Antisemitismus in Krisenzeiten: Eine christliche Tradition

In Kriegs- und Krisenzeiten erklären Verschwörungstheorien Jüdinnen*Juden zu Schuldigen. Über die christlichen Ursprünge antisemitischer Verschwörungstheorien.

Die Cui-bono-Frage ist entscheidend, um Argumentationsketten von Verschwörungstheorien offenzulegen. Sie folgt dem einfachen Prinzip, nach dem diejenigen, die einen Vorteil aus einem Ereignis ziehen, die Ursache dessen sind. So würden Verschwörungstheorien beispielsweise danach fragen, wer einen Vorteil aus der Corona-Pandemie gezogen hat, um Verursacher*innen ausmachen zu können.

Verschwörungstheorien dienen nämlich mitunter dazu, komplexe (Welt-)Geschehen zu simplifizieren, indem „wichtige Ereignisse auf nur eine einzige entscheidende Ursache zurück[geführt werden]“ (Karl Hepfer: „Verschwörungstheorien: Eine philosophische Kritik der Unvernunft“). Dabei muss aber immer bedacht werden, dass Verschwörungstheorien bereits vor ihrer vermeintlichen Beweisführung eine Ursache bzw. explizite Verursacher*innen ausgemacht haben. Daran anschließend läuft jegliche Argumentation darauf hinaus, die These bezüglich der vermeintlichen Verursacher*innen zu untermauern.

Nicht selten werden Jüdinnen*Juden innerhalb von Verschwörungstheorien als eben diese angebliche Verursacher*innen historischer Ereignisse identifiziert: Die Pest, die Französische Revolution, die Niederlage im Ersten Weltkrieg, Corona …

Aber auch in nicht explizit antisemitischen Verschwörungstheorien wird Antisemitismus in Form von Codes oder Chiffren tradiert. Es fällt bei diesen Beispielen auf, dass die Verbreitung von Verschwörungstheorien besonders eng mit Krisenzeiten, in denen Krankheit, soziale oder politische Unruhen oder Kriege vorherrschend sind, verknüpft sind. Ungewisse Zeiten sind folglich der Herd, auf dem Verschwörungstheorien kochen. Im Sinne einer Komplexitätsreduktion sicherlich nicht verwunderlich. Die Cui-bono-Frage ist also für diejenigen, die sie stellen, eine Entlastung – ein weiteres Nachdenken oder Hinterfragen ist nicht mehr nötig.

Im Anschluss daran stellt sich mir jedoch die Frage: Wer benötigt eine solche Entlastung und aus welchen Gründen? Wem wird es also zum Vorteil, wenn Jüdinnen*Juden zu angeblichen Verursacher*innen einschneidender Ereignisse imaginiert werden?

Die Frage nach dem „Wer?“ lässt sich relativ leicht beantworten: Wirft man einen Blick auf die vergangenen 2000 Jahre, wird schnell deutlich, dass oftmals Christ*innen an der Ausformung und Verbreitung von Verschwörungstheorien beteiligt, ja oftmals sogar ursächlich waren. Um die Frage nach dem „Warum?“, nach dem Vorteil beantworten zu können, ist es sinnvoll, einen Blick in die Entstehungs- und Verbreitungszeiten einiger dieser Theorien zu werfen.

Christ*innen als Verschwörungstheoretiker*innen

Die großen Verschwörungstheorien der Kirchengeschichte sowie viele antijüdische Stereotype haben ihren Ursprung im Zweiten Testament. Besonders verheerend erscheint der sog. „Gottesmordvorwurf“. Ausgehend davon haben sich zahlreiche weitere Verschwörungstheorien gebildet, wie beispielsweise die sog. Ritualmordlegenden, deren Tradition und Codes heute noch präsent sind.

Hintergrund des sog. „Gottesmordvorwurfs“ ist die Kreuzigung Jesu, die laut den Evangelien von „den Juden“ durchgeführt worden sei. Im Sinne christologischer Theologie entwickelte sich der sog. „Christusmord“ zum allgemeinen sog. „Gottesmord“. Pontius Pilatus, unter dessen Herrschaft Jesus nach der Quellenlage gekreuzt worden sei, wäscht sich seine Hände laut Mt 27,24 in Unschuld. Die Evangelisten bedienen sich der theologischen Tradition des Prophetenmordes, der mit Ablehnung des Volkes einhergeht. „Die Juden“ schreien in Mt 27,25b „Sein Blut über uns und unsere Kinder!“ Es erscheint wie eine Art Schuldeingeständnis, das innerhalb des Verses geschickt platziert wird und jahrtausendelang als Begründung, wenn nicht gar als Beweis für die kollektive Schuld der Jüdinnen*Juden am Tod Jesu dient.

Die Frage nach einem tatsächlich bewussten sog. „Gottesmord“ oder einer Verstocktheit der Jüdinnen*Juden birgt noch bis ins Mittelalter hinein erhebliches Streitpotential. Untermauert wird der Vorwurf durch die geschichtstheologische Deutung der Zerstörung des Jerusalemer Tempels, der mit dem sog. „Gottesmord“ in Verbindung gebracht wird. So deutet beispielsweise Johannes Chrysostomos in seinen Adversus-Judaeos-Schriften/Predigten die Zerstörung des zweiten Jerusalemer Tempels ca. 70 n. Chr. und die darauffolgende jüdische Diaspora als Strafe für den angeblichen „Gottesmord“.

Wird die Geschichte rund um den sog. „Gottesmord“ genauer betrachtet, kann diese als eine antike Verschwörungstheorie wahrgenommen werden. Es stellt sich nunmehr die Frage nach dem Sinn ihrer Verbreitung.

Christliche Polemik gegen das Judentum

Politisch betrachtet befinden sich frühe Christ*innen bzw. Jüdinnen*Juden in einer unruhigen Situation. Judäa stand unter römischer Vorherrschaft, Kriege und Aufstände sind Teil der politischen Umstände. Innerhalb dieser Kriegs- und Krisenzeit entwickelte sich das Christentum sowie die Schriften des Zweiten Testaments und es ist vor dem Hintergrund der antijüdischen Politik der Römer*innen in Jerusalem nicht verwunderlich, dass nicht nur Matthäus, sondern auch die anderen Evangelisten darin bemüht sind, die Römer*innen als Täter*innen zu entlasten, während Jüdinnen*Juden als sog. „Christusmörder*innen“ ausgemacht werden. Denn politisch betrachtet ziehen Christ*innen daraus durchaus einen Vorteil, wie sich in den späteren Jahrhunderten noch zeigen wird. Aber auch theologisch war es unerlässlich, diese angebliche Verschwörung gegen Jesus so zu erzählen, dass Jüdinnen*Juden die Ursache für seine Kreuzigung und Tod seien.

Diese aber zunächst innerjüdische Polemik, denn das Christentum gilt in dieser Zeit noch als eine Untergruppe des Judentums, dieser Antijudaismus innerhalb des Zweiten Testaments muss im Kontext der Entstehung und Abgrenzung des Christentums vom Judentum in Bezug auf beispielsweise die sog. „Enterbungslehre“ oder auch Heidenmission betrachtet werden.

Für das Christentum stand die Zerstörung des Tempels als eine Art Bestätigung für die sog. „Enterbungslehre“ und die Absage Gottes an Israel. Dies zeigt sich, wie oben schon erwähnt, besonders in den Adversus-Judaeos-Schriften. Gespeist werden einige Schriften und Predigten gegen das Judentum von einer Angst vor einem möglichen jüdischen Einfluss im Christentum wie bspw. bei Chrysostomos, zu dessen Amtszeit es in Antiochia nicht unüblich war, dass Christ*innen an synagogalen Gottesdiensten oder jüdischen Feier- und Festtagen teilnahmen.

Der sog. „Gottesmord“ wurde also schon in der Alten Kirche in zahlreichen Schriften und Predigten immer wieder als Legitimationsinstrument verwendet, um sich zum einen vom Judentum abzugrenzen und zum anderen um später gegen Jüdinnen*Juden vorzugehen. Auch in den folgenden Jahrhunderten, als das Christentum bereits Staatsreligion in Europa war, sollte auf dieses Legitimationsinstrument zurückgegriffen werden.

Der Wunsch, das Judentum (religiös) zu verdrängen – die Sorge vor einflussreichen Jüdinnen*Juden und jüdischen Gemeinden – schwingt in Konflikten stetig mit und äußert sich letztlich vor allem in antijüdischen Ressentiments. Es ist an dieser Stelle nicht unerheblich, dass sich das Mittelalter in einer unauflöslichen Spannung zwischen Schutzverhältnissen und Verfolgung von Jüdinnen*Juden bewegt, was sich auch im Kampf zwischen Kirche und Staat niederschlägt. Die Schutzverhältnisse unter verschiedenen Herrscher*innen haben diesen zahlreiche finanzielle und wirtschaftliche Vorteile gebracht, denn Schutzbriefe und vergleichbare Vereinbarungen waren für Jüdinnen*Juden enorm kostspielig. Diese Handhabe von weltlichen Herrscher*innen führte zu Konflikten mit religiösen Oberhäuptern und befeuerte die religiöse Unterdrückung von Jüdinnen*Juden im Mittelalter.

Dies und die aus den Konflikten resultierende Angst vor einem übervorteilenden Judentum speist auch die Kreuzzugpogrome im Zuge des ersten Kreuzzugs 1096, zu dem Papst Urban II. 1095 aufrief. Ursprünglich galt der Aufruf dazu, die sog. „Feinde des Christentums“ in Jerusalem zu bekämpfen. Es verbreitete sich innerhalb der Kreuzfahrerheere aber schnell die Meinung auch im eigenen Land die sog. „Feinde des Christentums“ zu bekämpfen. Auf Grundlage vieler, eben beschriebener Traditionen – besonders die des sog. „Gottesmords“, gerieten Jüdinnen*Juden schnell in den Fokus, was besonders in den sog. SchUM-Städten zu Pogromen durch die dortige Bevölkerung sowie Kreuzfahrer*innen führte.

Neben religiösen Vorteilen, die sowohl die Kreuzfahrer*innen als auch die dortige Bevölkerung daraus zogen – denn der Papst versprach unter anderem Ablassgewährung – sind finanzielle und wirtschaftliche Vorzüge für Christ*innen nicht unerheblich für die Pogromwelle. Im Zuge der Kreuzzüge gelang es beispielsweise zahlreichen christlichen Kaufleuten, ihre jüdische Konkurrent*innen zu verdrängen und internationale Handelsbeziehungen aufzubauen. Auch durch die Kreuzzüge erzwungene Schulderlasse bei jüdischen Geldhändler*innen waren nicht unüblich und begünstigten antijüdische Ressentiments.

Jüdinnen*Juden als „Sündenböcke“

Wie bereits erwähnt findet sich ein Rückgriff auf den sog. „Gottesmordvorwurf“ in zahlreichen Verschwörungstheorien des Mittelalters beispielsweise in Hostienfrevel- und Ritualmordlegenden. Letztere enthält den Vorwurf, Jüdinnen*Juden würden (vornehmlich zu Ostern) christliche Kinder foltern und töten, um ihr Blut für religiöse Zeremonien zu gewinnen. Es wird imaginiert, dass es sich dabei um eine ritualisierte Nachahmung der Tötung Jesu handele, aus dem gewonnenen Blut Mazzen gemacht worden sei oder zu anderen rituellen Zwecken gedient habe.

Es ist auffällig und relevant für die Fragestellung nach dem „Warum?“ und den Vorteilen, die ein Verbreiten solcher Verschwörungstheorien mit sich bringt, dass sie wieder in Krisenzeiten auftreten: Grundlage für diese Erzählungen sind viele (ungeklärte) Mordfälle und Sachbeschädigungen, die die jeweilige Bevölkerung sicherlich in Sorge – in einen Krisenzustand – versetzt haben. Nicht selten galt es, christliche Täter*innen zu schützen und statt ihrer Jüdinnen*Juden zu beschuldigen, was im Zuge der Vollstreckung von Strafe(n) zur Ermordung der angeblichen Täter*innen führte. Nicht selten waren Ritualmordbeschuldigungen auch mit Pogromen an der restlichen jüdischen Bevölkerung verbunden.

Jüdinnen*Juden wurden so oftmals aufgrund von antijüdischen Stereotypen als sog. Sündenböcke ausfindig gemacht und verurteilt. In Hostienfrevel- und Ritualmordlegenden zeigt sich deutlich der angestaute Antisemitismus der christlichen Bevölkerung, begünstigt durch zweittestamentliche Aussagen und Erzählungen sowie ihre Tradierung. Gemeinsam mit der Angst vor angeblichen Angriffen auf das Christentum entlud sich dieser Hass immer wieder in lokalen, aber auch überregionalen Pogromen. Gleiches gilt für die Brunnenvergiftungslegende, die im Zuge der Pestepidemie (1346-1353) in Europa grassierte.

Neben religiösen Begründungen verweisen zeitgenössische Quellen auch auf wirtschaftliche Vorteile, die die Pogrome rund um diese Verschwörungstheorien und Legenden boten: So wurden durch Vertreibungen, Bedrohungen und Tötungen Schulden bei jüdischen Händler*innen getilgt und der Besitz der jüdischen Bevölkerung geraubt und aufgeteilt. Überbleibsel dieser Pogrome zeigen sich noch immer im kulturellen Gedächtnis: Jüdinnen*Juden wurden immer wieder für prekäre gesellschaftliche Situationen verantwortlich gemacht, auf Basis christliche Lehre dämonisiert und die daraus entstehenden antisemitischen Zuschreibungen, Verschwörungstheorien und Vorurteile wurden zahlreich rezipiert und tradiert.

Es ist also nicht verwunderlich, dass sie sich auch in späteren Jahren wiederfinden: Hierzu zählt die Zeit der Reformation, die mit schnellen und starken Veränderungen in Bezug auf Gesellschaft, rechtliche Rahmenbedingungen und Religionsausübung sicherlich als eine Umwälzungssituation, wenn nicht gar als Krisenzeit beschrieben werden kann. Zu Luthers Verhältnis zum Judentum existieren zahlreiche Publikationen und wissenschaftliche Auseinandersetzungen sowie kritische Ausgaben seiner sog. „Judenschriften“. Auf Basis einer Dämonisierung von Jüdinnen*Juden bedient sich Luther aller obengenannten Verschwörungstheorien in seinem Werk „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) als Begründung für (seinen) Hass auf Jüdinnen*Juden.

Sicherlich sollte nicht unerwähnt bleiben, dass Luther hiermit womöglich auch einen Angriff gegen die aufkommende christliche Hebraistik vollzieht. Textverständnis aus dem hebräischen Urtext auf Basis rabbinischer Exegese(-traditionen) zu generieren, lehnte Luther im Sinne seines christologischen Schriftverständnis besonders in späteren Schriften ab. Für Luther ist es also im Sinne dieser Zurückweisung jüdischer Exegese unerlässlich, auf entsprechende Stereotype, die bereits in die Volksfrömmigkeit eingesickert waren, zurückzugreifen, um seine Meinung und Theologie zu untermauern.

In seinem Maßnahmenkatalog empfiehlt Luther zahlreiche Handlungen wie bspw. das Anzünden der Synagogen, die Vertreibung von Jüdinnen*Juden sowie wirtschaftliche Maßnahmen wie bspw. jüdischen Besitz zu konfiszieren oder der Zwang für Jüdinnen*Juden, Christ*innen Schulden zu erlassen. Luther begründet so einen Aspekt protestantischer Theologie, der sich in den Folgejahren durch zahlreiche Vertreibungswellen in protestantischen Gebieten und Hetzpredigten protestantischer Geistlicher äußern und noch weit über die Neuzeit hinaus reichen sollte.

So auch im Zuge der Aufklärung, die eigentlich einen positiven Wendepunkt in der Rechtslage für Jüdinnen*Juden einläutete. Wenngleich sich hier auch teilweise auf Luther bezogen wurde, erhielten antisemitische Vorurteile eine neue Schärfe, die sich im Antisemitismus des 19. Jahrhunderts, dem sog. „Rassenantisemitismus“ niederschlugen.

Auf dem Weg zur „jüdischen Weltverschwörung“

Geprägt durch die Haskala, die jüdische Aufklärung, kam es zu einer Emanzipationsbewegung von Jüdinnen*Juden, die sicherlich durch Gesetzgebungen im Zuge der napoleonischen Kriege begünstigt wurde. Parallel entwickelte sich aber auch ein neues, deutsches Nationalgefühl, in welchem Antisemitismus implementiert wurde: Alte Stereotype, Vorurteile und Verschwörungstheorien wurden neu akzentuiert und Jüdinnen*Juden zu Feinden des (deutschen) Staates – als Gegenstaat im Staat, als eine Art Fremdkörper – imaginiert. Verbunden mit der Vorstellung des sog. „Wucher- oder Geldjuden“ entwickelte sich die Vorstellung der angeblichen sog. ‚jüdischen Weltverschwörung‘, in welcher Jüdinnen*Juden nun normativ als ethnisches Kollektiv zusammengefasst wurden.

Ein Beispiel für das Ausmaß dessen sind die sog. „Hep-Hep-Krawalle“ 1819: Im Zuge der jüdischen Emanzipation und dem Bestreben nach sozialer und rechtlicher Integration erhob sich ausgehend von Würzburg vielerorts ein antijüdischer/-semitischer Protest, der schnell pogromartige Züge annahm. Es handelt sich hierbei um die größte Welle antijüdischer Ausschreitungen seit dem Mittelalter.

Es erscheint im Sinne der Fragestellung nicht verwunderlich, dass es in diesen unsicheren Zeiten, die durch soziale und ökonomische Veränderungen und natürlich auch Probleme gekennzeichnet waren, zu entsprechenden Ausschreitungen kam. Das Integrationsbestreben von Jüdinnen*Juden scheint die uralte und dem Christentum inhärente Angst vor dem jüdischen Einfluss extrem befeuert zu haben. Aber auch wirtschaftliche Aspekte spielten eine Rolle, da sich die christliche Bevölkerung von der möglichen Integration in Bildungs- und Berufszweige bedroht fühlte – Jüdinnen*Juden blieben noch lange Jahre in Teilen Deutschlands aus zahlreichen Berufen ausgeschlossen.

Obwohl solche antisemitischen Ausschreitungen insofern keinen Erfolg hatten, dass Jüdinnen*Juden ab 1871 in allen deutschen Gebieten staatsbürgerliche Rechte erhielten, blieben in den Folgejahren antisemitischen Vorurteile und Verschwörungstheorien hartnäckig bestehen. Auch wenn sich politische Parteien und Gruppen bildeten, die sich ganz klar als Antisemit*innen bezeichneten, und Antisemitismus gemeinhin als salonfähig galt, ist es auffällig, dass in Deutschland antisemitische und vor allem verschwörungstheoretische Pamphlete wie bspw. „Die Protokolle der Weisen von Zion“ (Ende 19. / Anfang 20. Jahrhundert) besonders im Zuge der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg zahlreich verbreitet wurden.

Die Entbehrungen der Kriegsjahre und auch die als Verhöhnung empfundene Niederlage eröffnete erneut einen sich flächendeckend verbreiteten Antisemitismus in Form von Verschwörungstheorien rund um die sog. „Dolchstoßlegende“ und die sog. „jüdische Weltverschwörung“.

Die Niederlage im Krieg ließ sich für viele nur dadurch erklären, dass Jüdinnen*Juden – oftmals auch Linksparteien – die Moral an der Front, aber auch in der Heimat geschwächt hätten. Es handelt sich offensichtlich um eine Entlastung, um das eigene Verschulden in Bezug auf die Kriegsführung zu verschleiern. Der sog. „Dolchstoß in den Rücken der Front“ wurde bereits zu Beginn des Krieges imaginiert, was sich bspw. an Zählungen der jüdischen Soldaten im Heer manifestiert. Ziel war es, Jüdinnen*Juden als Drückeberger zu kennzeichnen, um Verluste und Niederlagen erklären zu können. Es zeigte sich aber eine starke Beteiligung jüdischer Soldaten, sodass diese Zahlen nie offiziell veröffentlicht wurden.

Die sog. „Dolchstoßlegende“ und auch die sog. „jüdische Weltverschwörung“ finden sich später in der Propaganda der Nationalsozialist*innen wieder, mit welcher sie unter anderem die Shoah legitimierten. Komplexe Weltgeschehen wurden so simplifiziert und Erlösungsgedanken in Bezug auf sozialökonomische und gesellschaftliche Probleme dadurch gekennzeichnet, dass das Judentum vernichtet werden müsse. Die Verschärfung der im 19. Jahrhundert aufkeimenden sog. „Judenfrage“ gipfelte zur Zeit des Nationalsozialismus in weiteren Pogromen wie im November 1938 und spätestens seit der Wannseekonferenz 1942 im existenziellen, systematischen Vernichtungswillen gegenüber dem europäischen Judentum.

Aktuelle Rückgriffe auf christliche Traditionslinien

Nach 1945 blieben die im Nationalsozialismus propagierten antisemitischen Stereotype in der deutschen Nachkriegsbevölkerung weiterhin bestehen, wurden oftmals unterschwellig, manchmal sogar direkt weiter tradiert. Antisemitische Verschwörungstheorien und Vorurteile finden sich nach wie vor in zahlreichen Diskursen und wurden durch die Corona-Pandemie und jüngst den Krieg zwischen Israel und der Terrororganisation Hamas nach dem Massaker am 7. Oktober 2023 noch einmal befeuert.

Auch wenn es sich hierbei größtenteils nicht um christlich verbreitete Verschwörungstheorien handelt, darf nicht vernachlässigt werden, dass unter dem Deckmantel angeblich säkularer Aussagen oftmals Verbindungen und Traditionen zu christlichen Verschwörungstheorien des Mittelalters existieren: Aussagen, in denen Jüdinnen*Juden als sog. „Strippenzieher“ des Weltgeschehens imaginieren oder Codes wie „Finanzelite“, „Hochfinanz“ oder „Rothschild“ etc. verarbeitet werden, sowie israelkritische Aussagen rekurrieren auf diese christlichen Traditionslinien.

Besonders in Krisen- und Kriegssituationen erleben antisemitische Verschwörungstheorien einen Aufschwung, weil sie vor allem als Legitimationsinstrument genutzt werden, um gegen Jüdinnen*Juden vorgehen zu können. Diejenigen, die diese bewusst verbreiten und für ihre Zwecke einsetzten, ziehen nicht nur religiöse, sondern auch (sozial-)ökonomische Vorteile daraus. Vor diesem Hintergrund und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich in den meisten Fällen um christlichen Traditionslinien handelt, gilt es antisemitische Verschwörungstheorien neu zu durchdenken, zu reflektieren und zu dekonstruieren.

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