Ukraine-Krieg: Was wir jetzt opfern müssen

Während das Sterben im Ukraine-Krieg weiter geht, werden in Deutschland und in der Kirche viele Überzeugungen auf den Prüfstand gestellt. Ein Kommentar.

„Unsere“ Ukrainer werden bald kommen. Jedenfalls ist in der leerstehenden Wohnung im Gemeindehaus alles vorbereitet. Betten, eine Küche, viel Hilfsbereitschaft. Der örtliche Deko-Laden spendiert die Kleingeräte. An vielen Orten im Land bereiten Ehren- und Hauptamtliche der Kirchen gemeinsam mit freiwilligen Helfer:innen Geflüchteten aus der Ukraine ein Quartier. Die gesetzlichen Hürden sind niedrig, das Verwaltungschaos wird bewältigt werden. Wie 2015. Wir schaffen das.

Zugleich geht das Morden in der Ukraine weiter. Die Fronten haben sich festgefahren, trotzdem liegt eine Waffenruhe in weiter Ferne. An Frieden ist kaum zu denken, auch wenn die Kirchenkonferenz der Evangelischen Kirche in Deutschland bewusst schon an die Zeit nach dem Ukraine-Krieg denken will. „Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg. Ohne Vertrauen, Gerechtigkeit und persönliche Kontakte zwischen Menschen aller Völker ist Frieden nicht möglich“, heißt es da. Manche werden das als beharrliches Festhalten an einer „naiven Friedensethik“ deuten oder am „überholten“ Paradigma der Entspannungspolitik. Aber was ist die Alternative?

In diesen Tagen überschlagen sich Kommentator:innen in den Medien und auch in den Kirchen mit Deutungen und Forderungen. Der Mut der Ukrainer sich gegen den scheinbar übermächtigen Aggressor zu verteidigen, wird bewundert. Die verständliche Bewunderung kippt gelegentlich in eine Romantisierung von Soldatenmut und Kriegsherrlichkeit. Wird man so den Nöten der Ukrainer wirklich gerecht?

Noch realisieren die Deutschen nicht, was uns der Ukraine-Krieg alles kosten wird, doch wird schon einmal festgehalten, dass Deutschland und die hießige Bevölkerung viel opfern muss. Lang gehegte Überzeugungen sind damit vor allem gemeint. Ob wirklich alle davon über den Jordan geführt werden müssen, darüber sind Restzweifel angebracht. Wandel durch Annäherung und Entspannungspolitik haben sich nicht automatisch deshalb überlebt, weil zu viele deutsche Akteure darunter in den vergangenen Jahren persönliche Bereicherung verstanden. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Interdependenzen sind unsere beste Chance auf eine friedliche Zukunft.

Ignoranz und Inkonsequenz sollen der Vergangenheit angehören, eine neue Strenge einkehren: Wenn damit gemeint ist, dass Deutschland zu den Zusagen steht, die es im Rahmen der Europäischen Union und der NATO den osteuropäischen Partnern vor vielen Jahren gegeben hat, so kann ich das nur unterstützen. Die Osterweiterung beider Bündnisse bedeutete für jene jedenfalls anderes und viel mehr, als es die Deutschen wahrgenommen haben.

Und dann sollen die Deutschen irgendwie von „ihrem“ Pazifismus lassen und wehrhaft werden. Die Bundeswehr soll nicht alleine aus-, sondern aufgerüstet werden. Manche:r wähnt sich gleich zur gesellschaftlichen Aufrüstung und Tarnfleck-Einkleidung berufen. Wer seinen Twitter-Account als Kriegspropaganda-Verteiler oder als Nachrichtenagentur missversteht, neigt zu Absolutismen.

Die Folgen des Krieges tragen

Die sicherheitspolitisch notwendige Ausstattung der Streitkräfte allerdings verlangt der Bevölkerung neben einem – emotional vielleicht schwer zu verarbeitenden – Einsehen in die Notwendigkeit wenig mehr ab. Die Bundesregierung wird gut daran tun, die Rüstung nicht auf Kosten der Bevölkerung zu finanzieren. Es wäre dies in der deutschen Geschichte auch ein Novum und käme einem politischen Suizid für die Sozialdemokratie und die Grünen gleich. In diesen Krieg werden obendrein – zum Glück – keine deutschen Soldat:innen geschickt. Und auch in künftige Kriege wohl kaum die Söhne und Töchter derjenigen, die nun von Katheder und Redaktionssessel aus nach Opferbereitschaft rufen.

Ich bin mir sicher, dass der Ukraine-Krieg und die humanitäre Krise, die er schon jetzt geschaffen hat und die sich in den kommenden Wochen und Monaten noch weiter verschärfen wird, viel von „uns“ fordern wird. Allerdings nicht den vielfach beschworenen militärischen Heroismus. Wenn Deutschland seinen internationalen Verpflichtungen nachkommt, werden wir hundertausende Geflüchtete aus der Ukraine und ihren Nachbarländern, vor allem Moldawien, aufnehmen müssen. Die Bundeministerin des Auswärtigen, Annalena Baerbock, hat darauf bei ihrem Kurzbesuch in der Republik Moldau hingewiesen.

Es gibt an den europäischen Grenzen längst Städte von Flüchtlingszelten. Wollen wir derer neue und größere bauen – oder nutzen wir die neugewonnene europäische Einmütigkeit dazu, sie allesamt überflüssig zu machen? Das wird mehr von uns verlangen als Nachbarschaftshilfe und Zivilcourage, nämlich koordiniertes staatliches Handeln. Und es wird kosten: Geld und die kostbare Währung „gesellschaftlichen Zusammenhalt“.

Es ist darum ein richtiges Zeichen, dass der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland mit dem Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), Christian Stäblein, zum ersten Mal einen Beauftragten für Flüchtlingsfragen beruft. Seit dem Ausscheiden von Heinrich Bedford-Strohm aus dem Amt des EKD-Ratsvorsitzenden im vergangenen Jahr hat das Engagement in der Flüchtlingshilfe und Migrationspolitik kein vergleichbar prominentes Gesicht gehabt.

Das beides weiterhin und verstärkt Gewicht in der Kirche haben wird, ist nun an Stäblein gelegen. Dafür wird er neben seinem persönlichen Einsatz auch die Connections als „Hauptstadtbischof“ benötigen. Mehr als um die Koordination der unterschiedlichen Hilfsangebote von Diakonischen Werken und Landeskirchen wird er sich allerdings um die gesellschaftliche Vermittlung der Kraftanstrengungen zugunsten der Geflüchteten bemühen müssen. Stäblein, der sich immer wieder deutlich gegen Rechts abgrenzt, ist dafür der richtige Mann.

Der Heroismus des Alltags

Wenn wir die notwendigen verteidigungspolitischen Konsequenzen aus dem neuerlichen Angriffskrieg Russlands ziehen, dann sind damit nicht allein Ausrüstungsfragen bei der Bundeswehr gemeint. Der zivile Katastrophenschutz muss ausgebaut werden. Zugleich braucht es den genauen Blick darauf, wo eine notwendige Stärkung gesellschaftlicher Resilienz in eine gefährliche Remilitarisierung umzuschlagen droht. Es braucht auch ein neues Commitment Deutschlands zur wirtschaftlichen Partnerschaft mit den osteuropäischen Ländern. Und hoffentlich werden wir uns den Wiederaufbau der demokratischen Ukraine einiges kosten lassen: Neben unserem Geld, auch Fantasie und den kostbaren Einsatz von Freundschaft.

Die Wunden der an Leib und Seele verletzten Kriegsopfer verbinden, Häuser und Herzen offenhalten, Gesprächsfäden nicht abreißen lassen, Neuankömmlingen und unseren eigenen Kindern Sicherheit vermitteln – das sind keine nachgeordneten Aufgaben. Das ist Tagwerk, das Mut und Kraft erfordert. Ein Tagwerk, das nicht mit Fanfarenzügen und in Flecktarn einhermarschiert, sondern neben den großen Gesten vor allem aus ermüdender und schleppender Arbeit besteht. Die Kärrnerarbeit am Frieden beginnt in der Stunde des Krieges. Sie ist uns aufgetragen.


„Als Christen über Flüchtlinge stritten“ – Online-Vortrag

Hunderttausende Menschen fliehen derzeit aus der Ukraine vor dem Krieg. Sie werden in den unmittelbaren Nachbarländern, aber auch bei uns in Deutschland aufgenommen. Die Hilfsbereitschaft ist groß. Das erinnert viele Menschen an die sog. „Flüchtlingswelle“ von 2015. Auch damals halfen viele Menschen großherzig, bevor im Land eine andauernde Diskussion über Flucht und Migration anschwoll, die Deutschland für immer verändert hat.

Christ:innen waren und sind bei der Flüchtlingshilfe stark engagiert, doch wird auch unter ihnen immer wieder über den richtigen Umgang mit Flüchtlingen und Migranten gestritten. Nicht erst im 21. Jahrhundert.

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