Gemeinschaft am Lagerfeuer, Foto: Tegan Mierle (Unsplash)

Die Kirchen und Corona: Unterm Radar

Christ*innen diskutieren über die Durchführung von Gottesdiensten während der Corona-Krise. Doch wie schaut es eigentlich auf den anderen Arbeitsfeldern der Kirche aus?

Überall in Deutschland bereiten sich Gemeinden darauf vor, bald wieder in den Kirchen Gottesdienst zu feiern. In Sachsen ist dies unter strengen Sicherheitsvorkehrungen, z.B. einer Zutrittsbegrenzung, schon möglich. Katrin Wollschläger hat sich das für die Katholische Nachrichtenagentur (KNA) in der neuen Leipziger Propsteikirche angeschaut.

Über die Gottesdienstabsagen, digitale Gottesdienste und nun die „neuen“ Gottesdienste diskutieren Christ*innen während der Corona-Krise besonders engagiert. In einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD im Rahmen des COSMO-Monitorings gaben allerdings nur 21,1 % der evangelischen Befragten an, der Gottesdienstbesuch habe ihnen während der Osterfeiertage gefehlt (katholisch: 29 %). Demgegenüber vermissten gut 70 % der Befragten das Zusammensein mit der Familie an den Feiertagen.

Mehr als Gottesdienste

Von der Emotionalität der Debatten kann also nicht automatisch auf eine hohe Bedeutung des Gottesdienstes für das Glaubensleben von Christ*innen hierzulande geschlossen werden. Andere Angebote der Kirchen erreichen andere Menschen – darunter viele, die dem Sonntaggottesdienst ohnehin fern bleiben und für die Gottesdienste unter Corona-Sicherheitsvorkehrungen kaum in Frage kommen. Wie schaut es in diesen anderen Arbeitsfeldern der Kirchen aus, die von den Einschränkungen während der Corona-Krise nicht minder betroffen sind?

„Die Frage ist ja nicht allein, wann wieder Gottesdienste durchgeführt werden können,“ erinnert Jörg Stoffregen, Referent für Inklusion und kirchliche Praxis der Nordkirche, sondern: „Wann können wir unsere Gemeindehäuser wieder aufmachen? Wann finden Begegnungs- und Gruppenangebote für Jung und Alt wieder statt?“ Stoffregen ist Sprecher des Bundesnetzwerks für Gemeinwesendiakonie und Quartiersentwicklung der Diakonie und arbeitet für das „Netzwerk Kirche inklusiv“. Er beobachtet den erzwungenen Rückzug der Kirche aus vielen Arbeitsfeldern mit Sorge.

Die Begegnung unterschiedlicher Menschen wird in Kirchgemeinden vor allem in Gruppen organisiert. Von der Krabbelgruppe angefangen, über die Christenlehre und den Konfirmandenunterricht bis hin zu Senioren-Kreisen treffen sich viele Christ*innen unter der Woche um gemeinsam zu beten, zu singen, zu tratschen und ihr Leben miteinander zu teilen.

Gruppenangebote für Kinder und Jugendliche fallen derzeit komplett aus. Sie bilden neben der Schule einen Sozialraum jenseits der Familie, der für viele Kinder und Jugendliche wichtig ist. In den evangelischen und katholischen Jugendverbänden sind über 2 Millionen Jugendliche organisiert. Auch Senioren-Kreise, die für viele Teilnehmer*innen einen regelmäßigen Tapetenwechsel und einen Schritt aus der Einsamkeit im Alter bedeuten, finden nicht statt.

Wie mit den Rüstzeiten für Familien, Kinder und Jugendliche sowie Gemeindefahrten und Ausflügen für Senior*innen weiter verfahren wird, steht ebenfalls dahin. Mitarbeiter*innen von christlichen Erholungsheimen mussten in einigen Landeskirchen schweren Herzens in Kurzarbeit geschickt werden, weil ohne Gruppenfahrten die Einnahmen wegbrechen. In Deutschland gibt es einige hundert kleine und größere christliche Freizeitheime, die vor allem in den Sommerferien für Angebote der Kinder- und Jugendarbeit genutzt werden.

Geh-Kultur statt Komm-Struktur

Wenn nicht mehr in Kirche und Gemeindehaus eingeladen werden kann, gerät die Kirche an ihre Grenzen. „Wir müssen jetzt raus zu den Menschen, weil sie nicht mehr zu uns kommen können“, meint Jörg Stoffregen. „Das ist jetzt in der Krise besonders dringend. Es stimmt aber eigentlich schon immer, wenn man sich einmal anschaut, wer denn noch zu uns kommt.“

Dass Kirchgemeinden sich in ihren Sozialraum hinein öffnen, ist ein Anliegen der Gemeinwesenarbeit. Viel zu häufig lädt die Kirche einfach ein, immer wieder diesselbe Demographie. So sind die beiden großen Kirchen Refugien eines bürgerlichen Glaubens geworden. Wer mit der vorherrschenden Kultur nichts anfangen kann, bleibt fern.

Hinzu kommt: Menschen mit wirtschaftlichen oder sozialen Problemen finden in normalen Kirchgemeinden selten Anschluss. Um Menschen mit Suchtproblemen, Obdachlose, psychisch Kranke und Familien in Notlagen kümmern sich ja Diakonie und Caritas. Dass Diakonie und Caritas mit der Kirche vor Ort stärker als Einheit operieren, forderte zuletzt auch der Präsident der Diakonie Deutschland Ulrich Lilie. Die Diskussion wird seit einigen Jahren unter dem Eindruck sinkender Kirchenmitgliedschaftszahlen verstärkt geführt.

„Es gibt viele Gemeinden, die sich da in den letzten Jahren in ihrem Stadtteil oder Dorf auf den Weg machen. Einfach, weil sie gesehen haben, dass Kirche nicht allein in einer Komm-Struktur bleiben kann, sondern zu den Menschen gehen muss“, beschreibt Stoffregen den Paradigmenwechsel hin zu einer aufsuchenden Gemeindearbeit. Wo sind die Menschen, auch jetzt während der Corona-Krise?

Pastor Bodo Boehnke aus dem Kirchenkreis Bramsche der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers findet sie auf dem Parkplatz eines Supermarktes. Dort hat er sich vor einem Campingmobil einquartiert und spricht Passant*innen an. Er wolle „ein Stück Normalität vermitteln“ und sich nicht ins Pfarrhaus zurückziehen, erklärt er in einem Chat-Interview seine Beweggründe. „Ich habe jetzt schon mehr Gespräche gehabt als sonst in einem ganzen Monat. Die Leute sind dankbar, dass die Kirche Flagge zeigt!“

Kreative Arbeit mit Kindern und Jugendlichen

An vielen Orten in den Kirchen wird mit Hochdruck an neuen kreativen Formen der Begegnung gearbeitet. Statt in den Kindergottesdienst oder den Kinderkreis einzuladen, werden Kindern Beutel mit Spielen und Rätseln an die Wohnungstür gehängt. In Thüringen organisiert eine Kirchgemeinde eine Stadtrallye für Kinder. Mit ihren Eltern können sie auf dem Weg durch die Stadt und Kirchengebäude Entdeckungen machen. Die Kinderkirche Württemberg hat unter dem Titel „Freudensprünge“ Spiele mit dem Hüpfball zusammengestellt. Haupt- und Ehrenamtliche adaptieren Ideen für den Kindergottesdienst für die Beschäftigung zuhause.

Obwohl es auch digitale Angebote für Kinder und Jugendliche gibt, sind sich die Akteur*innen aus der Kinder- und Jugendarbeit einig: Will man an Kindern und Familien „dranbleiben“, dann müssen kreative Ideen für das Spielen und Lernen daheim und in kleinen Gruppen her. So will man gerade auch Familien unterstützen, die sich in der Krise überfordert fühlen.

Die Kindertafel der Paul-Gerhardt-Gemeinde in Lüneburg zum Beispiel unterstützt Familien auch weiterhin, u.a. mit Lern- und Freizeit-Tipps und mit Lebensmittel-Gutscheinen, die über die Diakoniekasse der Kirchengemeinde ausgestellt werden. Normalerweise treffen sich bis zu 20 Kinder täglich zum gemeinsamen Mittagessen, zur Hausaufgaben- und Lernzeit und zum gemeinsamen Spielen, Basteln und Bewegen in der „FreiZeit“. Für die Corona-Wochen ist ein Angebot unter dem Titel „Lernraum“ in Planung. Ehrenamtliche Mitarbeiter*innen stehen für Lernhilfe in Einzelbetreuung zur Verfügung.

Im Kirchenkreis Nordfriesland, berichtet Jörg Stoffregen aus der Nordkirche weiter, wurden 400 Tüten mit einem Rezept und Zutaten für das gemeinsame Kochen zuhause an Familien verteilt. So kommt gesundes und selbstgekochtes Essen auf den Tisch, wo sonst die Mittel dafür fehlen. Außerdem geht es auch darum, den Familien ein Zeichen der Wertschätzung zu übermitteln.

Die Krise als Katalysatorin für Veränderung

Ähnlich wie bei der Einrichtung von digitalen Angeboten, die seit Beginn der Corona-Krise einen Boom erleben, müssen viele Kirchgemeinden schnell aufholen, was jahrelang versäumt wurde. Sich als ein Akteur der Zivilgesellschaft vor Ort und in der Stadt- und Dorfgemeinde und neben anderen Inititativen zu verstehen, bedeutet eine Anfrage an das Selbstbild von Kirchen, die jahrhundertelang davon ausgehen konnten, als Heilsvermittlungsanstalten gebraucht zu werden.

Statt einzuladen, hinzugehen und statt zu verkündigen, zuzuhören – das ist eine Herausforderung für die Kirchen. Viele haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen sehnen einen solchen Paradigmenwechsel schon lange herbei. Jörg Stoffregen stellt in der Corona-Krise fest: „Gemeinden mit einem solchen gemeinwesenbezogenen Profil haben es jetzt natürlich leichter, auf die Herausforderungen der Krise einzugehen.“