„Ein bleibender Stachel im christlichen Fleisch“
Dieses Jahr wird der Gründung des sog. „Entjudungsinstituts“ in Eisenach vor 80 Jahren erinnert. Zugleich ist der Antisemitismus in Europa auf dem Vormarsch. Wir haben den Jenaer Kirchengeschichtler Christopher Spehr zur Wirkungsgeschichte des Instituts befragt.
Eule: In diesem Jahr gedenken wir der Gründung des Eisenacher sog. Entjudungsinstituts vor 80 Jahren. Susannah Heschel schreibt von Nachwirkungen der Arbeit des Instituts bis in unsere Tage. Was ist damit gemeint?
Spehr: Die US-amerikanische Historikerin Susannah Heschel gehört zu den ersten, die in den 1990er-Jahren auf das Entjudungsinstitut aufmerksam gemacht haben. Sie sieht die Nachwirkungen in verschiedener Hinsicht. Zum einen begünstigte das Institut eine antijüdische Propaganda über Deutschland hinaus, außerdem manifestierte es im theologischen Denken der Nachkriegszeit den Gegensatz zwischen Judentum und Christentum, wodurch der jüdisch-christliche Dialog lange Zeit im Hintergrund blieb. Übrigens gibt es Gelegenheit, Frau Heschel während unserer Wissenschaftlichen Tagung „Das Eisenacher ‚Entjudungsinstitut’. Kirche und Antisemitismus in der NS-Zeit“ vom 18. bis 20. September 2019 auf der Wartburg in Eisenach selbst zu fragen.
Eule: Was sind Ihrer Meinung nach die Nachwirkungen des sog. Entjudungsinstituts?
Spehr: Das „Institut zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ wurde in einem Festakt am 6. Mai 1939 im Hotel auf der Wartburg gegründet. Bei diesem Akt waren neben einer ganzen Reihe von Kirchenleitern und Vertretern des Reichskirchenministeriums und der Reichskirchenregierung auch Abgesandte der Universitäten Jena, Berlin, Kiel und Wien vertreten. Elf Landeskirchen beteiligten sich an der Ausstattung des Eisenacher Instituts, das sich der antisemitischen und völkischen Ideologie verpflichtet fühlte.
Erstmals wurden mit dieser Einrichtung die Ideen ähnlich ausgerichteter (pseudo-)wissenschaftlicher Institute im Bereich der Kirche umgesetzt. Inhaltlich steht das „Entjudungsinstitut“ in besonders exponierter Weise für einen deutschchristlich verantworteten wissenschaftlichen Antisemitismus in der NS-Zeit. Ziel war es, jüdische Elemente aus Kirche und Theologie in Deutschland zu entfernen. Durch den Jenaer Neutestamentler und Professor für „Völkische Theologie“ Walter Grundmann wurden ca. 180 Mitglieder für die Arbeit im Institut gewonnen. Mitarbeiter in der Geschäftsstelle, d.h. in der Bornstraße 11 in Eisenach, waren lediglich drei bis fünf Personen.
Nach Oliver Arnhold, der 2010 die bisher umfangreichste Monografie über das Institut vorlegte, sollte die Tätigkeit in 46 Forschungsaufträgen und Arbeitskreisen stattfinden. Tagungen, eine Schriftenreihe und Publikationen wie die Evangelienzusammenstellung „Die Botschaft Gottes“, das Gesangbuch „Großer Gott, wir loben dich“ oder das „Glaubensbuch Deutsche mit Gott“ dienten der Verbreitung der Arbeit. Außenstellen des Instituts wurden in Schweden und Rumänien gegründet. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges kam die Arbeit weitestgehend zum Erliegen. 1945 wurde die Einrichtung durch die Thüringer evangelischen Kirche geschlossen.
Eule: Damit ist die Geschichte des Instituts aber noch nicht zu Ende?
Spehr: Nein, die Hauptakteure wie Walter Grundmann (Jena), Georg Bertram (Gießen) oder Siegfried Leffler (Weimar) fanden, nachdem sie aus ihren Ämtern entlassen worden waren, in der evangelischen Kirche in West- wie Ostdeutschland Aufnahme. Andere Mitarbeiter des Instituts wie Gustav Enz (Wien), Martin Redeker (Kiel) oder Wilhelm Koepp (Greifswald) behielten ihre universitären Lehrstühle oder wurden auf solche nach 1945 berufen. Hier sind z.B. Johannes Leipoldt (Leipzig), Gerhard Delling (Halle/Saale) oder Rudi Paret (Tübingen) zu nennen.
Durch diese vielfältigen personellen Kontinuitäten blieb eine wissenschaftlich-kritische Auseinandersetzung mit den Lehren und Lehrern des Instituts lange Zeit tabu. Zudem wurden antijüdische Argumentationsmuster in mündlicher wie schriftlicher Form weiter tradiert, die auch von anderen, nicht am Institut beteiligten Theologen und Kirchenvertretern getragen wurden.
Wie mein Jenaer Kollege Karl-Wilhelm Niebuhr eindrücklich gezeigt hat, blieb Walter Grundmann auch nach 1945 bei seinen negativen Urteilen und Wertungen über das Judentum zur Zeit Jesu. Neben den personellen Identitäten lässt sich vereinzelt auch die Nutzung des Schriftguts des Instituts über 1945 hinaus vermuten. Während einige Kirchengemeinden das Gesangbuch der Deutschen Christen aufbewahrten, aber es nicht mehr verwendeten, konnte die „Die Botschaft Gottes“ als Ersatz für die Bibel bisweilen noch gebraucht werden.
Eule: Gab es an den Theologischen Fakultäten keine gründliche Entnazifizierung?
Spehr: Wie an allen Fakultäten wurden auch die Mitglieder der Theologischen Fakultäten einer Untersuchung unterzogen, die auf der von den Alliierten unterzeichneten Direktive zur Entnazifizierung der Potsdamer Konferenz beruhte. Besonders NS-belastete Personen wurden aus ihren Ämtern entfernt. Dies traf auch die Akteure des Entjudungsinstituts, welche insbesondere durch ihre nationalsozialistische und deutsch-christliche Agitation schon vor 1939 aufgefallen waren. In Jena wurden die DC-Theologieprofessoren Walter Grundmann, Heinz Erich Eisenhuth und Wolf Meyer-Erlach 1945 entlassen.
Allerdings gab es trotz konsequenter Entnazifizierungsverfahren schon bald Stimmen, die für eine Milderung der Verfahren aus unterschiedlichen Gründen plädierten. Es waren nicht selten die Kirchen, die für ein barmherzigeres Vorgehen bei den Alliierten warben. Anders als die staatlichen Universitäten konnten die Kirchen die Entnazifizierung ihrer Amtsträger selbst durchführen.
Hinzu kam, dass nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges der Universitätsbetrieb wieder mühsam aufgebaut werden musste. Dozenten fehlten vielerorts, da sie entweder gestorben oder noch in Kriegsgefangenschaft waren. So konnten zahlreiche deutsch-christliche Universitätslehrer ihren Dienst – in der Regel ohne Eingeständnis der eigenen schuldhaften Verstrickungen im NS-Regime – weiterführen. Folglich erging es den Theologischen Fakultäten nicht anders als den anderen Bereichen des öffentlichen Lebens.
Eule: Hat die Theologie ihre Vergangenheit im Nationalsozialismus nicht spätestens mit der 68er-Generation aufgearbeitet?
Spehr: Mit den 1968er-Jahren begann die intensive, oft nicht sehr populäre kritische Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit in der evangelischen Kirche und der Theologie. Während das Thema „Kirchenkampf“ bereits nach 1933 durch Dokumentationen profiliert und in den Jahren nach 1945 durch die Vertreter der Bekennenden Kirche historiographisch vertieft worden war, weitete sich um 1968 der Fragehorizont. Institutionen-, sozial- und mentalitätsgeschichtliche Fragestellungen bereicherten die Forschungen zur kirchlichen Zeitgeschichtliche, welche die reine „Kirchenkampfforschung“ ablöste.
In der Bundesrepublik Deutschland – und mit Verzögerung und staatlicher Einschränkung auch in der DDR – verstärkten Theologie und Geschichtswissenschaften ihre Forschungen zur NS-Zeit. Während verschiedene Untersuchungen zu den Deutschen Christen mit ihren disparaten Erscheinungs- und Organisationsformen publiziert wurden, blieb das „Entjudungsinstitut“ allerdings gut 50 Jahre unerforscht. Das langanhaltende Schweigen war mehr als nur ein Ausdruck der schwierigen Archivsituation in Thüringen und der DDR.
Nach 1990 gelang es u.a. Susannah Heschel und Leonore Siegele-Wenschkewitz gezielt auf das Eisenacher Institut aufmerksam zu machen und nach dessen schuldhaft-ideologischen Verstrickungen am Völkermord der europäischen Juden zu fragen. In den 1990er Jahren griffen die Vikarinnen und Vikare der Thüringer Landeskirche die Thematik kritisch auf und setzen sich in Studientagen des Predigerseminars intensiv mit der Vergangenheit ihres Hauses auseinander. Schülerinnen und Schüler des Martin-Luther-Gymnasiums Eisenach erarbeiteten 2006 eine Ausstellung zum Thema.
Es verging somit viel Zeit, bis Wissenschaftler und andere sich der Thematik stellten. Die Forschungen über Theologie und Kirche in der NS-Zeit – ich halte das Wort „Aufarbeitung“ für zu eng und abschließend – sind längst noch nicht abgeschlossen.
Eule: Wie bewerten Sie die Bemühungen der Kirchen – es waren ja immerhin elf evangelische Kirchen am Institut beteiligt – um die Aufarbeitung der Geschichte und ein angemessenes Gedenken heute?
Spehr: Es ist erfreulich, dass sich auf Anregung u.a. von Landesbischöfin Ilse Junkermann von der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (EKM) die acht Nachfolgelandeskirchen der Thematik stellen und am 6. Mai 2019 ein Mahnmal in Eisenach errichtet haben. Dieses Mahnmal erinnert an das „Entjudungsinstitut“ und gedenkt der Opfer von Antijudaismus und Antisemitismus.
In dem stählernen Monument, das an der Ecke Bornstraße / Johann-Sebastian-Bach-Straße steht, sind Auslassungen in den Stahl gefräst, die auf die „Entjudung“ der Bibel durch das Institut hinweisen. Eine Information hilft auch Unkundigen, zentrale Informationen über das Entjudungsinstitut zu erhalten. Prominent und in weißen Buchstaben vom Stahluntergrund hebt sich das Bekenntnis der Kirchen aus dem Darmstädter Wort von 1947 ab: „Wir sind in die Irre gegangen“.
Insofern kommt dem Mahnmal mehr als nur eine lokale Bedeutung zu. Während der Veranstaltung am 6. Mai wurde zugleich von den verschiedenen Landeskirchen eindrucksvoll bezeugt, welch großes Interesse und Energie sie der Erforschung der NS-Zeit in ihren Kirchen beimessen. Ich kann nur hoffen, dass die kritischen Auseinandersetzungen mit der eigenen Geschichte – auch und gerade in Bezug auf den Umgang mit dem Judentum und den christlichen Wurzeln in ihm – weiter gehen und vertieft werden.
Eule: Warum wird gerade jetzt die NS-Zeit in der Kirche diskutiert? Nazi-Glocken oder die Wittenberger Judensau sind ja andere strittige Themen.
Spehr: Dass die Thematik jetzt in den Mittelpunkt tritt, hat mindestens drei Gründe: Die Zeitzeugen, die noch lebendige Erinnerungen an die NS-Zeit haben, werden weniger. Damit stirbt einerseits das Wissen um diese Zeit, andererseits aber auch etwaige Rücksichtnahmen auf damals Beteiligte. Zugleich tritt eine neue Generation von Wissenschaftlern unvoreingenommener und kritischer an die Quellen heran.
Die Reformationsdekade mit dem Höhepunkt 2017 hat neue Impulse und Fragen hervorgerufen. Zum einen wurde wie nie zuvor in der Kirchengeschichte die Thematik „Luther und die Juden“ diskutiert, zum anderen Gemeinden und Laien für die Problematik sensibilisiert. Hierdurch geriet das Verhältnis der eigenen Kirche zu ihrer Vergangenheit – sei es in der Reformation oder in der Wirkungsgeschichte – in den Blick.
Im christlich-jüdischen Dialog wurden in den vergangenen Jahren Fortschritte erreicht, die das Thema in den Landeskirchen durch Verlautbarungen und Gestaltungshilfen, für den Israelsonntag zum Beispiel, vertieft haben. Dieser erfreulichen Entwicklung stehen in der letzten Zeit erschreckende antisemitischen Äußerungen in der Gesellschaft gegenüber, denen mit aller Kraft zu wehren ist.
Insofern sind es kirchenhistorische und theologische, aber auch kirchenpolitische und gesellschaftliche Herausforderungen, welche die Aufmerksamkeit auf die Thematik lenken.
Eule: Was denken Sie selbst über das Thema Nazi-Glocken oder die Wittenberger Judensau?
Spehr: Hier muss zwischen den nach 1933 gegossenen und aufgehängten Glocken – in der EKM sind bisher neun Glocken mit Symbolen aus der NS-Zeit bekannt – und der Wittenberger Judensau unterschieden werden. Mich wundert, dass die Glocken nicht viel eher ausgetauscht oder abgehängt wurden. Gleichwohl ist es eine Chance, dass die betroffenen Kirchengemeinden sich mit ihrer Geschichte auseinandersetzen und fragen, durch wen und warum diese Glocken gegossen wurden.
Die Wissenschaft möchte die Kirchengemeinden in der Entscheidungsfindung unterstützen, wie sie mit den Glocken umgehen wollen: Sollen sie als Mahnmal an die dunkelste Zeit der eigenen Geschichte hängen bleiben oder – sinnvoller Weise – entfernt werden? Dass die Glocken weiterhin einfach so zum Gottesdienst und Gebet läuten, will mir nicht einleuchten.
Bei der aus dem Mittelalter stammenden Wittenberger Judensau verhält es sich anders. Diese ist ein bleibender Stachel im christlichen Fleisch. Vor unseren jüdischen Mitbürgern ist mir diese Plastik peinlich. Doch Abhängen oder Musealisieren sorgt nur dafür, dass die kritische Auseinandersetzung mit der antijüdischen und antisemitischen Vergangenheit leiser wird und letztlich ganz verstummen könnte. Jetzt mahnt und erinnert uns die Sau an den menschenverachtenden Umgang, den wir Christen unseren jüdischen Mitmenschen in Wort und Tat angetan haben. Und dieser Vergangenheit müssen wir uns stellen, um die Gegenwart und Zukunft beherzt und in Frieden gemeinsam als Christen und Juden zu gestalten.
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Das Interview führte Philipp Greifenstein.