Die Schnecke muss sterben
Es braucht Mut, Kinder in die Geheimnisse von Leben und Tod einzuführen. Und ein bisschen Orientierung. Philipp Greifenstein erklärt, warum und wie man mit Kindern über den Tod sprechen kann.
Anna Wronska stellt sich auf dem Familienblog der FAZ „Schlaflos“ die Frage: „Wie viel Glauben/Religion will und soll ich meinen Kindern vermitteln, um ihnen Nächstenliebe, Empathie, Toleranz, Zuversicht beizubringen? Und: Taugt Religion überhaupt dafür?“ Sie spricht über ihr Unbehagen, ihrem Kind religiöse Antworten zu vermitteln, die doch nur weitere Fragen provozieren. Ihr Unbehagen macht sie am Beispiel Weihnachtsmann oder Christkind fest, und am Sterben der Ur-Oma.
Ihr Text ist die ungeschminkte Reflexion eines Problems, vor das sich viele Eltern gestellt sehen, die ihr Kind irgendwie religiös erziehen wollen. Das sind Eltern, die ihr Kind gerne in einen evangelischen oder katholischen Kindergarten schicken, nach dem Religionsunterricht in der Grundschule fragen, die gerne auf die großen Fragen des Lebens eine christliche Antwort geben wollen. Vielleicht, weil sie selbst so groß geworden sind. Vielleicht, weil es ihnen wichtig ist, dem Kind eine umfänglichere kulturelle und religiöse Bildung mit auf den Weg zu geben. Vielleicht wissen sie es auch nicht genau.
„Eine der härtesten Nüsse am Elternsein ist für mich, dass es mich zwingt, mich mit mir selbst und meiner eigenen Vergangenheit zu beschäftigen“, schreibt Wronska. Die Frage nach der religiösen Erziehung der eigenen Kinder führt zurück in die Vergangenheit: Wie habe ich das erlebt? Wie haben meine Eltern auf Fragen nach Leben und Tod und nach dem Christkind geantwortet? Wronska fragt: „Was hat uns als Kindern Halt gegeben, was war und ist uns wichtig? Was glauben wir, und was wollen wir, dass die Kinder für wahr halten – wenn auch nur für die ersten Jahre?“
Was ist schon „kindgerecht“?
Dabei kreist ihr Nachdenken nicht nur um ihre Vorsicht, dem Kind allzu viel zuzumuten. Aber ihre Scheu ist spürbar, ihr Kind mit den Abgründen des Lebens vertraut zu machen. Darin erkenne ich erst einmal Sorge um das Kind, die ich gut verstehen kann. Was in der Welt ist schon „kindgerecht“? Welche Nachrichten und Bilder soll mein Kind zu sehen bekommen? Die wohlmeinende Sorge der Eltern ist als Motiv nicht zu verachten.
Ich habe Wronskas Text in den letzten Tagen meiner Twitter-Filterblase angereicht. Die ist voller Theolog*innen und junger Eltern. Wronskas Text ist ein bisschen verkopft mit „Es gibt keine kindgerechte Version von Gott“ überschrieben, was gute Theolog*innen zur Antwort herausfordert, es gäbe ja auch keinen erwachsenengerechten Gott. Und das stimmt. Gott bleibt dem Menschen unverfügbar. Er ist der Welt und in ihren Abgründen verborgen. Theolog*innen aller Zeiten haben dieses Problem in unterschiedlichen Denkfiguren ausgeführt und aus ungezählten Perspektiven betrachtet.
Was können wir von Gott wissen, und darum leichter sagen? Ist der Mensch zur Erkenntnis Gottes überhaupt befähigt? Ist Gott auch im Leid zu finden? Wer ist für Leben und Tod zuständig? Das sind Urfragen der Theologie, mit denen sich Theolog*innen in meiner Filterblase gut auskennen. Sie sind mit ihrem Nachdenken – das darf man ohne Scheu zugeben – ganz und gar nicht Mainstream. Was sie beschäftigt und die dazu verwendete Begriffswelt, das alles ist reichlich obskur geworden. Man sollte von ihnen verlangen, sich verständlich und lebensnah auszudrücken.
Deshalb will ich einmal über die Überschrift von Wronskas Text hinweg schauen. Mich beschäftigt auch nicht die Frage nach Christkind und Weihnachtsmann. Ich halte es für eine Geschmacksfrage, ob man nun lieber vom Nikolaus oder vom Weihnachtsmann spricht, oder Wert darauf legt, dass die Geschenke nun von ihm, vom Christkind oder von den Erwachsenen kommen. Es sind je unterschiedliche Motivationen und Überbleibsel der eigenen Kindheit, die uns das eine favorisieren, das andere aber ablehnen lassen.
Die Frage nach dem Weihnachtsmann ist ziemlich langweilig. Ihre Überhöhung erlebe ich zumeist in Familien, in denen keine anderen Interpretationen des Weihnachtsfestes mehr zur Verfügung stehen. Wenn das Magische der Weihnacht allein auf die Gestalt des Bärtigen zusammensurrt, dann wird sie in einer Weise aufgeladen, der der literarische Gehalt der Figur kaum standhalten kann.
Die spannendere Frage in Wronskas Text ist die nach dem Tod. Ja, ich glaube, wenn man diese Nuss geknackt hat, dann löst sich auch manch anderes Bedenken auf.
„Wie erklär‘ ich’s meinem Kind?“
Über den Tod zu sprechen ist Eltern in Deutschland aus vielen Gründen nicht in die Wiege gelegt. Sie führen hier allesamt zu weit. In einer Kultur, in der kleine Kinder nicht mit zu Beerdigungen oder auf den Friedhof genommen werden, in der viele Menschen diese Orte ohnehin meiden, in der über Trauer selbst im Familienkreis nicht gesprochen wird, ist die Aufgabe der Eltern, ihr Kind auch mit diesem Teil des Lebens vertraut zu machen, einfach sehr, sehr schwer. Und ich verstehe Eltern, die vor den Härten des Themas zurückschrecken. Wo sollen sie es auch anders gelernt haben?
Seit zehn Jahren arbeite ich mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren. Sie arbeiten als Transportdienstler in Krankenhäusern und schieben den lieben Tag lang Leichname in den Keller. Sie arbeiten auf Kinderstationen, in Kindergärten und einige auch als Assistenzhelfer. Sie begleiten Kinder mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung im Schulalltag, manchmal haben die Kinder auch „nur“ Lernschwierigkeiten. Sei’s drum: Sie alle sind im Arbeitsalltag mit Tod und Sterben in einer Weise konfrontiert, die Außenstehende nur selten nachvollziehen können.
Ich tingel also durch die Seminargruppen und rede mit den einen über Tod und Sterben im Krankenhaus und mit den anderen darüber, wie man mit Kindern über Sterben und Tod sprechen kann. Die erste Frage ist immer: Sollte man das überhaupt? Und meine Antwort dort wie auch auf Anna Wronska ist: Ja, unbedingt! Du kommst doch ohnehin nicht drumherum, dann kannst Du dich darauf auch gut gewappnet einlassen.
Was Kinder vom Tod halten, ist entwicklungsabhängig. Natürlich spielen das je unterschiedliche Fühlen und Denken, die sonstige Erziehung, die kognitiven und emotionalen Fähigkeiten des Kindes, der kulturelle oder religiöse Background entscheidende Rollen. Auch, ob sich das Kind dem Tod schon einmal gegenüber gestellt gesehen hat. Darum ist es häufig das Sterben der (Ur)-Großeltern, die bei vielen Kindern interessiertes Nachfragen provoziert.
„Oma ist jetzt im Himmel“
Die Wissenschaften stellen inzwischen recht ausdifferenzierte Modelle der kindlichen Entwicklung zur Verfügung. Die haben alle ein Geschmäckle: Wer mit konkreten Altersangaben arbeitet, läuft Gefahr, Kinder in ein Schema von zu erwartendenen Kennzeichen einzusortieren. Sie sind also mit Vorsicht zu genießen und nicht dazu da, Kinder aneinander und an unseren Maßstäben zu messen. Trotzdem:
Bis zum Alter von 2 1/2 Jahren lernen Kinder belebte von unbelebten Objekten zu unterscheiden. Sie merken auch, wenn Erwachsene um sie herum traurig sind, weil ein Abschied, ein Verlust oder der Tod Einkehr gehalten hat. Mit 2 1/2 bis 3 Jahren entdecken Kinder, dass der Tod das Gegenteil des Lebens ist. Tod ist nicht-leben. Lebendiges – wie Tiere und Pflanzen – wird nun von unbelebten Gegenständen unterschieden. Dass der Tod endgültig ist, wird noch nicht verstanden.
Drei- bis Fünfjährige treten in die magische Phase der Weltdeutung ein. Sie sind ungemein neugierig, was das Sterben angeht. Bilderbücher, Geschichten und Märchen sind voll von unheimlichem Verschwinden und Wieder-Auftauchen. Beim Spielen wird der Tod in die Handlung einbezogen. Er bekommt sogar ein Gesicht: Der Sensenmann hat hier nach wie vor seinen Auftritt. Kinder verkleiden und gruseln sich gerne. Wenn Kinder über den Tod zu sprechen beginnen, dann in magischen Formeln, zu denen auch die traditionellen christlichen Redeweisen gehören: „Oma ist jetzt im Himmel“.
Dieser Himmel kann durchaus unheimlich sein, wie Wronska es in ihrem Text beschreibt. Von den Jugendlichen und jungen Erwachsenen in den Seminargruppen – die mehrheitlich nicht religiös erzogen wurden – höre ich, dass ihnen trotzdem vom Himmel erzählt wurde. Und, dass sie den Himmel als tröstend erinnern. Die Weite des Himmelszeltes mag eine Rolle spielen, und dass die Wacht der Toten über die Lebenden als beruhigend wahrgenommen wird. Der Himmel der Kindheit ist ein magischer Ort, an dem alles möglich ist.
Im Alter von 6 bis 8 Jahren beginnen Kinder sich für naturwissenschaftliche Erklärungen zu interessieren. Der abgestürzte Vogel am Wegesrand wird neugierig untersucht. Dass der Tod nicht umgekehrt werden kann, wird erkannt. Die Schnecke muss sterben. Kinder stellen Fragen nach Verwesung, nach Gründen für das Sterben.
Im Alter von 9 Jahren gleicht das Todeskonzept vieler Kinder bereits dem von Erwachsenen. In vier Fremdworten kann festgehalten werden, worum es dabei geht: Nonfunktionalität. Mit dem Tod setzen lebenswichtige Funktionen des Körpers aus. Irreversibilität. Der Tod ist nicht rückgängig zu machen. Kausalität. Dass jemand stirbt, hat Gründe wie Krankheit, einen Unfall oder Gewalteinwirkung. Universalität. Alles muss sterben.
Die Entwicklungsphasen sind in keinem Fall so zu verstehen, als dass sie sich nacheinander die Klinke in die Hand geben. Sie überlappen sich, werden manchmal nie oder nur teilweise abgelöst. Religiöse Weltdeutung hat immer ein Geschmäckle von magischem Denken. Ich meine: Wir Menschen brauchen, um den Tod zu begreifen, mehr Hilfen als die rein naturwissenschaftliche Erklärung. Religiöses oder magisches Erzählen ist dem naturwissenschaftlichen Erklären nicht unterlegen, sie verhalten sich vielmehr komplementär zueinander.
„Was meinst Du?“
Wir Eltern wollen die Welt erklären und damit uns selbst und dem Kind beweisen, dass wir uns in dieser Welt auskennen. Wir wollen Sicherheit durch Bescheidwissen vermitteln. Dem sind allerdings Grenzen gesetzt, mal weitere, mal engere. Eine wunderbar ehrliche Antwort auf die Fragen des Kindes ist darum: „Ich weiß es nicht. Was meinst Du?“
Tempo und Sprechweise gibt das Kind mit seinen Fragen und Vorstellungen vor. Ich kann mich auch auf magische Erzählungen eines Kindes einlassen, das schon älter ist, als es dieses oder andere Entwicklungsmodelle veranschlagen. Wenn ich genau hinhöre, kann ich herausfinden, ob das Kind nach einer magischen oder naturwissenschaftlich nachvollziehbaren Antwort verlangt.
Und in jedem Fall ist dem Kind eine Vielfalt der Antwortmöglichkeiten zumutbar. Es ist nicht notwendig, dass sich Erzieher*innen und Lehrer*innen, Väter, Mütter, Großeltern in diesen Fragen einig sind, solange sie nur respektvoll mit den je unterschiedlichen Haltungen umgehen. Dass mein Kind mit einer Vielfalt an Lebensdeutungen klarkommt, ist für sich genommen schon ein wichtiges Ziel meiner Erziehung.
Geheimnisse des Lebens und des Todes
Beim Erklären der Welt hilft mir jeder abgestürzte Vogel, jede zertretene Schnecke, jeder Wechsel der Jahreszeiten. Wenn es darum geht, mein Kind in die Geheimnisse des Lebens und Todes einzuführen, dann gebrauche ich dazu auch die Geschichten und Ideen meiner religiösen Tradition.
Vor dieser Einführung will ich mich nicht drücken, wenn sie auch viel von mir fordert. Ich halte sie für noch wichtiger, als bündige und korrekte Erklärungen der Welt zu vermitteln. Mir ist es nicht so sehr um das „Wie?“ der Welt bestellt, das wird mein Kind auch anderswo lernen. Mir geht es darum, meinem Kind eine Idee davon mitzugeben, warum die Welt ist und wo es seinen Platz in ihr finden kann.
Ich will, dass mein Kind keine Angst vor dem Tod hat. Dass es sich – wie ich auch – vor dem Sterben fürchtet ist dabei eingepreist. Es mag keinen „kindgerechten“ Gott geben, und er mag sich auch dem Blick der Erwachsenen entziehen, aber es gibt einen Herrn über Leben und Tod.
Vielleicht erscheinen mir manche theologische Antworten auf die Fragen von Anna Wronska deshalb ein wenig blutleer, weil sie sich darum herumdrücken. Es wird doch recht gerne auf religionspädagogische Fragestellungen ausgewichen oder allgemeine Kulturkritik formuliert. Um den Tod drücken wir uns auch auf Kanzel und Katheder, im Kindergottesdienst und konfessionellen Kindergarten herum.
Im Wimmelbuch zur Bibel, das mein Kind gerne anschaut, findet sich das Kreuz nur im Hintergrund, das Buch endet prominent mit den Auferstehungserzählungen. Die Geschichte von der Arche Noah ist eine der beliebtesten Kindergeschichten religiösen Ursprungs und findet sich als Buch oder Spielzeug noch in jedem areligiösen Haushalt mit Kindern. Dass in der Sintflut alle anderen Tiere und Menschen untergehen und sterben, erzählen die meisten Kinderbücher und auch Eltern ihren Kindern nur implizit, wenn überhaupt.
Nicht selten werden auch bekannte Märchen um ihre Abgründe gebracht. Kastrierte Geschichten können nicht fruchtbar sein für die Weltdeutung von Kindern und Erwachsenen. Vielleicht braucht es hierfür einfach Mut, sich selbst diesen schwierigen Fragen zu stellen. Niemand verlangt eine bündige, abschließende Antwort.
Statt komplexer Entwicklungsmodelle könnten wir auch eine einzige Schwelle zum Maßstab der elterlichen Rede von Tod und Sterben wählen: Wenn das Kind den ersten Band der Harry-Potter-Bücher zur Hand nimmt oder das Hörbuch gespannt verfolgt, dann wird es wohl Zeit, damit zu beginnen, es mit den Geheimnissen von Leben und Tod vertraut zu machen.
Schließlich geht es im ganzen Buch um nichts anderes als um Verlust und Weiterleben, um Liebe und Freundschaft und was das Leben sonst noch lebenswert macht. Vom „Stein der Weisen“ lernen wir, dass es nicht entscheidend wichtig ist, wie lange man lebt, sondern wie man lebt, und dass der Tod für den gut vorbereiteten Geist nur das nächste große Abenteuer ist.