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Familien und Corona: Droht der Backlash?

Die Corona-Krise hat die Probleme der Kleinfamilie mit Kind(ern) schonungslos aufgedeckt. Werden als Reaktion auf die Krisenerfahrung alte Familienmodelle restauriert oder Reformen in Angriff genommen?

Eine neue Studie der Uni Bielefeld und des Evangelischen Klinikums Bethel bestätigt eine massive familiäre Belastung durch Homeschooling während der Corona-Pandemie. Über 500 Eltern haben im Herbst/Winter 2020/2021 an der Studie teilgenommen. Und ich höre es seufzen: Ja, das wissen wir doch auch ohne Studien! Erst recht die Eltern, die sich im vergangenen Jahr so müde und erschöpft gerackert haben, dass sie für die Teilnahme an wissenschaftlichen Studien wohl kaum Kapazitäten freimachen konnten.

Besonders Eltern von Grundschulkindern sind, so die Studie, während der Corona-Pandemie dadurch herausgefordert, neben der Erwerbstätigkeit auch noch die Beschulung der Kinder sicherzustellen. Dem WDR sagte Michael Siniatchkin vom Klinikum Bethel: „Erwerbstätigkeit und Homeschooling sind für viele Eltern kaum miteinander zu vereinbaren und damit nehmen ihre Zufriedenheit und das allgemeine Wohlbefinden ab“.

Auch ohne die Notwendigkeit zuhause mit Kindern für die Schule lernen zu müssen, sind die vergangenen 14 Monate für Familien mit kleinen Kindern belastend gewesen. Da wäre zunächst die Sorge um die Gesundheit der Kinder, Eltern und Großeltern. Dann die permanente und schier nie endenwollende dem Nachwuchs gewidmete „Betreuungszeit“. Die eigene Erwerbstätigkeit wird in die Randzonen des gemeinsames Familienalltags geschoben, eine um die andere nächtliche Arbeitssession eingeschoben. Hinzu kommt der Ärger über sich ständig ändernde und wenig sinnig formulierte Regelungen in Kindergarten, Schule, Vereinswesen. Und damit ist nur ungefähr umrissen, welchen Sorgen und Nöten sich Familien mit Kindern stellen mussten / müssen.

Dass sich diese noch vergrößern, wenn man die gut-bürgerliche Blase verlässt, ist ebenso klar. Gehaltseinbußen wegen Kurzarbeit oder aufgrund anderweitiger Arbeitszeitreduzierungen (auch für Selbstständige) treffen auch Familien mit zwei Einkommen, für Alleinerziehende steht jedoch durch die Unvereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit die Existenz in Frage.

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“

„Um ein Kind zu erziehen, braucht es ein ganzes Dorf“ – das beliebte Sprichwort hat sich für viele Familien in der Corona-Krise bewahrheitet. Ohne Schule, Kindergarten, die Unterstützung von Freunden und Großeltern, Nachbar:innen und die Rücksichtnahme von Kolleg:innen geht es sehr viel schwerer. Dass so viele Menschen in der Krise auf sonst gut eingespielte Sicherheitsnetze und Kooperationen verzichten mussten, hat das Kernproblem der bürgerlichen Kleinfamilie auf drastische Weise auch jenen vor Augen geführt, die sich sonst aufgrund hohen Einkommens und Privilegienreichtums drumherum wurschteln konnten.

Die erzwungene Isolation der Halb- und Dreiviertel-Lockdowns hat noch ein anderes Problem der Kernfamilie deutlich gemacht: Sie baut auf die starken emotionalen Bindungen von Müttern und Vätern gegenüber ihren Kindern und umgekehrt. Die können toxisch werden, wenn man sich so gar nicht aus dem Weg gehen kann. Bei aller Liebe ist deutlich geworden – vielleicht in einem Ausmaß, das sich viele emanzipierte und jüngere Menschen im reichen Westen nicht vorstellen konnten -, dass das Leben in der Kernfamilie krank machen kann, zuvorderst die Mütter.

Die australische Feministin Germaine Greer hat bereits in den 1980er-Jahren festgehalten, dass die wichtigste Beziehung in der Kernfamilie nicht die zwischen Ehemann und Ehefrau ist (heute wohl zutreffender die zwischen den beiden erwachsenen Partner:innen), sondern die zwischen dem Mann und seinem Arbeitgeber. Um die Erwerbsarbeit kreisen seine Gedanken und Sorgen, nicht um das Wohlbefinden der Kinder, dessen Erhalt in die Verantwortung der Frau gelegt wird, noch um das Wohlergehen der Frau, die zwischen den unterschiedlichen an sie gerichteten Ansprüchen zerrieben wird. Die Problematik hat sich durch die Ausdehnung der Erwerbstätigkeit auf beide erwachsenen Partner* keineswegs verbessert.

Zukünftige Studien zum Wohlbefinden von Familien während der Corona-Pandemie werden zeigen, dass Familien mit Kindern, in denen eine feste Rollenverteilung gelebt wird, „besser“ durch die Krise gekommen sind. Der permanente (Teil-)Entzug von festen Bezugspersonen für die Kinder und die ständigen Aushandlungskonflikte zwischen den Eltern dort, wo dem nicht der Fall ist, sorgen für anhaltenden Stress und größere Unzufriedenheit. Doch was leiten wir daraus ab?

Begnügen wir uns damit, das alte patriarchale Modell der alleinigen Erwerbstätigkeit des Mannes mit einer Prise Wokeness zu würzen, so dass vielleicht einige Väter in Zukunft zugunsten der Mütter auf Erwerbstätigkeit verzichten? Wie organisieren wir Familienleben in einer Gesellschaft, in der Berufstätigkeit für beide erwachsenen Partner* ebenso identitätsstiftend ist wie die Elternschaft?

(Familien-)Leben ohne Kinder

Ein Leben ohne die Sorgen der Familiengründung und Kindererziehung ist vorstellbar. Niemand muss sich mit Eltern-WhatsApp-Gruppen herumschlagen, digitale Lernplattformen bekämpfen lernen, sich den Sorgen um die Gesundheit und Zukunft der eigenen Nachkommenschaft aussetzen. Ohne Kinder lebt es sich in unserer Gesellschaft durchaus einfacher – und kostengünstiger.

Der Anteil der Singlehaushalte beträgt in Deutschland im bundesweiten Schnitt 42 Prozent. Die Mehrpersonenhaushalte ohne Kinder erreichen inzwischen einen Anteil von knapp 30 Prozent. Auch unter Einbeziehung aller notwendigen Einschränkungen und Differenzierungen zeichnet sich doch ein eindeutiges Bild ab: Die Familie mit Kind(ern) als gesellschaftliche Realität ist längst nicht mehr mehrheitsfähig. Der vergleichsweise geringe Fokus der Corona-Politik auf familienunterstützende Maßnahmen ist dafür beredtes Zeugnis.

Ein Leben als Single oder alleinstehende Person ist nicht gleichbedeutend mit einem Leben in Einsamkeit oder Isolation. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich im Westen der Freundeskreis zu einem adäquaten Familienersatz entwickelt, wenngleich die Gesetzgebung damit bis heute nicht Schritt gehalten hat. Intergenerationale Verantwortung wird vom Gesetzgeber nach wie vor im Modus der Verwandschaft organisiert. „Eltern haften für ihre Kinder“ und – wie der neueste Vorschlag zur Stützung des Pflegesystems aus der CDU voraussetzt – Kinder sorgen für ihre altgewordenen Eltern.

Comeback der Großfamilie?

Lösen wir die Konflikte in der Kernfamilie mit zwei erwerbstätigen Eltern durch eine Rückkehr zur vorindustriellen Großfamilie? Welche Rolle spielen altgewordene, nicht mehr berufstätige Menschen, insbesondere Frauen, in unserer Gesellschaft? Können wir es uns überhaupt leisten, auf ihre Tatkraft und Expertise zu verzichten? Wie werden alleinstehende Familienmitglieder in die Familienarbeit eingebunden?

Gleichwohl haben sich die starken Familienbande jenseits der Eltern-Kind-Beziehung in den vergangenen beiden Jahrhunderten ja nicht umsonst gelöst. Vor allem spielt hier die enorme Mobilität aufgrund der Erwerbstätigkeit eine Rolle. Eltern-Kind-Familien leben heute häufig weit weg von den Großeltern. Doch auch dort, wo große physische Nähe herrscht, gibt es Konflikte: Heutige Großeltern gehen keineswegs in einer dienenden Rolle auf, sondern haben eigene, von den Kindern und Enkeln unabhängige Vorstellungen von ihrer Lebensgestaltung.

Von Konflikten, die sich gerade aus der größeren Nähe ergeben, noch gar nicht zu sprechen: Hilfestellungen zu leisten, am Betrieb teilzunehmen ohne Gleichberechtigung, ist wenig attraktiv. Germaine Greer entwirft daher das Bild einer matriarchalen Gesellschaft, in der insbesondere gealterten Frauen wirkliche Verantwortungspositionen zukommen. Sie verweist dazu auf andere Kulturen, zum Beispiel in mehrheitlich muslimischen Ländern, auf die beim Thema Familie im Westen jedoch gewohnheitsmäßig herabgeschaut wird.

Eine Rückkehr zur Großfamilie erscheint mit Blick auf den hohen Wert, den wir der individuellen Lebensgestaltung von Menschen jedes Geschlechts und Alters zugestehen, ausgeschlossen: Mit jeder festen Bindung wächst auch die Heteronomie.

Arbeit aufwerten

Ein möglicher Weg, die Selbstbestimmung von Mitgliedern der Kernfamilie zu erhalten und auszubauen, besteht in der – zugegebenermaßen kontraintuitiven – Aufwertung der (Erwerbs-)Arbeit. Wenn wir Erwerbsarbeit drastisch besser entlohnen, müssten wir zum Erhalt des Lebensstandards weniger Zeit in sie investieren. Eine mögliche, im Blick auf die fortschreitende Automatisierung von Arbeit notwendige Reform.

So bliebe im Übrigen auch Alleinerziehenden mehr Zeit und vermutlich auch Kraft für die Gestaltung des Familienlebens. Die umgekehrte Richtung, nämlich schon jetzt auf Arbeitszeit und damit -Lohn zu verzichten, ist nur für diejenigen gangbar, die nicht schon jetzt mit ihrem Arbeitslohn gerade so ihr Auskommen bestreiten können.

Eine Gesellschaft, die sich Kernfamilien mit zwei vermindert erwerbstätigen, aber gesunden Eltern leisten will, wird sich das einiges kosten lassen müssen. Heute werden die Kosten für Erziehung und Betreuung von Kindern in großem Ausmaß auf die Eltern abgewälzt, die auch deshalb beide erwerbstätig sind, um sich Kinder überhaupt „leisten zu können“. Eltern, die weniger erwerbstätig sind, bedeuten nicht, dass man an Kindergärten, Schulen und Unterstützungssystemen, Freizeit- und Bildungsangeboten für Kinder und Familien sparen könnte.

Wenn die Kleinfamilie mit Kind(ern) als die Familienform mit der geringsten Heteronomie eine Zukunft haben soll, dann muss gleichsam die gesamte Gesellschaft zur Großfamilie werden, in der die Rechte und Bedürfnisse von Kindern und Familien eben nicht mehr an den Rand gedrängt werden. Haben wir das in der Krise gelernt?