Ich sitze an meinem Küchentisch und blicke in den Kalender. In den letzten Tagen scheint eine Horde aus Kugelschreibern dort eine besondere Schlacht geführt zu haben. Notizen, Deadlines, Randbemerkungen. Fast normal für die Adventszeit im Pfarrberuf könnte man meinen. Aber da ist eine Besonderheit:
Termine wie Seniorenadventsfeier, Konfi-Advent, Kaffee und Kuchen nach dem Adventsgottesdienst – alles gestrichen. Nicht durchgestrichen bisher die Gottesdienste an Heiligabend und den Weihnachtsfeiertagen. Noch nicht? Am Mittwoch hat die Evangelische Kirche im Rheinland (EKiR) empfohlen, dass die Presbyterien situativ entscheiden sollen, ob Präsenzgottesdienste stattfinden können. In Westfalen (EKvW) wurde am Dienstag die Empfehlung ausgesprochen „ab sofort und über die Weihnachtsfeiertage – voraussichtlich – bis zum 10.01.2021 auf alle Präsenzgottesdienste und andere kirchliche Versammlungen (in Gebäuden und unter freiem Himmel) zu verzichten.“
Einige Landeskirchen geben genaue Angaben vor, die die Gottesdienstdauer beschränken, Teilnehmerhöchstzahlen vorgeben und strenge Hygienekonzepte einfordern. Andere ermutigen dazu, Gottesdienste zu feiern, auch hier natürlich mit Konzepten und Abstand und allem, was zum neuen Alltag gehört.
Das Herz wird schwer
Ich weiß, dass es sich die unterschiedlichen Kirchenleitungen im Land nicht leicht machen, diese Entscheidung zu treffen. Es zeigt, wie lebendig und dialogfähig das synodal-presbyteriale System ist, wenn Kirchenräte, Kirchenkreise, Superintendent:innen und Presbyterien darum ringen, hier einen angemessenen Weg zu beschreiten.
Und es wird sicherlich nicht nur „den einen“ Weg geben, sondern viele Lösungen werden situativ sinnvoll sein. Die steigenden Fallzahlen, die unkontrollierte Entwicklung der Corona-Pandemie in Deutschland, die Notwendigkeit, Kontakte massiv zu beschränken ist genau das, was die Vernunft gebietet, fraglos!
Und doch wird mir das Herz schwer, wenn ich mir Weihnachten ohne Präsenz-Gottesdienste vorstelle. Einerseits trauert mein Kinderherz mit den nostalgischen Erinnerungen. Andererseits begehrt mein Theologinnenherz auf, da es sich fragt, wie wir als Kirche gerade jetzt auf diese Gottesdienste verzichten können, und was das über unser Gottesdienstverständnis aussagt.
Wir sind alle ausgelaugt
Die letzten Monate haben uns allen viel abverlangt. Wir sind ermattet, müde, ausgelaugt. Covid-19 und die damit einhergehende Vereinzelung, die psychische Belastung, Existenzängste und Absagen im großen und kleinen Stil erschöpfen uns. Die angespannte politische Situation, weltweite Krisen und die ganz unterschiedlichen Herausforderungen im persönlichen Alltag sind anstrengend.
Dass es in den vergangenen Monaten schwerer wurde, Energie und Zuversicht aufrecht zu erhalten, ist nachvollziehbar. Seelisch sind wir wund und verletzlicher denn je. Es ist im wahrsten Sinne zum Heulen. Dass wir Menschen – als soziale Wesen, die in unterschiedlichen Gemeinschaftsformen leben und diese zum gesunden Leben brauchen – so lange auf Kontakte verzichten müssen, macht es nicht leichter.
Dabei sind wir doch in der Gemeinschaft immer noch am besten aufgehoben. Wir erleben, dass wir abgeschnitten sind von den Lebensbereichen, die uns nähren: Familie, Freunde, physische Nähe, Gemeinschaft. Seelische Mangelernährung.
Kirche reagiert – aber wie?
Nun gehen wir auf Weihnachten zu und die Beschränkungen setzen sich fort, werden sogar angezogen, weil die Infektionslage das erfordert. Bei Kirchens entstehen nun kleine und große Diskussionen und Empfehlungen, wie mit den Weihnachtsgottesdiensten umzugehen ist. Ein denkbar ungünstiger Zeitpunkt, etwa eine Woche vor Heiligabend.
Rückblick: Im Herbst begannen viele Überlegungen und Planungen, wie Advent und Weihnachten gefeiert werden können – analog, digital, hybrid, alternative Feiern, Hausandachten, Krippenspaziergänge und vieles mehr. Gottesdienstinstitute sammelten Ideen und Materialien, Gemeinden kamen miteinander ins Gespräch – auch auf ökumenischer Ebene! Man suchte nach Formen, die auch mit Abstand und ohne Gesang die gemeinsame Feier ermöglichen. Die Hygienekonzepte hatten ihre Wirksamkeit gezeigt, viele Gemeinden feiern ja schon seit Monaten Gottesdienste in Kleinstbesetzung.
Kreative Kraft erwachte, die uns das Jahr über hier und da sicherlich gefehlt hat. Auf Weihnachten ist der Kompass ausgerichtet – denn „nicht wir retten Weihnachten, Weihnachten rettet uns“ (EKvW-Präses Annette Kurschus). Auf Präsenz-Gottesdienste (nicht nur an Weihnachten) zu verzichten, wirkt organisatorisch angebracht. Aber theologisch hinterfragt wird es wenig bis kaum. Worauf verzichten wir, wenn wir auf diese Gottesdienste verzichten? Auf eine ganze Menge, auf ein Stückchen Himmel und Erde, um es mal pathetisch zu sagen.
Die Begegnung mit Gott
Gottesdienst ist wesentlicher Bestandteil von Kirche. Gottesdienst hat nur ein Ziel: „Die Begegnung mit Gott, das Sich-Öffnen für das Unbedingte, für die alles bestimmende letzte Wirklichkeit.“ (Peter Cornehl, „Der Evangelische Gottesdienst“) Mit dem Augsburgischen Bekenntnis (Confessio Augustana, 24) gesprochen: „Die Messe soll den Glauben erwecken und die Gewissen trösten. Sie wird gemeinschaftlich von der gläubigen Gemeinde gefeiert.“
Gottesdienst hat keinen Selbstzweck. Er ist kein Produkt der Pfarrer:innenschaft, die den Gemeindeschafen etwas präsentieren will.
„Gott ist Geheimnis, und Liturgie macht solches Geheimnis begehbar“, schreibt Martin Nicol („Weg im Geheimnis“). Gottesdienst ist das kultische Herz der Gemeinde. Gottesdienst ist das Zusammenspiel von Wort und Musik, von Klang und Stille, von Hören und Sprechen, von Machbarkeit und Unverfügbarkeit. Im Gottesdienst feiern Liturg:in, Musiker:in, Lektor:in und die Gemeinde gemeinsam. Die Gottesdienstfeier ist Dienst an und mit der Gemeinde, Dienst an und mit Gott, umfasst Himmel und Erde.
Dabei sind die Bestandteile der Liturgie Teile des Weges im Geheimnis. Im Gebet rufen wir gemeinsam Gott an, klagen, danken, ringen mit ihm. In den Lesungen erklingt Gottes Wort in unserer Welt – eine Spannung zweifelsohne, aber wir bekommen einen Geschmack für Gottes Handeln in der Welt, an uns. Im Gesang vereinen wir unsere Stimmen – darauf verzichten wir derzeit. Aber dennoch erklingt Musik, weil sie ausdrücken kann, wozu Worte nicht möglich sind. Gott ist Geheimnis, Gott ist Geist, und – so hat es Bishop Michael Curry im Podcast mit Brené Brown formuliert – Gott teilt sich uns in der Gemeinschaft mit.
Wir sind abgeschnitten von der Gemeinschaft im Alltag und von der Gemeinschaft in der Gottesdienstfeier. Wir verlieren den Nährstoff, der uns Kraft, Trost, Hoffnung gibt. Wir brauchen die Energie aus der Begegnung mit anderen Menschen. Und wir brauchen die Energie und den Geist aus der Begegnung mit Gott, Ursprung und Kraft unseres Lebens. Deswegen brauchen wir Gottesdienste.
Gottesdienst als Balanceakt
Wir brauchen Gottesdienste und erleben eine entzückende Vielfalt dieser Tage! Digitale Angebote entstehen, vom Sonntagsgottesdienst über Adventskalender bis zum Kindergottesdienst oder Abendmahl per Zoom. Ein schöpferischer Reichtum, dessen Vielfalt an Gottes verschwenderische Tatkraft am Anfang der Zeiten erinnern mag oder an die vielen Glieder unter Christi Haupt, von denen Paulus spricht.
Digitale Angebote sind ohne Zweifel gut, aber sie führen das fort, was der analoge Gottesdienst auch mit sich bringt, nämlich eine starke Zielgruppenfokussierung. Wo auf analoge Gottesdienste langfristig verzichtet wird, muss man sich fragen, warum und worauf man verzichtet – nämlich die physische Gemeinschaft und eine gewisse Verbindlichkeit, die man bietet, aber auch erwartet.
Ich glaube, Gottes Geist weht auch, wenn wir vor dem Bildschirm Gottesdienste mitfeiern, ob technisch ausgetüftelt beim ZDF oder mit anderer Qualität aus der Heimatgemeinde. Aber zugleich spitzt der digitale Weg die Vereinzelung zu und eliminiert die Partizipation der feiernden Gemeinde. Digital und analog im Zusammenspiel ermöglichen, verschiedene Angebote für verschiedene Gruppen anzubieten. So können mehr Menschen erreicht werden. An sich banal, aber es setzt voraus, dass man sich bewusst ist, was man wo und warum tut und worauf man verzichtet, wenn man etwas sein lässt. Ein Balanceakt, keine Frage.
Stille Nacht, heilige Nacht
Gottesdienste zu Weihnachten werden von den einen gefeiert, andere verzichten darauf. Verzichten – nicht absagen, obwohl letzteres leider doch die Formulierung ist, die man oft hört oder liest. Sagen wir Weihnachten ab, wenn wir an manchen Orten auf Gottesdienste verzichten? Weihnachten passiert, ob wir es feiern oder nicht. Gottes Menschwerdung wird ja nicht wie ein Abo um ein Jahr verlängert, weil es als Krippenspiel in den Gemeinden aufgeführt wird. Gottes Liebe wirkt in unserem Leben auch jenseits der Gottesdienstfeier – wie könnte man als Mensch nur versuchen, den Höchsten klein zu halten und zu reduzieren!
Aber Gottesdienste an Weihnachten 2020 haben eine besondere Bedeutung. Und das liegt im Geheimnis dieser Stillen, Heiligen Nacht begründet, in der der Heiland geboren wurde – Immanuel, Gott mit uns. Der Inbegriff von Gottes Nähe – und jeder, der sein Weihnachtspredigt-Bingo parat hat, kann jetzt fix ein Kreuzchen machen – denn ob romantisch verklausuliert oder auf die Parole „Gott wird Mensch“ runtergebrochen: Das ist das Geheimnis von Weihnachten. In die zerbrechliche Verletzlichkeit des Lebens strahlt Gottes Licht hinein, mit dem Versprechen, dass diese Welt eine andere wird! Und wir Christen glauben, wir lassen uns vertrauensvoll hineinfallen in das Geheimnis, auch wenn wir noch nicht sehen.
Dieses Jahr gibt es die Angst davor, dass die Gottesdienste zum Bersten voll sein werden. Dort, wo mit Anmeldungen gearbeitet wird, zeigt sich oft ein anderes Bild: Menschen sind zurückhaltend, weichen aus auf andere Gottesdienstformate. Das ist gut – dafür gab es ja all die Planungen.
Vielen Menschen ist Weihnachten trotzdem wichtig. Auf einen Platz im Gottesdienst zu verzichten, heißt nicht, „Nein“ zu Weihnachten zu sagen. Aber: Den Wenigen, die kommen wollen, die Türen zu zumachen, ist seelsorgerlich und gottesdiensttheologisch problematisch. Denn dadurch verunmöglichen wir die Begegnung miteinander und mit Gott im liturgischen Rahmen. Ebendieser Rahmen ist aber in dieser Zeit einer, der Halt gibt, durch seine Rituale, festen Formulierungen und das alle Jahre wiederkehrende „Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging…“.
Darauf zu verzichten, im analogen Gottesdienst unter Einhaltung aller Hygienekonzepte miteinander zu staunen über das Wunder; mit den Engeln zu singen – wenn auch im Herzen -; wie die Hirten die frohe Botschaft aller Welt verkünden – das heißt, auf eine der wesentlichsten Formen unseres Glaubens zu verzichten. Und dieser Verzicht schmerzt. Sehr!
Verzichten tut weh
Schmerzlich ist es für die, die Weihnachten als Strohhalm ihrer Planungen sahen. Schmerzlich für die, die in Gottesdienste gehen, obwohl sie schon auf den Familienbesuch verzichten, und dort nach Trost suchen. Schmerzlich für die, deren Kinderherzen pochen und schlagen, auch wenn sie nur einmal im Jahr die Kirche von innen sehen. Schmerzlich für die, die nicht zur Kirche gehen, aber die es tröstet, dass Gottesdienste stattfinden. Schmerzlich für Theolog:innen und Prediger:innen, die ihren Auftrag, das Evangelium zu verkündigen ernst nehmen.
Wir haben gewiss nicht immer die besten Worte, aber wir können den Mitfeiernden unsere Stimme leihen und anbieten. Oder gemeinsam mit ihnen traurig sein, denn es gibt genug Gründe, traurig zu sein. Und wir teilen Hoffnung, indem wir versichern, dass Gott uns ganz nah kommt. Wir glauben mit ihnen, dass alles anders wird!
Wir sind so verletzlich im Moment. Wir suchen nach Worten, suchen nach Trost. Gottesdienst ermöglicht genau das: Verletzlich sein dürfen. Klagen. Weinen. Schreien. Stumm sein. Worte hören, Worte des Trostes, der nicht hohl ist. Gott suchen, finden, seine Nähe erleben. Wo wir darauf verzichten, verzichten wir auf so viel.
3 Kommentare zum Artikel
In sich schlüssig, und doch verschlug es mir zunächst nur den Atem: Parallel zum lesen nehme ich wahr, wie die Forschung leer ausgeht, die Medikamente gegen Corona zu entwickeln sucht. Stattdessen stürzt sich alles auf den messianisch verehrten Impfstoff. – Und die Kirche denket über ihre ausfallenden Gottesdientse nach, anstatt sich politisch zu engagieren? Im schlechtesten Sinne wird sie zum gehorsamen Diener des Staates. Das Gottesdienste nicht politisch, sondern nur liturgisch-ästhetisch gedacht werden, ist ein Trauerspiel. Brauchen wir noch diese Institution?
Ich bin evangelischer Pfarrer und ich habe große Bauchschmerzen, wenn ich an tausende Präsenzgottesdienste an Heiligabend 2020 denke.
In wenigen Tagen ist Weihnachten. Ich las heute bei „Der Tagesspiegel“ die Schlagzeile: „Lockdown bis April wegen Weihnachten?“ In dem dazugehörigen Artikel wurden auf Mobilfunkdaten basierende Modellrechnungen der TU Berlin vorgestellt, wonach am Beispiel der Stadt Berlin im Januar eine deutliche Erhöhung der Infektionszahlen im Zusammenhang mit COVID19 zu befürchten wäre, wenn die Menschen sich an Weihnachten zu verstärkten Kontakten hinreißen ließen. Viele analog schließende Aussagen aus Wissenschaft und Politik ließen sich anführen.
Eine andere Überschlagsrechnung beschäftigt mich seit einigen Tagen. Die statistischen Erhebungen der EKD geben an, dass jährlich „37.000 Christvespern und Metten am Heiligen Abend“ gefeiert werden. 8008509 Christinnen und Christen besuchen diese Veranstaltungen. Laut verschiedenen Umfragen wollen sich 20-25% der Bevölkerung an Weinachten nicht an die empfohlenen oder gesetzlich festgelegten Einschränkungen halten. Wenn das anteilig auch auf die Gottesdienstbesucher zutrifft, wären das knapp 2 Millionen Menschen, deren Problembewusstsein in Bezug auf die Pandemie eher unterentwickelt ist. In dem Fall kämen im Schnitt auf jede Christvesper 54 Menschen, die vorher und hinterher zahlreiche Kontakte wahrnehmen werden, die sich und andere möglicherweise nur unzureichend schützen. Es werden möglicherweise genau diese Leute sein, die unsere Gottesdienste an Heiligabend besuchen, während verantwortungsbewusste oder ängstliche Personen hingegen zu Hause bleiben, weil sie die Mahnungen aus Wissenschaft und Politik ernst nehmen.
Ich bin beeindruckt, wie viele Kirchengemeinden zum Teil schon seit Wochen an ihren Hygienekonzepten feilen und ihr Möglichstes tun, damit alles zur Christvesper sicher abläuft. Aber können wir auch auf die Dynamiken Einfluss nehmen, die sich um die Christvespern herum entwickeln, bevor die Besucher die Kirche oder den Veranstaltungsort betreten oder nachdem sie diesen wieder verlassen haben? Auf alle Fälle haben wir dann für eine Menschenansammlung gesorgt und Unvorsichtige werden sich umarmen und einander frohe Weihnachten wünschen.
Die Zahlen entwickeln sich dramatisch und ich habe die aus meiner Sicht begründete Sorge, dass die Ansteckungen mit COVID19 nach Weihnachten noch einmal deutlich ansteigen werden.
Natürlich finden die Gottesdienste innerhalb eines geordneten rechtlichen Rahmens statt. Aber dieser Rahmen wurde aufgespannt, das darf man nicht vergessen, weil die Frage nach einem möglichen staatlichen Verbot von Gottesdiensten verfassungsrechtliche Relevanz hat und nicht, weil man ausgerechnet Kirchengemeinden zutraut, dass sie perfekte, professionelle Veranstaltungsmanager sind. Klar ist vielmehr, dass insbesondere kleine Gemeinden auf dem Land, mit der Organisation und Durchsetzung von notwendigen Hygienevorschriften überfordert sind. Die Verantwortung allerdings tragen die Gemeindeleitungen allein. Das grenzt meines Erachtens an Fahrlässigkeit.
Ich denke an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Pflegebereich, die seit Wochen massiv durch die Pandemielage belastet und großen Gefahren für die eigene Gesundheit ausgeliefert sind. Für diese muss es wie Hohn sein, wenn wir Kirchengemeinden, obwohl Demonstrationen und eigentlich alle Versammlungen eingeschränkt oder verboten werden, unsere großen Zusammenkünfte einfach durchziehen. Wir wissen nicht, ob es gut geht. Und wenn die Zahlen ansteigen, werden wir mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlich gefragt werden, welche Rolle wir mit unseren Krippenspielaktionen, Andachten etc. gespielt haben. Wenn wir nicht sogar zur Plattform für Corona-Leugner werden, die dankbar rufen: „Wenigstens die Kirche lässt uns nicht hängen!…“ Oder ängstliche Glaubensgeschwister fragen und hinterher voller Entsetzen: „Was habt ihr denn da gemacht?“
Etwas Weiteres macht mir Sorge. Was bedeutet das alles für unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Haupt- und Ehrenamt? Fühlen sich manche trotz großer Vorbehalte möglicherweise genötigt oder gezwungen, ihren Dienst für die Besucher der Christvespern zu leisten? Was, wenn manche hinterher krank werden? Müssen wir nicht unbedingt eine Befreiung von der Dienstpflicht für dieses Weihnachten nachdenken? Es ist eine Ausnahmesituation! Wir sollten sagen, jeder, der Angst hat, muss zuhause bleiben dürfen, auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kirche.
Täglich sterben nahezu 1000 Menschen in Deutschland in Zusammenhang mit einer COVID19-Erkrankung. Es ist noch eine Woche bis Weihnachten. Es müssen alle Verantwortlichen in der Kirche in sich gehen und sich fragen, ob es das wert ist. Ganz besonders möchte ich den Kirchengemeinden Mut machen, abzusagen, die bis dato unentschlossen oder ängstlich sind, was ihre Christvesper im Ort angeht. Schaut nicht, was die Nachbargemeinde macht. Ihr müsst euch nicht rechtfertigen, ebenso wenig wie diese euch gegenüber. Und ich kann sagen, wenn Ihr absagt, steht ihr nicht allein da. In meinem Pfarrbereich haben alle Kirchengemeinden, sieben an der Zahl, entschieden, auf Christvespern mit Präsenz zu verzichten. Und andernorts gibt es weitere Beispiele. Es ist kein Sakrileg, einmal keine Christvesper zu feiern. Und es gibt Alternativen: Online-Gottesdienste, Andachten per Brief zum Daheim feiern, wie wir es praktizieren, und vieles anderes.
Ich verurteile niemanden, der sich doch für seinen Plan entscheidet. Ich bin sicher, dass jene, die sich für Präsenzgottesdienste an Heiligabend entschieden haben, sich diese Entscheidung nicht leicht gemacht haben. Sie werden ihr Möglichstes tun, um die Besucherinnen und Besucher, zumindest während der Veranstaltung zu schützen. Aber heute können wir noch zurück. Hinterher wird es kritische Anfragen geben und die werden nicht immer so differenziert und sachlich ausfallen, wie es die aktuelle, vorwiegend innerkirchliche Debatte vormacht.
Ich wünsche allen gute Gedanken und Gottes Segen bei Ihren Entscheidungen. Bleiben Sie gesund!
In meinem Beritt erlebe ich Menschen, die ihren Glauben mit dem leben, was sie ihr Leben lang gemacht haben. Sie haben Zeichen ihres Glaubens in ihren Wohnungen, an sich und sie entdecken diese Zeichen überall in ihrem Leben (Wegkreuze, Begegnungen, Verabredungen zum zeitgleichen Gebet, …). Wir haben in unserer Pfarrei viel Mühe mit den Präsenzgottesdiensten und dem neuen YouTube-Kanal gehabt. Dabei erreichen wir die, die wir immer erreicht haben. Die anderen Menschen suchen sich eigene Wege (das wäre ein Thema für sich) oder haben sie schon. Selig, die bereits eigene Wege erprobt haben. Wer in diesen Zeiten nur verzichtet, hat es schwer.
Grade unter den älteren Gemeindemitgliedern erlebe ich viel Gelassenheit. Sie sind richtige Füchsinnen in Sachen TV-Kanäle. Unter ihnen ist nicht jede:r vertraut mit dem Internet oder empfindet die neuen Wege, die in der Pfarrei im digitalen Bereich gegangen werden, als Bereicherung, weil sie ganz gut versorgt sind.
Als hauptsächlich im Bereich Inklusion tätige Seelsorgerin hadere ich mit Krisenstäben ohne Seelsorger:in. Und ich hadere mit den unzähligen Dienstleister der Behindertenhilfe, die alles richtig machen (und das ohne Frage auch tun), aber darin schlechte Knechte sind, weil sie halt nur ihre Pflicht tun. Satt und sauber sind die ihnen Anvertrauten, aber in der Falle derer, die in Heime Hilflosigkeit erlernen, sprachlos bis sprachunfähig, hoffnungslos.