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Ein neues Schisma in der Orthodoxie?

Das Moskauer Patriarchat protestiert gegen den Plan des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel, eine von Moskau unabhängige ukrainisch-orthodoxe Kirche anzuerkennen. Steht eine Spaltung der Orthodoxen Kirchengemeinschaft bevor?

Eule: Einige Medien sprechen im Blick auf den Streit zwischen den Patriarchaten von Moskau und Konstantinopel von einem „Beben historischen Ausmaßes“ oder gar von einem „Bruderkrieg“. Was hat den russischen Wutausbruch in Richtung des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios in Istanbul ausgelöst?

Thöle: Der Besuch des Moskauer Patriarchen Kyrill in Konstantinopel am 31. August 2018 wurde zunächst als vertraulich und brüderlich dargestellt. Eine Verschärfung trat ein, als der zu Konstantinopel gehörende Metropolit Emmanuel von Frankreich, der auch an den vertrauliche Gesprächen teilgenommen hatte, erklärte, Konstantinopel wolle die Autokephalie [Anm. d. Red.: organisatorische Unabhängigkeit] der ukrainischen Kirche als Ziel ansehen.

Außerdem schickte Konstantinopel ohne Rücksprache mit der Ukrainischen-Orthodoxen Kirche Moskauer Patriarchats (UOK-MP) zwei Metropoliten aus Nordamerika, die dort in ukrainischen Gemeinden tätig sind, als Sondergesandte zur Ukrainisch-Orthodoxen Kirche – Kyiver Patriarchat (UOK-KP) und zur Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche (UAOK), um mit den Vorbereitungen zu beginnen.

Grundsätzlich muss an dieser Stelle aber gesagt werden, dass es bis heute kein von allen 14 kanonischen Orthodoxen Kirchen approbiertes Verfahren gibt, wie eine geregelte Autokephalie-Proklamation aussehen könnte.

Die panorthodoxe Große und Heilige Synode von Kreta 2016 hatte im Vorbereitungsprozess diesen Punkt vertagt. Es gibt zwischen den Kirchen auch unterschiedliche Lesarten zum Begriff „kanonisches Territorium“, das heißt, welches Patriarchat für welches Territorium eine traditionelle Oberhoheit beanspruchen kann.

Eule: Das Moskauer Patriarchat hat die offiziellen Kontakte nach Istanbul eingestellt und schließt den Ökumenischen Patriarchen nicht mehr in die Fürbitte ein. Sollte die von Moskau unabhängige UOK-KP offiziell anerkannt werden, droht Moskau damit, die eucharistische Gemeinschaft aufzukündigen. Wäre dies tatsächlich ein neues Schisma der orthodoxen Kirchen?

Thöle: Eine neue 15. autokephale Kirche in der Ukraine müsste von allen bisherigen 14 Kirchen offiziell anerkannt werden. Würde dieses nicht der Fall sein, würde es zu komplizierten Brüchen zwischen den Kirchen kommen, die in der Aufkündigung von Kirchengemeinschaft gipfeln könnte.

Noch halten alle 14 Kirchen an der gemeinsamen Vision von Kircheneinheit fest.  Im Laufe der Kirchengeschichte hat es aber immer wieder Autokephalie-Prozesse mit Aufkündigungen von Kirchengemeinschaft gegeben, die aber später geheilt werden konnten.

Eule: Seit Anfang der 1990er-Jahre gibt es in der Ukraine zwei Ukrainisch-Orthodoxe Kirchen. Eine ordnet sich dem Moskauer Patriarchat unter, die andere nicht. Letztere wurde nie von anderen orthodoxen Kirchen anerkannt. Das soll sich jetzt nach dem Wunsch der ukrainischen Regierung ändern. Was ist daran so problematisch?

Thöle: Es gibt sogar drei orthodoxe Kirchen, die sich auf die Gründungsnarration der Taufe der Kyiver Rus im Jahre 988 beziehen: die mehr im Osten des Landes beheimatete autonome, dem Patriarchat Moskau zugehörige Kirche (UOK-MP, 13,3 % der Gesamtbevölkerung), die Kirche des Kyiver Patriarchates (UOK-KP, 45,7 % der Gesamtbevölkerung), die von einem ehemaligen, inzwischen aber von Moskau laisierten Metropoliten des Moskauer Patriarchates geleitet wird, und die kleinere Autokephale Kirche (UAOK, 1,4 % der Gesamtbevölkerung), die mit der Kirchenpolitik des UOK-KP nicht einverstanden war.

Und um es nicht zu verschweigen, auf dieselbe Gründungsnarration beruft sich auch die mit Rom unierte Ukrainisch griechisch-katholische Kirche (UGKK), die einen in den Grundzügen identischen Gottesdienst wie die Orthodoxie feiert.

Alle vier Kirchen empfinden sich als genuin ukrainisch, fühlen sich aber verschiedenen kirchlichen Zentren zugehörig (Konstantinopel, Moskau oder Rom). Eine weitere Komplikation ist, dass sich ukrainische orthodoxe Gemeinden im Ausland seit der Zeit des Kommunismus, in der die eigenständige ukrainisch-orthodoxe Kirche aufgelöst war, dem Patriarchat Konstantinopel unterstellt haben.

Eule: Mir scheint es für die Ablehnung der Anerkennung der UOK-KP vor allem politische Gründe zu geben, die aus Moskau vorgebracht werden. Ebenso hat die ukrainische Regierung vor den Wahlen im kommenden Jahr ein Interesse daran, ein deutliches Zeichen im Sinne der Eigenständigkeit der Ukraine zu setzen. Gibt es eigentlich auch theologische Gründe, die Anerkennung zu verweigern?

Thöle: Tatsächlich hat der politische Konflikt in der Ostukraine zwischen Moskau und Kyiv bei der Mehrheit der Bevölkerung eine Stimmung hervorgerufen, die die Idee einer Autokephalie einer ukrainischen Orthodoxie als gut und notwendig ansieht. Bislang wurde jedoch von Konstantinopel die Meinung vertreten, eine Autokephalie dürfe nicht zu neuen Spaltungen führen.

Bartholomaios I., Ökumenischer Patriarch von Konstantinopel, Foto: Massimo Finizioa/a>, CC BY 3.0

Kyrill I., Patriarch von Moskau und der ganzen Rus, Foto: Serge Serebro, CC BY-SA 4.0

Bislang wurde auch gesagt, mit der UOK-MP sei eine kanonische Kirche im Land vertreten, zu der die anderen auch finden könnten. Dogmatisch und kirchenrechtlich gibt es keine Streitpunkte. Den Gottesdienst feiert die UOK-MP weiterhin in Kirchenslawisch, während die anderen  Kirchen in ukrainischer Sprache feiern.

Eule: Die beiden Kirchen sollen wohl zusammengehen. Das stelle ich mir kompliziert vor nach fast 30 Jahren der Trennung. Ist eine Fusion der ukrainischen orthodoxen Kirchen überhaupt ein realistisches Szenario?

Thöle: Würde eine Autokephalie in nächster Zeit ausgerufen und ein ukrainisches Konzil ein neues Oberhaupt wählen, kann ich mir sogar denken, dass zur neuen Kirche auch Gemeinden der UOK-MP und vereinzelt auch der UGKK überlaufen. Man darf aber nicht übersehen, dass es traditionell starke innere Bande besonders im Klerus zwischen ukrainischen Geistlichen und ukrainisch-stämmigen Geistlichen in Russland gibt.

Eule: Kann es nicht einfach auch mehrere orthodoxe Kirchen im Land geben? In Deutschland funktioniert das doch auch.

Thöle: In Deutschland ist die Voraussetzung gegeben, dass die Kirchen der „Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland“ in Kirchengemeinschaft stehen und sich auf einen gemeinsamen Weg der Zusammenarbeit und Verantwortung gemacht haben. Das Idealbild der Orthodoxie ist jedoch das Bild einer einzigen Abendmahlsversammlung, bei der ein Oberhaupt das Bild des Christus als Haupt seiner Kirche repräsentiert.

Eule: Im Hintergrund des Streits steht der Unwille Moskaus, sich dauerhaft dem Primat des Ökumenischen Patriarchen in Istanbul zu unterstellen. Was spricht denn außer einem starken russischen Nationalbewusstsein dagegen?

Thöle: Es gibt in der Orthodoxie kein Primat, dem man sich unterwerfen muss, sondern alle 14 Kirchen stehen gleichberechtigt nebeneinander. In jeder Kirche ist die Fülle der Orthodoxie präsent. Der Erzbischof und Patriarch von Konstantinopel ist in dem Sinne „nur“ repräsentatives Ehrenoberhaupt. Er darf und kann nicht in die Eigenständigkeit der anderen Kirchen eingreifen.

Eule: 2016 weigerte sich die Russisch-Orthodoxe Kirche am Konzil der orthodoxen Kirchen auf Kreta teilzunehmen, trotz intensiver gemeinsamer Vorbereitung. Welche Gefahren gehen vom Streit für die innerorthodoxe Ökumene und die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen aus?

Thöle: Zusammen mit dem Patriarchat Moskau nahmen trotz eines gemeinsamen Vorbereitungsverfahrens auch die Patriarchate Sofia, Antiochien und Tiflis nicht teil. Ich wehre mich ein wenig dagegen, dem Patriarchat Moskau alles Böse zuzuschreiben und den anderen Kirchen alles Gute, wie es in vielen Darstellungen häufig zu finden ist.

Der Moskauer Patriarch stammt aus einer Priesterfamilie, sein Vater und Großvater haben unter dem Kommunismus gelitten. Er selbst vertritt primär pastorale Anliegen. Natürlich ist die Orthodoxie in Russland ein wichtiger Baustein der nationalen Identität, aber mit dem Generalverdacht von der zu großen Staatsnähe der russischen Orthodoxie sollte man vorsichtiger umgehen.

Ich sehe die Zusammenarbeit der betroffenen Patriarchate mit den anderen Kirchen für nicht gefährdet. Die Orthodoxie arbeitet seit Jahrzehnten mit hochrangigen Experten in der Ökumene und wird dieses nicht aufgeben wollen.

Eule: Die Evangelische Kirche hält auf vielen Pfaden Kontakt zu den orthodoxen Geschwistern. Wie positioniert sich die EKD in diesem Streit?

Thöle: Die EKD führt mit den Patriarchaten in Moskau seit 1959, in Konstantinopel seit 1969 und in Bukarest seit 1979 erfolgreiche bilaterale theologische Dialoge und arbeitet mit der Orthodoxen Bischofskonferenz in Deutschland vornehmlich in pastoralen Fragen zusammen. Es entstanden die Handreichungen zur konfessionsverschiedenen Ehe (2003) und zum christlichen Umgang mit Sterben und Tod (2018).

Die starke Anteilnahme der Orthodoxie am Jubiläumsjahr der Reformation 2017 war ein deutliches Zeichen für ein wachsendes gutes Verhältnis. Die EKD hat der Orthodoxie keine Ratschläge von außen her zu erteilen, kann aber das Vertrauen haben, dass ein innerorthodoxer Diskussionsprozess zu Lösungen führen wird.