulich.
In den evangelischen Kirchen ist die Macht innerhalb der Landeskirchen demokratischer unter Synoden, Kirchenämtern und geistlichen Leitungsämtern aufgeteilt. Wie Beschlüsse der VELKD, UEK und EKD in den Landeskirchen umgesetzt werden, das bestimmt jede Landeskirche im Rahmen der Vereinbarungen unter den Kirchen selbst. Der Rat der EKD ist keine Regierung der Evangelischen im Lande.
Gerade die evangelische Kirche steht in der Gefahr, aus der wachsenden Bedeutung ihrer Sprecher*innen auf nationaler Ebene einen Zentralismus abzuleiten, der seine Spitze eben dort findet. Dabei wären es gerade die schon bestehenden Verbindungen zu anderen europäischen evangelischen Kirchen, die ausgebaut werden müssten. Dies erscheint umso drängender, da die großen politischen Fragen unserer Zeit eben nicht mehr in der Gestaltungsmacht eines Nationalstaates liegen.
Der Nationalstaat als Handlungsrahmen kirchlichen Handelns wird darüber hinaus aus der anderen Richtung in Frage gestellt. Der Europäische Gerichtshof definiert kirchliche Selbstbestimmungsrechte um, weil sein Maßstab eben nicht allein die deutsche Rechtstradition ist.
Für die Eigenheiten der Selbstbestimmung der Kirchen in Deutschland wird man nachhaltig nicht allein vor dem Bundesverfassungsgericht eintreten müssen, sondern im Verbund mit anderen europäischen Kirchen effektiver auf der Ebene europäischer Gesetzgebung. Dabei wird die deutsche Tradition der Staatssynchronität von Kirche angesicht gemeinsamer Anliegen der europäischen Kirchen an Bedeutung verlieren.
Partizipation statt Predigt
Beide Großkirchen stehen vor der Frage, wie politische Willensbildung angemessen neu organisiert werden kann. Neben der Auflösung traditioneller Kirchengrenzen und der geringeren Bedeutung von Nationalstaaten spielt hier vor allem die Digitalisierung eine große Rolle. Wie kann die Kirche das Potential ihrer Mitglieder stärker wahrnehmen, Autor*innen ihres eigenen Glaubens und einer ihm gegenüber verantworteten Lebensgestaltung zu sein? Wie kann sie aus dem Dilemma der Einbahnstraßen-Kommunikation ausbrechen?
Was ist eigentlich die Aufgabe derjenigen, die sich für die Kirchen mit Politik beschäftigen?
Sollen sie weiterhin Ressourcen für die Erarbeitung von Positionen in Kammern und Arbeitskreisen und für die Veröffentlichung von Denkschriften und Handreichungen einsetzen, oder nicht vielmehr in einen wahren Dialog mit der eigenen Basis eintreten? Geht es weiterhin darum, Menschen zu belehren und „mitzunehmen“, oder kann – zumindest evangelische – Teilhabe am politischen Leben sich nicht vielmehr als bisher auch offiziell auf die Kompetenz der engagierten Christenmenschen stützen? Wie muss sich kirchliches Denken und Handeln im politischen Raum im 21. Jahrhundert verändern?