Eine SPD, die nicht regieren will, braucht kein Mensch

In unserer neuen Serie „Coram Mundo“ schreiben Eule-Autor:innen aus unterschiedlichen Perspektiven über die kommende Bundestagswahl. Heute geht es um die zweite governing party des Landes:

Olaf Scholz zieht für die SPD durch den Bundestagswahlkampf. Die Logik dahinter ist klar: Als „Kandidat der Mitte“ soll der Finanzminister und Vizekanzler diejenigen Wähler:innenstimmen einsammeln, die nach dem Rückzug der Kanzlerin auf der Straße liegen. Voraussetzung dafür ist freilich, dass es dem Kanzlerkandidaten der Union weiterhin nicht gelingt, in ähnlicher Weise die Merkel-Wähler:innenschaft anzusprechen.

Armin Laschet ist zwar ein Merkel-Mann, ob er mit seinem Handeln in der Corona-Krise oder zuletzt während der Flutkatastrophe in seinem Bundesland allerdings die Ansprüche der Wähler:innenschaft an Stabilität und Seriosität erfüllt, darf bezweifelt werden. Es fehlt dem Mann an Kanzler-Statur. Kann die Union mit ihm vom politischen Gezeitenwechsel profitieren?

Über ein Jahrzehnt hinweg konnte sich die Union darauf verlassen, dass die Kanzlerin das Schiff schon in den Hafen lotsen würde. Ein spürbarer Wechselwille war bei den Bundestagswahlen der Jahre 2009 und 2013 nicht zu spüren. Vor der vergangenen Wahl waren die starken Umfragewerte der SPD mit Martin Schulz zu Beginn des Wahljahres ein Strohfeuer, das die SPD strategisch verglimmen ließ. Gleichwohl zeigten sie, dass sich viele Menschen eine Alternative zum „Weiter-So“ der Union wünschen.

Ohne die Kanzlerin könnte bei der Bundestagswahl tatsächlich ein Wechsel anstehen. Und zwar nicht, weil sich die Bedürfnisse der deutschen Wähler:innenschaft grundlegend geändert haben, sondern weil die zweite governing party des Landes eine passende Antwort auf jene finden könnte.

Anspruch als Regierungspartei formulieren

Die Rede von der Sozialdemokratie als governing party (Regierungspartei) ergibt sich nicht automatisch aus dem deutschen Kontext. Natürlich regiert die SPD seit 2013 – und zuvor von 2005–2009 – als Juniorpartnerin einer „Großen Koalition“ das Land. Eine Auflistung der von diesen Koalitionen verabschiedeten Gesetze weißt aus: Die Sozialdemokrat:innen haben in jeder Legislatur, unabhängig von ihren stets und ständig sinkenden Stimmanteilen, eine Menge sozialdemokratischer Politik durchgebracht. Tatsächlich ist, was an Merkel gelobt wird, im Wesentlichen das Werk der SPD.

Unter einer governing party versteht man im britischen Kontext, wo der Begriff reichlich genutzt wird, eine treulich und kompetent zur Verfügung stehende Regierungsalternative. Oppositionsarbeit also, wie sie Kurt Schumacher, Herbert Wehner und Hans-Jochen Vogel verstanden. Das britische Mehrheitswahlrecht sorgt, zum Preise einer mangelhaften Repräsentation politischer Vielfalt, dafür, dass sich im Unterhaus zwei große Fraktionen gegenüberstehen, von denen eine Seite regiert und die andere als loyale Opposition Land und Krone dient.

Das ständige Gegenüber von Regierung und Opposition diszipliniert letztere hinein in eine pragmatische Rolle staatstragender Verantwortung – eigentlich. Ausgerechnet in den Brexit-Jahren 2015-2020 verabschiedete sich die Labour-Partei unter Jeremy Corbyn von der Doktrin der „Neuen Mitte“, die die Regierungsjahre der Premiers Tony Blair und Gordon Brown geprägt hatte. Weil David Cameron, der durch seine katastrophale Entscheidung zur Volksabstimmung über den Brexit auf der Verliererseite der Geschichtsbücher steht, das Gleiche, nur in frischem Blau, zu Markte trug, ging Labour zuerst die Mehrheit und wenig später die Selbstsicherheit als Regierungspartei flöten. Mit Corbyn versuchte Labour einen wilden Ritt nach „links“.

Corbyn exhumierte die linke Labour-Politik der 1980er-Jahre, deren Dogmatismus Margaret Thatcher 1983 und 1987 zwei Wiederwahlen sicherte. Typisch für Ideologen aller Couleur sammelten Corbyn und seine Gefolgsleute zudem Skandale über Skandale an. Innerhalb der Labour-Partei durften sich gar Antisemit:innen wieder wohl fühlen. Dass es 2017 überraschend fast zu einem Wahlsieg über die Konservativen von Theresa May gereicht hätte, lag nicht an Labours Stärke, sondern an der Wankelmütigkeit und strategischen Schwäche Mays.

Ausgerechnet während der Brexit-Jahre nahm Labour als governing party eine Auszeit. Zum zweiten Mal in der jüngeren britischen Geschichte fügte sie Land und Menschen damit großen Schaden zu. Sie riss mit dem Hintern ein, was sie während der Regierungsjahre von 1997 bis 2010 erarbeitet hatte. Und die SPD?

Reform oder Revolution?

Auch die deutsche Sozialdemokratie steht seit dem Ende der „Neuen Mitte“ Gerhard Schröders in der steten Versuchung, sich vom Selbstverständnis als natürliche Regierungsalternative zu verabschieden. Recht eigentlich geht es dabei nicht um „rechte“ oder „linke“ Politik, sondern um Pragmatismus oder reine Lehre, Sachpolitik oder Ideologie, Reform oder Revolution.

Die deutsche Mehrheitssozialdemokratie hat sich in der Geschichte immer wieder für Reform und Pragmatismus und gegen Revolution und Ideologie entschieden. Sie hat, wenn man es denn auf der Links-Rechts-Skala verorten will, stets die Mitte gesucht, seitdem sie als parlamentarische Kraft im Kaiserreich das Spielfeld der Geschichte betrat. Ebert, Scheidemann, Schumacher, Wehner sind die Säulenheiligen des sozialdemokratischen Willens zur konstruktiven Staatsverantwortung. Aber auch im Pragmatismus Regine Hildebrandts und im „Opposition ist Mist“-Spruch Franz Münteferings spiegelt sich diese anpackende Seite der Sozialdemokratie.

Mit der Wahl Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskens zu Parteivorsitzenden der SPD im Herbst 2019 verbanden einige, vor allem jüngere Sozialdemokrat:innen, die Hoffnung auf einen „Linksruck“ a’la Corbyn. Den bekommt man allerdings nicht ohne die Form linken Sektierertums, das in Deutschland seit dem 2. Weltkrieg seine Heimstatt stets jenseits der SPD, heute in der Partei DIE LINKE gefunden hat. Mit denen kann (und sollte) man vielleicht koalieren, aber darf sich die SPD nicht verwechseln.

Eine SPD die nicht regieren will, braucht kein Mensch. In seiner vielbeachteten Parteitagsrede von 2009 hatte das der damals frische Parteivorsitzende Sigmar Gabriel richtig erkannt. Allein, es fehlte ihm stets an Statur, sich selbst auch zum Preise einer persönlichen Niederlage dafür zu verwenden. Die SPD muss auch aus zunächst wenig vielversprechender Position um eine Mehrheit für eine pragmatische sozial-demokratische Politik kämpfen.

Die Sozialdemokratie sucht nicht mehr nach „Wegen zum Kommunismus“, sondern kämpft für einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Sie braucht und verträgt das theoretische Schieben der Jusos, aber ihre Pflicht ist es, das Leben der Menschen durch kluge und verantwortliche Politik besser zu machen. Vor dem Abstieg in Corbyn-Jahre hat die SPD nicht allein die Vernunft ihrer Spitzenfunktionäre gerettet, sondern ihre Verwurzelung in der Kommunal- und Landespolitik. Der deutsche Föderalismus fordert jeden Tag konstruktive Arbeit am Gemeinwohl ein.

Dafür braucht es ein verbindliches Personalangebot. Steinmeier und Steinbrück wollten die Deutschen nicht als Kanzler. Bei Martin Schulz sah das schon anders aus, aber die paralysierte SPD des Jahres 2017 war nicht bereit, eine Mitte-Links-Koalition anzuführen. Sie war sich selbst überhaupt nicht einig über die Rolle, die sie in einem solchen Bündnis zu spielen hat. Hat sich das in den Jahren seitdem geändert?

Ein Optionsschein auf die Macht

Denn ohne einen Optionsschein auf die Macht, eine realistische Perspektive auf eine parlamentarische Mehrheit, wählt Deutschland nun einmal nicht Rot. Man wählte Brandt und Schmidt und darum SPD – und 1998 und 2002 – ja, sogar noch 2005 – wegen Schröder. Jeweils standen in der FDP und den Grünen zwei deutlich kleinere Parteien zur Verfügung, die das sozialdemokratische Regierungsmodell jener Jahre arithmetisch ermöglichten.

Im Sechs-Parteien-Land der Gegenwart sind die Grünen und DIE LINKE mögliche Partnerinnen – und nur sie. Für die SPD ist darum nicht ein „Linksruck“ überlebenswichtig, sondern ihre Fähigkeit, ein solches Mitte-Links-Bündnis anzuführen. Und das heißt, ein R2G-Regierungsprojekt zu erden, pragmatisch zu leiten und „in der Mitte“ einer struktur-konservativen Wähler:innenschaft zu verkaufen.

Weil die SPD an Nato und EU-Mitgliedschaft unverbrüchlich festhält, könnte ein:e LINKE-Politiker:in Entwicklungshilfeminister:in werden. Weil die SPD den Strukturwandel moderiert, könnte ein:e grüne:r Superminister:in den ökologischen Umbau des Landes vorantreiben. Weil die SPD Arbeitsplätze erhält, könnten die linken Politiker:innen aller drei Parteien mit viel Geld den gesellschaftlichen Wandel in eine neue Arbeits- und Wohlstandsgesellschaft gestalten. Weil die SPD das Sicherheitsversprechen gegenüber den Alten hält, könnte eine R2G-Regierung viel für die Zukunft des Landes tun.

Dass sich die SPD und ihre dezidiert „linken“ Parteivorsitzenden auf Olaf Scholz als Kanzlerkandidaten haben einigen können, gibt nicht nur Anlass zur Hoffnung, dass die deutsche Sozialdemokratie ihre Corbyn-Jahre auslässt, sondern sie zur Bundestagswahl tatsächlich als wählbare und gerüstete Regierungsalternative zur Verfügung steht. Dann hat sie auch eine Chance den Gezeitenwechsel in der Mitte-Rechts-Hälfte des politischen Spektrums zu nutzen.

Coram Mundo: Serie zur Bundestagswahl 2021

In einer siebenteiligen Serie von Analysen und Kommentaren widmen wir uns in diesem Jahr der nahenden Bundestagswahl am 26. September. Unsere Autor:innen beleuchten unterschiedliche Aspekte der politischen Landschaft vor dem Urnengang. Dabei schreiben sie aus unterschiedlichen politischen und thematischen Perspektiven. Diskutiert gerne mit, hier in den Kommentaren und auf unseren Social-Media-Kanälen!